Europa muss besser werden
Für Demokratie und Solidarität in der EU. 31 jüngere Abgeordnete der Parti Socialiste in der französischen Assemblée Nationale und der SPD-Bundestagsfraktion haben eine gemeinsame Position zur Zukunft Europas erarbeitet. EINE DOKUMENTATION DER BERLINER REPUBLIK
Endlich mehr Demokratie für Europa wagen!
Europa ist eine Entscheidung für mehr Demokratie, Transparenz und Bürgernähe. Die EU braucht endlich ein klares Bekenntnis zu den Grundrechten, eine echte parlamentarische Demokratie und einen weitestgehenden Abbau von Blockaden durch demokratischere Abstimmungsverfahren.
Daher unterstützen wir mit aller Kraft das Projekt einer europäischen Verfassung, die so schnell wie möglich von einer Regierungskonferenz zu beschließen ist. Sie darf dabei nicht hinter den Verfassungsentwurf des Konvents zurückfallen. Die Methode der Regierungskonferenzen ist weitgehend gescheitert. Das Europa der Regierungen fühlt sich zu stark den nationalen Egoismen verpflichtet. Daher fordern wir eine Parlamentarisierung des verfassungsgebenden Prozesses der EU. Die Konventsmethode muss Verfassungsrang erhalten. Über die Weiterentwicklung und grundlegende Änderungen der Europäischen Verfassung hat ein aus Mitgliedern des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente zusammengesetzter Konvent zu befinden. Vorstellbar wäre für uns auch ein Ratifizierungsverfahren, das ein EU-weites Referendum beinhaltet.
Zukünftig sollten in der Organisationsform der Europäischen Union mehr föderale Aspekte zum Tragen kommen. Europas Macht legitimiert sich aus dem Willen der Bürgerinnen und Bürger - und nicht allein aus dem der Staaten. Wir erwarten mittelfristig weitere Fortschritte, die über den Konventsentwurf hinausgehen. Wir wollen und müssen in Europa noch mehr Demokratie wagen. Der Ministerrat als europäische Staatenkammer und das Europäische Parlament als europäische Bürgerkammer müssen die gleichberechtigten Pfeiler der künftigen Legislative der EU sein. Die Europäische Kommission muss zu einer echten europäischen Regierung weiter entwickelt werden. Demokratie in Europa kann aber nur dann funktionieren, wenn das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente die gemeinsame demokratische Klammer für europäische Politik bilden. Grundsätzlich muss in den Räten mit doppelter Mehrheit entschieden werden, um Blockaden zu verhindern und Europa voran zu bringen.
Aus unserer eigenen Erfahrung als Abgeordnete wissen wir, dass die nationalen Parlamente endlich "europatauglicher" werden und ein größeres Interesse für die Europapolitik herausbilden müssen. Unsere Parlamente müssen bedeutendere Foren der Europapolitik werden. In Zusammenarbeit mit Vertretern weiterer nationaler Parlamente erarbeiten wir dafür neue Vorschläge. Klar ist für uns jedoch, dass sich die nationalen Parlamente auf eine effizientere Kontrolle der Europapolitik ihrer Regierungen konzentrieren sollten.
Die Notwendigkeit eines föderalen Aufbaus für Europa ergibt sich auch aus der Arbeitsteiligkeit des europäischen Integrationsprozesses. Die europäische, die nationale und die regionale Ebene müssen effektiv zusammenarbeiten, wenn europäisches Handeln gelingen soll. Innerhalb einer Politik auf mehreren Ebenen müssen die Aufgaben klar erkennbar sein. Das ist eine Grundvoraussetzung für eine effektive demokratische Kontrolle und Begleitung der europäischen Politik.
In einer immer größeren Europäischen Union, die eine Vielzahl unterschiedlicher nationaler Interessen unter einen Hut bringen muss, wird es aber immer schwieriger, dass alle Mitgliedstaaten dasselbe Integrationstempo einhalten. Bereits heute gibt es Regeln, die unterschiedliche Abstufungen der Integration ermöglichen. Weitere Differenzierungsschritte sind unausweichlich, dürfen jedoch nicht zu Lasten von Demokratie und Solidarität gehen.
Der große Erweiterungsschritt um zehn neue Partner am 1. Mai 2004 wird nicht der letzte sein. Von der Idee eines vereinigten Europas geht immer noch eine große Strahlkraft aus. Über Rumänien und Bulgarien hinaus wird es eine Beitrittsperspektive für die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien geben müssen. Wir unterstützen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Es wird dann maßgeblich an der Türkei selbst liegen, ob sie bereit und in der Lage ist, die Kopenhagener Kriterien sowie den Acquis communautaire vollständig zu übernehmen.
Alte Trennlinien zu überwinden und keine neuen entstehen zu lassen, gehört seit jeher zu den wichtigsten Zielen der europäischen Integration. Aber nicht alle Staaten des europäischen Kontinents wollen oder können Mitglieder der EU werden. Ihnen muss sich eine überzeugende Partnerschaftsstrategie eröffnen. Wir wollen mit unseren Nachbarn einen auf gemeinsamen Überzeugungen basierenden Stabilitätsraum schaffen, der dem Ziel einer multipolaren Weltordnung entspricht. Dafür ist eine umfassende Strategie der Nachbarschaftspolitik zu entwickeln, die ihre Wirkung auch ohne die Perspektive einer Vollmitgliedschaft in der EU entfalten kann.
Europa braucht eine offene deutsch-französische Partnerschaft
Frankreich und Deutschland tragen eine besondere Verantwortung für die Arbeits- und Zukunftsfähigkeit der EU. Daher sollten beide Staaten noch stärker als bislang ihre nationalen Politiken aufeinander abstimmen und koordinieren. Im Rahmen neuer Formen der deutsch-französischen Kooperation sollten wir innovative Methoden der Politikgestaltung testen. Von erfolgreichen Initiativen in unseren beiden Ländern könnten wichtige Impulse für die Politik der Europäischen Union ausgehen. Denkbar wäre beispielsweise die Gründung eines gemeinsamen Ministeriums für Innovation, Forschung und Technologie. Die Besteuerung von Unternehmen sollte auf einer in beiden Ländern geltenden Bemessungsgrundlage vereinheitlicht werden. Um Wachstum und Beschäftigung zu fördern, wäre eine konsequente Koordination der Wirtschafts- und Finanzpolitik notwendig.
Wir wissen um die wachsende Skepsis in vielen Mitgliedstaaten gegenüber der deutsch-französischen Kooperation. Wir nehmen die Bedenken vor allem kleinerer Mitgliedstaaten ernst. Gerade sie sollten regelmäßig frühzeitig und umfassend bei der Entwicklung von Initiativen für Europas Zukunft einbezogen werden. Wir begrüßen die verstärkte Einbindung des Vereinigten Königreichs, auf dessen Zusammenarbeit wir insbesondere in Fragen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik angewiesen sind. Ausbauen wollen wir ebenso die im Weimarer Dreieck institutionalisierte Zusammenarbeit mit Polen. Wir halten jedoch einen Ausbau der parlamentarischen und vor allem der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit für erforderlich.
Globalisierung mit einem solidarischen Europa gestalten
Europa ist eine Entscheidung für ein der Solidarität verpflichtetes Sozialmodell, das es zu verteidigen und zu modernisieren gilt. Wir kämpfen für dieses Gesellschaftsmodell, weil es Demokratie und Solidarität, Wettbewerb und soziale Kohärenz in vorbildlicher Weise miteinander verknüpft. Ebenso setzt Europa auf Pluralismus und Dialog, schützt und respektiert Minderheiten und ist in Vielfalt vereint.
Aber die EU braucht neuen Schwung, mehr wirtschaftliches Wachstum und ein höheres Beschäftigungsniveau. Die EU muss stärker Eigeninitiative und Kreativität fördern, um den Produktivitätsrückstand gegenüber anderen Wirtschaftsregionen aufzuholen. Im Rahmen der Lissabon-Strategie sind Mittel für Forschung, Innovation und Bildung endlich aufzustocken, gemeinsame Initiativen und Projekte sind zu forcieren. Zur Finanzierung neuer Maßnahmen müssen die bisherigen finanziellen Schwerpunkte des EU-Haushalts auf den Prüfstand. Durch weitere Umschichtungen sind Finanzmittel freizumachen, ohne dabei auszuschließen, erneut über die Gemeinsame Agrarpolitik nachzudenken. Darüber hinaus würde eine eigene EU-Steuer zu mehr Transparenz für die Bürgerinnen und Bürger beitragen.
Auf europäischer Ebene brauchen wir eine auf Gleichberechtigung beruhende Partnerschaft von Arbeit und Kapital. Europäische Solidarität bedingt wachsende soziale Standards, eine starke Mitbestimmung von Arbeitnehmern, einflussreiche Gewerkschaftsbewegungen und einen Ausbau von Arbeitnehmerrechten.
Die EU muss sich gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern stärker als demokratische Antwort auf die Chancen und Risiken der Globalisierung profilieren. Wir müssen die Debatte über das europäische Zivilisationsmodell neu anstoßen. Wir brauchen eine mutige Weiterentwicklung der EU, damit sie verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen vermag. Für uns ist die EU mehr als ein funktionierender Markt - Europa ist ein gemeinsamer sozialer Raum. Die Lissabon-Strategie muss endlich mit Leben gefüllt werden. Soziale Errungenschaften lassen sich nur mit der EU sichern und modernisieren. Im Mittelpunkt unserer Überlegungen stehen jedoch keine Instrumente, sondern Ziele und Mindeststandards, die den Bürgerinnen und Bürgern in allen Mitgliedstaaten soziale Sicherheit und Teilhabe garantieren.
Neue Impulse durch eine echte Partei europäischer Sozialdemokraten und Sozialisten
Auf dem Weg zu einem einigen, handlungsfähigen Europa brauchen wir die Herausbildung eines eindeutigen, unterscheidbaren, starken und dauerhaften europäischen Parteiensystems. Die Konfliktlinien der europäischen Politik verlaufen noch all zu oft entlang von Ländergrenzen, markieren Konflikte zwischen Nationalstaaten oder Gruppen von Nationalstaaten auf dem diplomatischen Parkett der EU-Institutionen. Was wir für eine Politisierung der Europäischen Union brauchen, ist in Zukunft mehr Konkurrenz der politischen Ideen, mehr Kontroverse zwischen politischen Lagern, Diskussionen zwischen politischen Parteien quer über den Kontinent statt diskreter Gipfeldiplomatie. Europa muss im demokratischen Wettstreit der Ideen, nicht der Nationen erfahrbar werden.
Dafür sind starke europäische Parteien erforderlich. Auf der sozialdemokratischen und sozialistischen Seite des Parteienspektrums müssen wir programmatischen Streit europaweit organisieren. Daher fordern wir eine Sozialdemokratische Partei Europas (SPE), die diesen Namen auch verdient. Bislang ist die SPE eine reine Plattform, auf der nationale Positionen zu wenig überzeugenden Formelkompromissen zusammengefasst werden. Alljährliche Parteitage müssen demokratische Prinzipien respektieren und vor allem mit qualifizierter Mehrheit entscheiden. Die Größe der nationalen Delegationen muss sich an den jeweiligen Mitgliederzahlen orientieren, wobei eine Mindestzahl von Delegierten pro nationaler Parteiorganisation festgelegt wird. Der vom Parteitag zu wählende Vorstand darf nicht länger von den Vorsitzenden der nationalen Parteiorganisationen dominiert werden. An der Spitze der SPE muss ein starker, europaweit anerkannter Vorsitzender stehen, der mit seinem Vorstand von einem handlungsfähigen und personell aufzustockenden Sekretariat in Brüssel unterstützt wird. Für zukünftige Wahlen zum Europäischen Parlament muss die SPE einen gemeinsamen Spitzenkandidaten nominieren.
Auf einem außerordentlichen Parteitag sollte sich die SPE auf einen gemeinsamen Standpunkt zum Verfassungsprojekt verständigen und den Startschuss geben für eine grundlegende Organisationsreform.
Das gemeinsame Positionspapier wurde von folgenden Abgeordneten unterzeichnet:
Französische Abgeordnete der Parti Socialiste:
Patrick Bloche, Christophe Caresche, Gaëtan Gorce, Jean-Claude Beauchaud, Jean-Louis Bianco, Jean-Paul Chanteguet, Martine Carrillon-Couvreur, Jacques Floch, Joël Giraud, Paulette Guinchard-Kunstler, Jérôme Lambert, Christophe Masse, Gilles Savary, André Vallini, Philippe Vuilque
Deutsche Abgeordnete der SPD-Bundestagsfraktion:
Dr. Hans-Peter Bartels, Marco Bülow, Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, Kerstin Griese, Michael Hartmann, Nina Hauer, Ulrich Kelber, Caren Marks, Dietmar Nietan, Michael Roth, Carsten Schneider, Swen Schulz, Rolf Stöckel, Simone Violka, Andreas Weigel