Europa, Großbritannien und die Big Friendly Germans
Ich konnte zusehen, wie es Jens Lehmann mulmig wurde. Gerade trug ihm mein Schwager Robin ein weiteres Rilke-Gedicht vor, aus dem Kopf und in perfektem Deutsch. Es war klar, dass der – bekanntlich sowieso meist schlecht gelaunte – deutsche Torhüter das Gedicht nicht kannte. Damit hatte er wohl kaum gerechnet, als er 2003 von Dortmund nach Nord-London umzog, um für den FC Arsenal zu spielen: Briten, die mehr von deutscher Hochkultur verstanden als er! (Dabei ist Jens sogar, nicht einmal untypisch für einen deutschen Fußballspieler, sehr gut gebildet und besitzt inzwischen einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften von der Universität Münster.)
Die Stereotypen stimmen nicht mehr
Mein Schwager Robin, der Jens’ Frau Conny über die örtliche Grundschule kennengelernt hatte, stammt nicht aus dem Fußballmilieu. Tatsächlich ist er ein Dichter. Jens, von Robin an diesem Sonntag mit Conny und den Kindern zum Mittagessen eingeladen, hätte also gar kein ungutes Gefühl haben müssen. Aber ich erinnere mich, wie ich damals dachte: Was für eine wunderbare Verkehrung deutsch-britischer Stereotypen! Diese Stereotypen sind heute viel schwächer als zu der Zeit, als ich in den späten achtziger Jahren als Korrespondent der Financial Times zum ersten Mal nach Bonn kam. Das liegt teilweise daran, dass es heute so viel mehr Austausch zwischen unseren beiden Ländern gibt: auf den Feldern der Kultur und im alltäglichen Leben – wenn auch nicht auf dem Gebiet der Politik.
Für Deutsche ist es ziemlich schwierig geworden, England als „das Land ohne Musik“ zu betrachten, seit Simon Rattle Chefdirigent der Berliner Philharmoniker geworden ist. Und was die britische Germanophobie angeht, so ist deren Ausmaß seit jeher übertrieben worden. Man findet immer Feindseligkeit, wenn man partout nach ihr sucht, aber es ist doch schwieriger geworden, sie ausfindig zu machen. Es sei denn, man wertet schon britische Fußballreporter als feindselig, die deutsche Mannschaften als „effizient“ beschreiben.
Im Herbst vergangenen Jahres fanden in London große Retrospektiven der Werke von Anselm Kiefer und Sigmar Polke statt. Das Britische Museum wiederum startete unter dem Titel „Germany: Memories of a Nation“ eine große Ausstellung über die deutsche Kultur, um den 25. Jahrestag des Mauerfalls und der Geburt der Berliner Republik zu feiern.
Inzwischen springt die deutsche Presse ruppiger mit Großbritannien um als umgekehrt die britische mit Deutschland. Der Spiegel zum Beispiel beschwerte sich im vergangenen Sommer, Großbritannien habe die Europäische Union seit Jahren erpresst und lächerlich gemacht; London solle sich endlich an die Regeln halten – oder die EU verlassen. Demgegenüber beschrieb der renommierte britische Kolumnist Will Hutton Deutschland erst jüngst im Observer als eine „Kraft des Guten“.
Das »deutsche Modell« ist angesagt
Auf der politischen Ebene gibt es heute nicht mehr jene persönliche Wärme, die in den siebziger Jahren existierte, beispielsweise zwischen Helmut Schmidt und dem britischen Premier Jim Callaghan. Deutschland bemüht sich nicht mehr so wie damals um das Wohlwollen Großbritanniens, und im Hinblick auf die Europäische Union haben die beiden Länder etwas voneinander abweichende Richtungen eingeschlagen.
Trotzdem werden Deutschland und das „deutsche Modell“ in Großbritannien heute mehr bewundert denn je. Das gilt vor allem für Vertreter der linken Mitte. Im Jahr 1994 schrieb ich für das Institute for Public Policy Research, den wichtigsten Londoner Think Tank der linken Mitte, eine Broschüre mit dem Titel: „Die Umgestaltung der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland“. Darin verteidigte ich das deutsche Modell ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als viele Briten der Ansicht waren, dieses Modell sei zu unflexibel, um den Schock der Vereinigung zu bewältigen. Heute besteht die Wirtschaftspolitik der Labour-Partei im wesentlichen darin, Deutschland nachzueifern: Gesucht wird eine weniger kurzatmige, weniger auf schnellem An- und Verkauf gegründete Form der Marktwirtschaft mit einem besseren Ausbildungssystem, besserer Beteiligung aller Stakeholder in größeren Unternehmen und einem Finanzsystem, das eher wie ein öffentlicher Dienstleistungsbetrieb funktioniert. Wie immer besteht das Problem darin, inwiefern bestimmte Bestandteile der politischen Ökonomie eines anderen Landes importiert werden können, wenn das importierende Land auf eine völlig andere Wirtschaftsgeschichte zurückblickt und auch ganz andere wirtschaftliche Institutionen besitzt. Es gibt in Großbritannien nun einmal kein Gegenstück zu den deutschen Handelskammern oder zum Familien- oder Stiftungseigentum sogar großer Unternehmen, wie es in Deutschland verbreitet ist – alles Faktoren, welche die langfristige Koordinierung der Wirtschaftsakteure erleichtern.
Natürlich ist Deutschland seinerseits nicht ohne Probleme: Die Ungleichheit ist hier in den vergangenen Jahren stärker gestiegen als in Großbritannien (wobei Großbritannien allerdings nach wie vor die ungleichere der beiden Gesellschaften ist), und die deutsche Wirtschaft hängt zu sehr vom Export ab. Dennoch würden die meisten Briten ihr System vermutlich mit Freuden gegen die produktivere deutsche Volkswirtschaft eintauschen, die mit weniger politischen Konflikten mehr „gute Arbeit“ für normale Arbeitnehmer zustande bringt.
Über die EU werden wir uns nicht einig
Zwar ist Deutschland in vielerlei Hinsicht noch immer das schwerfälligere und solidere der beiden Länder, zugleich aber ist die deutsche Gesellschaft heute durchaus etwas ausgelassener, als sie es noch in den Jahren 1988 bis 1991 war, die ich in Deutschland erlebte. (Ja, ich war dabei!) Ich erinnere mich an ein Interview, das ich 1991 mit einem Fernsehproduzenten führte. Mein Gesprächspartner arbeitete für einen der wichtigsten deutschen TV-Sender. Er war voller Bewunderung für Spitting Image, jene britische Satiresendung, die mit Puppenfiguren Politiker persiflierte. Er erwähnte eine bestimmte Szene, in der die Margaret-Thatcher-Puppe einen Friseursalon betritt und nach einem „beliebten Schnitt“ fragt – woraufhin der Friseur ein großes Messer ergreift und Thatcher den Kopf abschneidet. „So etwas könnten wir niemals tun“, rief der deutsche Fernsehproduzent. Ich vermute, dass man so etwas in der heutigen Berliner Republik sehr wohl tun könnte. Ganz sicher weist man in Deutschland größeren Mut auf, Bilder des Propheten Mohammed zu veröffentlichen, als bei uns in Großbritannien.
Ein Konfliktpunkt zwischen unseren beiden Ländern bleibt die EU, allerdings aus guten Gründen und vor allem aufgrund unserer – aus historischen Gründen – sehr unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich der Rolle des Nationalstaats. Anders als Der Spiegel glaubt, versucht London nicht mehr, die Länder der Eurozone von der weiteren Integration hin zu einem quasi-europäischen Staat abzuhalten. Ganz im Gegenteil: Wenn es dieser Entwicklung bedarf, um die ökonomischen Probleme der Eurozone zu überwinden, dann erhebt London keinerlei Einwände.
Die natürliche Rolle Großbritanniens in der EU besteht darin, einen Außenring von europäischen Nicht-Euro-Ländern anzuführen, denen ihre nationale Souveränität wichtiger ist als den Euro-Kerneuropäern. Solch ein Außenring bliebe ein wichtiger Teil der EU, er würde aber nicht der Eurozone mit all ihren notwendigen Wirtschafts-, Steuer- und Finanzharmonisierungen angehören. Bereits Mitte der neunziger Jahre war klar, dass der Euro zu einem politischen und nicht vorrangig ökonomischen Projekt geworden war. Schon damals hätte Großbritannien alles dafür tun sollen, einen solchen europäischen Außenring zu formieren. Geschehen ist dies aber nicht.
Hilfe von den freundlichen Deutschen
Wir hören in Großbritannien oft davon, wie verärgert die Politiker in Berlin über die britische Regierung seien. Trotzdem hoffe ich weiterhin, dass Berlin die Logik begreift (und in einigen Punkten vielleicht sogar besser als London), die hinter der Idee von einem inneren und einem äußeren Ring in Europa steht – schließlich schreibt etwa Wolfgang Schäuble schon seit zwei Jahrzehnten Papiere über eben diese Logik.
Um auf Fußballer des FC Arsenal zurückzukommen: Kapitän bei Arsenal ist inzwischen der deutsche Innenverteidiger Per Mertesacker. Die Fans des Vereins nennen ihn derb, aber liebevoll the BFG, was für Big F... German steht. Ich hoffe, dass die EU in den nächsten Jahren das System eines inneren und eines äußeren Rings entwickeln wird – gerade auch mit dem Ziel, Großbritannien in der EU zu halten. Und wenn wir Briten am Ende tatsächlich Mitglied bleiben, dann wird dies nach meiner Erwartung ganz wesentlich den BFGs zu verdanken sein: den Big Friendly Germans.
Aus dem Englischen von Tobias Dürr