Europa am Scheideweg
D as Jahr 2014 war turbulent, auch wenn sich die krisenhaften Konflikte eher an der europäischen Peripherie abspielten. Das könnte sich im neuen Jahr drastisch ändern. Die Einschläge kommen näher. Mit der Zuspitzung der Regierungskrise in Griechenland klopft auch die Eurokrise wieder an die Tür. Das Vertrauen in die europäische Währung sinkt, das Gespenst einer europaweiten Deflation geht um, der Zusammenhalt der Eurozone steht zur Disposition. Jetzt zeigt sich, dass die Geldschwemme, mit der die Europäische Zentralbank die Finanzmärkte beruhigte, die Krisenursachen nur verdeckt hat. Die ökonomischen und politischen Diskrepanzen innerhalb der Eurozone sind sogar noch größer als bei Ausbruch der Schuldenkrise.
Jetzt muss sich zeigen, ob die Eurostaaten bereit sind, den nächsten Schritt in Richtung einer Fiskal- und Wirtschaftsunion zu gehen. Dabei fällt Deutschland eine Schlüsselrolle zu. Die Zeit des Zögerns und Lavierens läuft ab. Bisher sind die Kanzlerin und ihr Kabinett davor zurückgeschreckt, der Bevölkerung reinen Wein einzuschenken: Soll der Euro und mit ihm das Projekt der politischen Einigung Europas gerettet werden, wird das einen doppelten Preis kosten. Deutschland muss sich stärker an der Bewältigung der Krisenlasten innerhalb der Eurozone beteiligen, das ohnehin schon vielfach durchlöcherte Tabu einer partiellen Vergemeinschaftung der europäischen Schulden muss fallen. Zugleich wird die Bundesrepublik einen Teil ihrer geheiligten wirtschafts- und finanzpolitischen Souveränität zugunsten einer gemeinsamen europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik aufgeben müssen. Die Große Koalition könnte hier eine historische Legitimation finden. Versagt sie bei dieser Aufgabe, wäre es besser, die Euro-Frage in den Mittelpunkt vorgezogener Wahlen zu stellen. Dann müssen alle Farbe bekennen, Parteien wie Wähler.
Neben der Eurokrise zeichnen sich – mindestens – drei weitere grundlegende Herausforderungen ab, die keinen Aufschub erlauben. Auch sie sind ein Lackmustest für den künftigen Kurs der Bundesrepublik: erstens die Migrationsfrage, zweitens die Russlandpolitik und drittens die ökologische Frage. Der Reihe nach.
Stichwort Migration: Die täglichen Horrormeldungen über die Irrfahrt von Flüchtlingen über das Mittelmeer verlangen ebenso wie das Anschwellen fremdenfeindlicher Bewegungen in der EU eine Neuausrichtung der europäischen Migrationspolitik. Auch wenn es keine Patentlösungen gibt, mit der sich alle Probleme in Wohlgefallen auflösen, muss Klarheit geschaffen werden, welche Zugänge die EU künftig den Menschen bietet, die hier Schutz, Arbeit und eine soziale Perspektive suchen. Das Asylrecht ist überfordert, wenn es zum Nadelöhr für alle wird, die nach Europa drängen. Benötigt wird deshalb eine europäische Migrationspolitik mit klar definierten Zugangskriterien für Arbeitsmigranten. Dazu gehören Ausbildungsprogramme und Stipendien ebenso wie Vereinbarungen mit den Herkunftsländern über Pendelmigration und Starthilfen für Rückkehrer. Gleichzeitig muss mehr in den Spracherwerb sowie die schulische und berufliche Bildung von Migranten investiert werden. Nicht zuletzt braucht es klare Botschaften, welche Erwartungen wir an Zuwanderer richten, die hier heimisch werden wollen – und welche Werte und Normen „Europa“ ausmachen, die einen für alle verbindlichen Orientierungsrahmen bilden.
Stichwort Russland: Der unerklärte Krieg, den die russische Führung gegen die Ukraine führt, ist ein Lackmustest für die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Europas. Stehen wir zu dem Versprechen, dass alle europäischen Nationen Mitglied der EU werden können, die sich auf den Weg von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Marktwirtschaft machen? Und verteidigen wir die Grundlagen der europäischen Friedensordnung: Gewaltverzicht, Unverletzlichkeit der Grenzen, freie Wahl der Bündnisse, Herrschaft des Rechts statt Recht des Stärkeren? Auch hier spielt Deutschland eine Schlüsselrolle. Verstehen wir uns weiterhin als zuverlässiges Mitglied der westlichen Wertegemeinschaft oder kehren die Gespenster eines deutschen Sonderwegs wieder? Die Rufe werden lauter, die eine Abkehr von der transatlantischen Allianz zugunsten einer Achse Berlin-Moskau fordern.
Nota bene: Es geht nicht um die Ausgrenzung Russlands und schon gar nicht um den Rückfall in eine Politik militärischer Konfrontation. Wohl aber geht es um eine klare Haltung gegenüber dem Neo-Autoritarismus nach innen und der Gewaltpolitik nach außen, die Wladimir Putin praktiziert. Die Rückkehr zu einem partnerschaftlichen Verhältnis mit Russland darf nicht mit einer neuerlichen Spaltung Europas in eine westliche und eine russische Hegemonialzone erkauft werden. Vielmehr müssen wir nach Kräften mithelfen, damit die Ukraine zu einem demokratischen und wirtschaftlichen Erfolgsmodell wird, das über seine Grenzen hinaus ausstrahlt.
Stichwort Ökologie: Die bisherige Vorreiterrolle der Bundesrepublik auf dem Weg der ökologischen Modernisierung der Industriegesellschaften steht auf der Kippe. Die Energiewende droht an Rückhalt zu verlieren, Teile der Wirtschaft stellen sie offen infrage. Ambitionierte umweltpolitische Ziele werden als Gefahr für Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze diskutiert, nicht als Innovationsmotor und Chance für zukunftsfähige Technologien, Produkte und Jobs. Dabei ist der Brückenschlag zwischen Ökologie und Ökonomie ein zentraler Faktor für den internationalen Erfolg der deutschen Industrie. Die weltweite Nachfrage nach ressourceneffizienten Technologien, umweltfreundlichen Produkten und erneuerbaren Energien wächst deutlich schneller als die traditionellen Branchen. Unstrittig ist, dass der regulative Rahmen für die Energiewende nachjustiert werden muss. Der Streit geht darum, ob wir in Deutschland auf die Öko-Bremse treten sollen, während China – ebenso wie viele weitere Länder – gerade massiv in ökologische Innovation investiert. Die Frage, wie wir es mit dem Klimaschutz halten, ist nicht nur ökologisch von Belang. Sie ist auch die Gretchenfrage einer zukunftsorientierten Wirtschaftspolitik.
Wer klagt, die Parteien böten keine politischen Alternativen mehr, kann beruhigt sein: Der wachsende Problemdruck, der von diesen Schlüsselfragen deutscher und europäischer Politik ausgeht, erzwingt klare Antworten – und zwar nicht erst 2017. Daran wird sich das Schicksal der Großen Koalition ebenso entscheiden wie die künftige Regierungsbildung.