Europa braucht mehr Europäer
Über einen langen Zeitraum schien die Europäische Union eine Erfolgsgeschichte per se zu sein. Wenn auch die Kritiker und Mäkler nie ganz verstummten, so wurde doch mit der Verwirklichung des Binnenmarktes, der Einführung der gemeinsamen Währung und auch großen Fortschritten bei der politischen Zusammenarbeit, manifestiert durch den Amsterdamer Vertrag, eine Qualität der Kooperation erlangt, die noch Mitte der achtziger Jahre kaum jemand für möglich gehalten hatte. Doch mittlerweile scheint sich die Erfolgsgeschichte von einst ins Gegenteil verkehrt zu haben. Kaum ein Projekt kann mehr in vertretbar erscheinender Zeit zum Erfolg gebracht werden. Kaum eine Tagung des Europäischen Rates oder der Fachministerräte findet ohne erhebliche Dissonanzen im Vorfeld und endlosen Nachtsitzungen während des Treffens statt. Haben sich die Partner mit dem Projekt der Osterweiterung übernommen? Droht die Gemeinschaft an ihren eigenen Erfolgsrezepten zu scheitern? Oder rächen sich nun Versäumnisse der Vergangenheit, zu viele Formelkompromisse und die Strategie der Problemlösung durch Vertagung, wie Kritiker behaupten?
Im Folgenden soll die gegenwärtige Situation der Europäischen Union kritisch beleuchtet werden. Wie steht es um die Problemlösungskompetenz der Fünfzehnergemeinschaft? Muss der bisherige Weg der Integration überdacht werden und ist die EU in ihrer heutigen Form reform- und erweiterungsfähig? Dabei sollen exemplarisch der Europäische Rat von Nizza und seine Ergebnisse untersucht werden. Zum Abschluss wird ein Ausblick auf die weitere Entwicklung gegeben.
Nizza - Erfolg trotz langer Nächte
Der Europäische Rat von Nizza stand in doppelter Hinsicht unter besonderen Belastungen und besonderem Erwartungsdruck. Nicht zuletzt von den um große Gesten und Symbole nicht verlegenen Gastgebern wurde das Treffen als historische Weichenstellung für die EU des neuen Jahrtausends annonciert. Aber auch für andere stand nicht weniger als die Erweiterungsfähigkeit der Union auf dem Spiel. Die Reform der Institutionen sollte abgeschlossen, das Kräfteverhältnis zwischen den Mitgliedern neu austariert und die Entscheidungsprozesse sollten effektiver und zügiger gestaltet werden. Auch wenn diese Ziele nur als left overs, als Reste von Amsterdam, gekennzeichnet wurden, war das Programm doch ehrgeizig genug. Gleichzeitig steckten im Vorfeld vor allem die großen Mitgliedsstaaten teilweise gegensätzliche Positionen ab, von denen sie erklärten, sie in keinem Fall räumen zu wollen. Ein fast unüberwindliches Dilemma.
Das Ergebnis musste den historischen Dimensionen standhalten. Gleichzeitig war ein Kompromiss zu finden, der Deutschlands Wunsch nach mehr Gewicht im Rat bei gleichzeitiger Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen, Großbritanniens, Dänemarks und Spaniens Ablehnung eben dieser, allerdings auf unterschiedliche Felder bezogen, und Frankreichs Streben nach absoluter Gleichbehandlung der Großen unter einen Hut bringen mußte. Trotz dieser kaum zu vereinbarenden Gegensätze wurde ein handhabbarer Kompromiss gefunden. Und es waren die kleinen Mitgliedstaaten, die mit ihrer konsequenten und koordinierten Position den gordischen Knoten durchschlagen haben.
Beides zeigt, dass die EU auch in schwierigen Situationen letztlich handlungsfähig bleibt. Das Ergebnis ist nicht außergewöhnlich, sondern typisch für den europäischen Integrationsprozess. Nicht die großen Würfe, sondern die zu klein erscheinenden Kompromisse, das Fügen von Mosaiksteinchen an Mosaiksteinchen, haben den Einigungsprozess Europas bisher im wesentlichen bestimmt. Darüber ist eine Kooperation entstanden, die weltweit einzigartig ist und die die Alltagswelt der Menschen in allen Mitgliedsstaaten intensiv prägt. Kompromisse, werden sie als noch so klein empfunden, entwickeln Eigendynamik und lassen mit der Zeit viel mehr entstehen. Die Standards und die Qualität europäischer Regelungen und europäischen Rechts werden nicht allein vom Europäischen Rat oder vom Europäischen Parlament entwickelt. Sie werden ausgefüllt in einem differenzierten Verhandlungsnetzwerk von Kommission, Parlament und Rat, aber auch Verbänden und Interessengruppen. Die Ergebnisse sind fast nie spektakulär, eignen sich nicht für den Mantel der Geschichte, sind aber nicht selten hocheffektiv im Hinblick auf Problemlösung und Interessenausgleich. Die These, der europäische Entscheidungsprozess sei angesichts hochkomplexer und tief verflochtener Problemlagen wesentlich moderner und ergebnisorientierter als manche politischen Prozesse in den Mitgliedsstaaten, lässt sich angesichts so manch verkorkster Reform auf nationaler Ebene nicht ganz von der Hand weisen.
Trotzdem reicht der bisherige Reformstand in der Europäischen Union vor dem Hintergrund der anstehenden Osterweiterung nicht aus. Aber warum müssen die Voraussetzungen dieses Herkules-Werkes eigentlich alle auf einem Gipfel erledigt werden? Es besteht weder Grund zur Panik noch zur Euphorie.
Europa braucht nicht mehr Visionen, sondern mehr pragmatische Europäer
An Vorschlägen zu historischen Schritten mangelt es im Vorfeld der Osterweiterung nicht. Vielerorts wird der Ruf nach der Europäischen Verfassung laut. So wichtig und sinnvoll es jedoch war, die unter der Leitung von Roman Herzog entwickelte Grundrechtscharta dem Vertrag beizufügen und damit den gemeinsamen europäischen Wertekanon zu unterstreichen, so wenig zielführend ist die Forderung nach einer europäischen Verfassung zum jetzigen Zeitpunkt. Der Reform- und Integrationsprozess der EU krankt nicht am Fehlen einer Verfassung, sondern an zu vielen nationalen Egoismen. Da fordert zwar der deutsche Außenminister in seiner Humboldt-Rede mehr europäische Visionen ein, gleichzeitig ist es aber die Bundesrepublik, die den Reformprozess mit völlig überzogenen Forderungen nach der absolut größten Stimmenzahl für Deutschland im Rat, um damit eine bessere repräsentative Balance zu erreichen, belastet. Sollten doch gerade die Deutschen mit ihren Föderalismus-Erfahrungen wissen, wie kontraproduktiv eine Überpointierung der Repräsentanz der Bevölkerungszahl im föderalen Prozess ist (im eigenen Bundesrat haben wir das repräsentative Ungleichgewicht ohne Probleme verankert).
Da sind es die Franzosen, die mit dem Anspruch einer Reformratspräsidentschaft antreten und sich dann fast ausnahmslos von den eigenen nationalen Interessen leiten lassen, was in derartiger Massivität bei einer Ratspräsidentschaft seines gleichen sucht. Da sind die Briten und Dänen, die sich nach wie vor einer gemeinsamen Steuergesetzgebung verschließen, was angesichts der hohen ökonomischen Verflechtung zwischen den Mitgliedsstaaten absurd und gefährlich erscheint. Und da sind last, but not least die Spanier, die die hohen Subventionsleistungen aus den Strukturfonds für sich zementieren wollen, obwohl (oder weil) gerade diese Strukturhilfen ihnen bei der Heranführung an das ökonomische Durchschnittsniveau der Gemeinschaft schon erheblich geholfen haben.
Auch strukturell versuchen viele Mitgliedsstaaten diese Interessenpriorisierung durch eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen der Kommission als einzig originär europäischer Institution und Hüterin der Verträge einerseits und ihnen selbst andererseits zu ihren Gunsten zu verschieben. Dies sind die Hauptursachen für die Zähigkeit der gegenwärtigen Verhandlungsprozesse.
Perspektiven der Gemeinschaftsentwicklung
Die Osterweiterung der Gemeinschaft ist nicht nur eine politische Verpflichtung, sondern auch im globalen Spiel eine ökonomische Notwendigkeit. Gerade die Bundesrepublik wird davon erheblich profitieren. Sie zu verwirklichen und eine weitere sinnvolle Integration nationaler Aufgaben auf europäischer Ebene voranzutreiben, kann nur gelingen, wenn die Mitgliedsstaaten kurzfristige Eigeninteressen hintanstellen und das gemeinsame Ziel stärker ins Auge fassen. Die Reform der Institutionen bedarf starker supranationaler Strukturen. Die Kommission darf nicht im wesentlichen unter dem Gesichtspunkt der nationalen Herkunft ihrer Mitglieder betrachtet werden. Und die Gewährung der vollen legislativen Kompetenz für das Europäische Parlament kann nicht danach beurteilt werden, in wie weit deren Anwendung nationale Interessen verletzen würde. Legitimes Instrument zum Ausgleich nationaler Interessen muss der Europäische Rat bleiben, wobei er sich nicht allein als Aggregationsraum für den kleinsten gemeinsamen Nenner verstehen darf.
Eine weitere unselige Neigung der Regierungen der Mitgliedsstaaten muß endlich ein Ende haben: Die Europäische Union ist nicht der Müllabladeplatz für unaufgearbeitete nationale Konflikte. Noch immer wird für alles mögliche Notwendige aber Unangenehme die europäische Ebene verantwortlich gemacht. Ob′s denn wirklich so ist, kann ja niemand so recht nachvollziehen, und es schafft so bequem Entlastung für die eigenen Konflikte. Dieses Vorgehen untergräbt aber die Legitimation des Integrationsprozesses und ist nicht unwesentlich für den Verfall der Unterstützung und Sympathie des Projekts Europa bei der europäischen Bevölkerung verantwortlich.
Wer die Hürden und Gräben des Modernisierungs- und Reformprozesses überwinden will, muss bei Zeiten springen. Diesen Sprung müssen die Regierungen der meisten Mitgliedsstaaten endlich wagen.