Alles besser mit Tusk?
Was für Deutschland von Polen abhängt
Im Wahlkampf versprach Tusk nicht weniger als ein polnisches Wirtschaftswunder nach irischem Vorbild. „Damit es Polen besser geht“, lautete sein ambitionierter Slogan. Jetzt sind die Erwartungen der Polen an die PO hoch gesteckt. Und auch in Europa verbinden sich große Hoffnungen mit dem neuen Regierungschef. Deutschland und die EU erwarten, dass sich nach dem Abgang des konfrontativen Premiers Jaroslaw Kaczynski die Außenbeziehungen zu Polen verbessern. Das zusammenwachsende Europa hat an der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des größten neuen EU-Mitgliedslandes ein elementares Interesse. Polen ist zusammen mit Tschechien der wichtigste Handelspartner Deutschlands in Mittel- und Osteuropa. Umgekehrt wickelt Polen rund ein Drittel seines Außenhandels mit Deutschland ab. Von Tusks Wirtschafts- und Sozialpolitik hängt also nicht wenig ab – auch für Deutschland.
Erste Anzeichen für eine positive Entwicklung der europäisch-polnischen Beziehungen gibt es bereits. Doch ob die Regierung Tusk der EU langfristig ein verlässlicher und kooperativer Partner sein wird, hängt maßgeblich von ihren innenpolitischen Erfolgen ab: Nur wenn Tusk seine Wahlversprechen weitgehend einlöst, wird er seine Position dauerhaft festigen können. Anderenfalls wäre die Versuchung groß, innenpolitische Schwäche mit populistischer Außenpolitik wettzumachen. Allerdings existieren für Tusks angekündigte Modernisierungsstrategie einige gute Voraussetzungen: In Umfragen sprechen die Polen der neuen Regierung großes Vertrauen aus; in der Koalition mit der gemäßigten Bauernpartei PSL verfügt Donald Tusk über eine voraussichtlich stabile Mehrheit im Parlament; das Wirtschaftswachstum ist nach wie vor hoch; und in den kommenden Jahren werden EU-Fördergelder in Milliardenhöhe fließen.
Im Agenda-Setting waren die Kaczynskis gut
Zudem hat Tusks Vorgänger Kaczynski in den vergangenen zwei Jahren einige Steine aus dem Weg geräumt, die der Modernisierung des Landes im Wege standen. Was auch immer man der Kaczynski-Partei – zu recht – kritisch vorhalten mag: Sie hat die überfällige kritische Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Erbe des Landes auf die politische Tagesordnung gesetzt und obendrein mit Vehemenz den Kampf gegen die osteuropäische Krankheit der Korruption aufgenommen. Übrigens teilen PO und PiS die Analyse, dass die fehlende Vergangenheitsbewältigung im Übergang vom Kommunismus zur Demokratie den polnischen Staat bis heute lähmt. Maßnahmen wie die Einrichtung der Korruptionsbehörde CBA wird Tusk daher nicht rückgängig machen. Jedoch verschiebt er den Fokus in Richtung der bislang vernachlässigten Ebene der zukunftsrelevanten policies, auf die Gebiete Wirtschaft und Soziales.
Sein zu erwartender Regierungsstil könnte Tusk dabei helfen. Der 50-Jährige setzt auf Dialog: Er möchte das Vertrauen der Menschen in den Staat wiedergewinnen und die tiefe gesellschaftliche Spaltung zwischen den Verlierern und Gewinnern der Transformation lindern. Dass er sich mit seinem kleinen Koalitionspartner PSL schnell geeinigt hat, kann als Indiz für Tusks Kompromissfähigkeit und Willen zur Moderation gelten.
Darüber hinaus könnte für Tusk von Vorteil sein, dass sich das polnische Parteiensystem merklich stabilisiert hat. Die ideologisch aufgeladene Konfliktlinie zwischen Postkommunisten einerseits und Anhängern der Solidarnosc andererseits löst sich immer weiter auf. Aus dem unruhigen Mehrparteiensystem mit seinen ständigen Parteineugründungen entsteht ein System mit zwei Großparteien, das sich entlang der Konfliktlinie bürgerlich-liberal versus kleinbürgerlich-sozialkonservativ formiert. Fast drei Viertel aller Polen wählten im Oktober eine Partei, die bürgerliche Werte vertritt. Die postkommunistisch-sozialdemokratische Linke sowie populistische Parteien am rechten Rand spielen nur noch marginale Rollen.
„Geschlagen“ ist die PiS noch lange nicht
Diese günstigen Vorzeichen sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Regierung Tusk vor einer Reihe von Hindernissen steht. Nach wie vor ist Präsident Lech Kaczynski von der PiS im Amt. In Polens semi-präsidentiellem Regierungssystem verfügt er über wichtige, vor allem außenpolitische Kompetenzen und kann Gesetzesvorhaben blockieren. Kaczynski hat bereits angekündigt, von diesem Recht ausgiebig Gebrauch zu machen. Unterstützung erhält er von seiner mitnichten „geschlagenen“ Partei: Die PiS hat im Vergleich zu der Wahl im Jahr 2005 fast zwei Millionen Wähler hinzugewonnen. Sie wird eine aggressive Oppositionspolitik gegenüber der Regierung betreiben und konsequent daran arbeiten, ihr sozialkonservatives Profil zu schärfen. Der PiS kommt zugute, dass ihre Wählerschaft relativ homogen ist: Es handelt sich vor allem um die Modernisierungsverlierer, die „einfachen Polen“, die Landbevölkerung, die konservativen Katholiken und Hörer des erzkonservativen Radio Maria. „Wir sprechen 50 Prozent der Polen an“, hatte Jaroslaw Kaczynski im Wahlkampf erklärt, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die PiS die vielfältigen Wünsche der anderen Hälfte der Polen kaum berücksichtigen muss. Diese Konstellation verspricht einige Polarisierung im politischen Prozess.
Im Gegensatz zu den Anhängern der PiS bilden die Wähler der PO eine äußerst heterogene Gruppe. Die meisten von ihnen stimmten nicht für die PO, sondern vor allem gegen Jaroslaw Kaczynski, der sich in seiner zweijährigen Regierungszeit weit von der gesellschaftlichen Mitte entfernt hatte. Viele Polen waren der Meinung, Kaczynskis radikaler, aggressiver und autoritärer Regierungsstil schade dem Ansehen Polens im Ausland und zahle sich in der Sache nicht aus.
Um eine „IV. Republik“ zu etablieren und mit den alten kommunistischen Seilschaften abzurechnen, hatte die PiS-Regierung mit fragwürdigen Methoden gearbeitet, darunter Abhöraktionen bei politischen Gegnern und vorgetäuschte Bestechungsversuche. Das versprochene Projekt eines „solidarischen Polens“ blieb hingegen aus: Weder baute Jaroslaw Kaczynski die vollmundig angekündigten Sozialwohnungen, noch trieb er den Ausbau von Autobahnen und Straßen voran.
Purer Marktliberalismus war gestern
Nicht zuletzt nahmen viele ehemalige Anhänger der PiS ihrer Partei die Koalition mit der radikalen Bauernpartei „Selbstverteidigung“ und der nationalistischen „Liga polnischer Familien“ (LPR) übel. Die permanenten Skandale um die beiden Koalitionspartner sowie die feindselige Haltung gegenüber den Intellektuellen des Landes schadeten der PiS. Mit dieser Strategie zog sie am Ende zwar viele ehemalige Wähler der beiden populistischen Koalitionspartner zu sich herüber, verlor aber etliche konservative Anhänger aus der Mitte an die PO.
Die Vetomacht des Präsidenten, die Stärke, Homogenität und Radikalität der Opposition, die Heterogenität der PO-Anhängerschaft und das fehlende positive Votum der Wähler für eine Reformpolitik sind beträchtliche Hemmschuhe für einen Kurs der konsequenten Erneuerung des Landes. Donald Tusk versucht dieses Dilemma aufzulösen, indem er – hierin erfolgreichen Vorbildern wie Anders Fogh Rasmussen oder David Cameron nacheifernd – das Image des reinen Marktliberalen ablegt und alle sozialen Gruppen gleichermaßen anspricht.
Strukturreformen ohne Schmerzen?
Dass sich Tusks politische Ziele allerdings kaum miteinander vereinbaren lassen werden, zeigte bereits seine erste Regierungserklärung Ende November, in der er mehr Geld für die Lehrer, Ärzte sowie die übrigen Bediensteten des Öffentlichen Dienstes versprach und gleichzeitig die Senkung der Steuern und Sozialabgaben ankündigte. In seiner dreistündigen und sehr kleinteiligen Rede (die die Opposition an Fidel Castro erinnerte) zählte er Reformprojekte für zahlreiche Politikfelder auf und betonte gleichzeitig immer wieder, den Bürgern keine Zumutungen aufbürden zu wollen.
Trotz seiner zahlreichen Ankündigungen nannte Tusk nur wenige konkrete Maßnahmen und setzte keine klaren Schwerpunkte. Dennoch lässt sich anhand der Rede die künftige Handschrift der neuen Regierung erahnen: Es wird eine Politik der vielen kleinen Schritte sein, die in der Summe etwas Großes ergeben sollen. Tusks Politik ist darauf ausgerichtet, Zuversicht zu wecken und Ergebnisse zu erzielen, die sich kurzfristig für die Menschen auszahlen – was wiederum neue Zuversicht zur Folge haben soll. Das ist schon deshalb wichtig, weil im Jahr 2010 die Präsidentschaftswahlen anstehen, in denen Tusk womöglich als Präsidentschaftskandidat gegen Lech Kaczynski antreten wird.
Um diesen sozialen Kuschelkurs betreiben zu können, muss die polnische Wirtschaft weiter kräftig wachsen. Auch die polnische Regierung kann jeden Zloty nur einmal ausgeben. Um dauerhafte wirtschaftliche Dynamik zu erzielen, muss Polen grundlegende Strukturreformen auf den Gebieten Bildung und Arbeitsmarkt, Gesundheit, Alterssicherung und Innovation vornehmen. Macht Tusk hiermit ernst, wird er nicht umhin kommen, soziale Konflikte auszutragen. Probleme mit dem Koalitionspartner PSL und deren strukturkonservativer Klientel sind somit programmiert; dies umso mehr, als die Bauernpartei die zentralen Ressorts Wirtschaft und Arbeit inne hat.
Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel
Doch gerade auf dem Arbeitsmarkt kulminieren viele Defizite der polnischen Wirtschafts- und Sozialpolitik: Die strukturell und regional verfestigte Arbeitslosigkeit ist nach wie vor hoch, besonders in den gering qualifizierten Gruppen der jüngeren und älteren Bevölkerungsschichten; die Erwerbsquote beträgt gerade einmal 53 Prozent. Dies liegt zum einen am veralteten Bildungssystem, das die berufliche Bildung vollkommen vernachlässigt. Zum anderen schafft ein aus sozialistischer Zeit verbliebenes Frühverrentungssystem vielfältige Anreize, vorzeitig aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden. Hinzu kommt, dass seit dem Beitritt in die Europäische Union ein großer Teil der jungen Menschen nach Großbritannien und Irland abgewandert ist. Das hat dazu beigetragen, dass Polen heute strukturelle Arbeitslosigkeit und einen mittlerweile dramatischen Fachkräftemangel zugleich erlebt.
Ihre bisherigen Erfolge verdankt die polnische Außenwirtschaft weniger hoher Qualität als niedrigen Arbeitskosten. Doch inzwischen steigen die polnischen Löhne, und Unternehmen wandern zu billigeren Standorten ab. Klar ist deshalb, dass sich die polnische Wirtschaft – wie die deutsche – in den kommenden Jahrzehnten zunehmend im globalen Qualitätswettbewerb behaupten muss. Schon lange verweisen Fachleute darauf, dass Polen seine Wirtschaft auf die Produktion hochwertiger Waren und Dienstleistungen umstellen muss. Darauf allerdings ist das Land noch nicht vorbereitet. Will Polen weiter konkurrenzfähig bleiben, muss es massiv in neue Technologien investieren, die wiederum ohne zeitgemäße Bildungs- und Wissenschaftslandschaften nicht zu haben sein werden.
Donald Tusk steht also vor einem „Dilemma der Gleichzeitigkeit“, mit dem es alle Transformationsländer zu tun bekommen. Er muss den wirtschaftlichen Aufschwung verstetigen, den Lebensstandard der Menschen anheben und die verkrusteten sozialen Systeme modernisieren – alles auf einmal und alles zugleich. Eine Politik der kleinen Schritte verspricht hohe Popularitätswerte, reicht aber angesichts der strukturellen Schwierigkeiten nicht aus. Längerfristig erfolgreich wird der neue Premierminister nur sein, wenn er sichtbare Prioritäten setzt – und die strategische Vision eines polnischen Wirtschafts- und Sozialmodells entwickelt, das zu den Bedingungen des 21. Jahrhunderts passt. Hier allerdings würde Tusk Neuland betreten. Denn abgesehen von Interventionen vereinzelter Wissenschaftler und Publizisten wird in der polnischen Öffentlichkeit bislang kaum eine tiefgehende Debatte über die entwicklungspolitische Zukunft des Landes geführt.
Zeit für grundsätzliche Debatten
Dabei kann Donald Tusk durchaus von den Brüdern Kaczynski lernen: Es ist das historische Verdienst der PiS, die wichtigste Debatte über den Zustand und die Ausgestaltung der polnischen Demokratie seit 1989 angezettelt zu haben. Dieses Prinzip des entschlossenen Agenda-Setting sollte Tusk nun für das Politikfeld Wirtschaft und Soziales übernehmen. Als Bedingung für zukunftsgerichtetes Handeln ist eine wirtschafts- und sozialpolitische Grundsatzdebatte nicht nur in der Sache dringend geboten. Sie wäre auch ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Stabilisierung des politischen Systems.