Etwas desorientiert, wie die Partei
Ist die Delegiertenvorbesprechung vorbei, darf man am Sonntag vielleicht auf den Presse- und Europaabend. Hier trifft man sich möglichst sehr gezielt, um zu sondieren und Wahllisten zu besprechen. Anträge werden erwähnt, Einschätzungen gesammelt, Stimmungen verbreitet.
Ohne Verabredung begegnet man sich im Vorbeigehen. Vielleicht an der Schlange zum Büfett: "Wir sprechen uns noch!" ist ein oft gehörter Satz dieses Abends. Ein großer Irrtum - bis zum Ende des Parteitages sieht man den Menschen nicht wieder.
Ausgiebiger kann die Konversation beim Bierholen werden: "Hallo!" - "Grüß′ dich!" - "Und, wie ist die Stimmung?" - Das Bier braucht noch einen Augenblick. So bleibt noch Zeit für das jüngste Gerücht oder die Wiedergabe eines in der Zeitung gelesenen Zitats. Tiefgang eher so mittel. Manchmal fragt man sich, wie dieser oder jener Mensch noch heißt. Aber man kennt sich. Viele wären es wert, länger mit ihnen zu reden. Was macht der da hinten eigentlich jetzt?
Selten sieht man so viele umherirrende Gestalten. Längeren Kontakt kann bekommen, wer sich an einem der Tische niederlässt. Davon gibt es nicht so viele. Die Leute flanieren vorbei. Manche setzen sich und suchen gezielt. Schließlich muss man einige treffen, weil man weiß, was sie machen. Irgendwie braucht jeder ein bisschen Orientierung: Die Journalisten, um Stimmungen und Stories zu hören. Die Kandidaten, um Unterstützung zu organisieren. Die Mitarbeiter, um mitreden zu können. Die Lobbyisten, um Berichte über neue Kontakte schreiben zu können. Die Parteispitze, um Konflikte frühzeitig einzudämmen oder anzuheizen.
Folgen Sie dem Wagen da vorne!
Morgens um halb eins leeren sich die Tische. Fast schlagartig. Jetzt will niemand mehr zu den Letzten gehören. Zumindest nicht mehr hier. "Einen Schnaps!" Das darf denn doch noch sein. Klein-gruppen machen sich auf den Weg. Man ist jetzt lieber in besser bekannten Kreisen.
Um diese Zeit trifft man sich in Bochum im Bermudadreieck. Wo das ist, weiß der Taxifahrer. Leider gibt es zu wenig Großraumtaxis. "Folgen sie dem Wagen da vorne!" Wir landen im Intershop. Etwas desorientiert, aber so geht es ja auch der Partei. Die Kellnerin erwähnt, dass schon andere Menschen vom Parteitag da waren: "Die hat man an den T-Shirts erkannt". Der Laden hat bis fünf oder sechs Uhr geöffnet: "Hier sind unsere Gäste daran gewöhnt, dass sträingsche Leute vorbeikommen".
Von der "langen Nacht der Hotelbars" hört man diesmal wenig. Kein Putsch steht an, es gibt auch wenig inhaltliche Aufregung. Vielleicht sind aber auch nur die Entfernungen zwischen den Hotels zu groß.
Nach dem ersten Tag. Die Wahlen zur SPD- Spitze sind gelaufen. Um halb acht beginnt der Parteiabend. Wo eine der scheinbar hart kontingentierten Eintrittskarten für fünfzehn Euro herbekommen? Zwei Freunde wollen auch noch mit. Am Spätnachmittag bricht die Zelle RuhrCongress des Mobilfunknetzes zusammen. Irgendwann steckt einem ein Insider noch ′ne Karte zu. Nummer 3154 oder so.
Viel Bier, ein bisschen Inzest
In der rund zweihundert Meter langen Jahrhunderthalle sitzen heute fast alle. Es ist etwas zugig: Vogel spricht, Schröder spricht. Beide was für′s Herz der Partei. Applaus. Die Stimmung bessert sich. Musik wird gespielt. Zwischendurch: Sehen und gesehen werden. Die Bierbänke laden zum Verweilen in unterschiedlichen Gruppen. Irgendwann wird die Musik lebendiger und die ersten Tänzerinnen und Tänzer ziehen auf die Fläche vor der Bühne. Hier rockt zwar noch nicht der Parteitag, doch darf man zumindest das ein oder andere Wahlergebnis vergessen.
Zur selben Zeit müssen sich etliche Gäste bereits wieder auf den Heimweg machen. Das Nachtverkehrsnetz tief im Westen ist wenig ausgebaut und zu unübersichtlich. Die potentiellen Taxikosten nach Dortmund motivieren zum rapiden Konsum der letzten Pilsbiere.
Der DJ im Vorraum - bislang sorgte er dort für leichte musikalische Untermalung - braucht noch das go. Endlich findet sich jemand, der das Neonlicht ausknipst, und eine Traube Zappelnder sammelt sich vor der DJ-Bühne. Mit Hilfe von Bier, manchmal auch von Wein, halten noch mehrere hundert Gestalten durch.
Beobachter erblicken Paarungen, die man punktuell von "früher" kennt. Zuletzt sah man sich auf dem Juso-Kongress. Alte Parteiromantik rostet nicht: "Wo bist du untergekommen?" - "Wanne-Eickel." -"Ich in der Nähe vom Hauptbahnhof." - "Dann können wir ja noch einen Augenblick bleiben - und dann gehen wir zu dir".
Persönliche Nähe, ein bisschen Sex in der alten Familie SPD. Keine kalte Partei, dafür ein bisschen Inzest, getrieben von alten Erinnerungen und dem Alkohol. Fernab des Beziehungsgeflechts einer Bezirkskonferenz oder der Familie zu Hause.
Mit dem Chefredakteur landet man wieder im Intershop. Schließlich kennt einen da die Bedienung schon - und man selbst kennt den Schnaps. Auf dem Weg ins Hotel begegnet man noch einem Kollegen. "Noch ein Bier?" Ja, aber die Hotelbar ist natürlich längst zu. Zum Glück gibt es noch die Minibar. Man qualmt das Zimmer zu, hält sich an den teuren Köpiflaschen fest. Er ist gerade frisch verliebt - hier in Bochum. Plötzlich führt man persönliche Gespräche, tauscht auch Einschätzungen aus über Fraktion und Partei. Das kannten wir bisher nicht. Gut tut es schon. Die Nähe wärmt.
So richtig textsicher ist man nicht
Am dritten Abend ist eigentlich alles gelaufen. Einzelne Landesverbände treffen sich mit ihren Delegierten zum Abendessen. Man hört auch vom Falkenstammtisch. Wir begehen den Abend der Berliner Republik. Am Anfang gibt es Freibier und provokante Lieder von Götz Widmann. Er polarisiert; sehr textlastig. Die einen wollen lieber reden, finden das Konzert zu laut, vielleicht auch die Texte nicht passend. Die anderen hören zu, trauen sich manchmal nicht zu lachen, können dann aber nicht mehr an sich halten. Gelöste Stimmung. Später packen ein paar MdBs ihre Klampfen aus. Die Kameras sind weg. Das Lokal ist voll. Arbeiterlieder einigen. Manche ziehen noch mal die Mäntel aus und greifen nach den Liederbüchern. So richtig textsicher ist man nicht. Wie die Gesamtpartei. Im Chor und mit lautem Mikro vorne geht es dann doch irgendwie, und die Wärme der Gemeinsamkeit tut gut.