Europas härteste Prüfung
Noch bevor die Opfer der schweren Anschläge von Paris zu Grabe getragen und betrauert werden konnten, war schon wieder von einem „Krieg gegen den Terrorismus“ die Rede. Bereits am Tag nach den Anschlägen sprach der französische Präsident François Hollande von einem „Kriegsakt“ gegen Frankreich und rief den nationalen Notstand aus. Die französische Opposition legte nach: Hollandes Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy erklärte, härter gegen Islamisten vorgehen zu wollen, und die rechte Hoffnungsträgerin Marine Le Pen forderte einmal mehr die völlige Abschottung der Grenzen gegenüber Einwanderern und Asylsuchenden. Anfang Februar beschloss die Nationalversammlung, den Ausnahmezustand in der französischen Verfassung zu verankern. Stimmt der Senat der Verfassungsreform zu, könnte der Notstand für je vier Monate verlängert werden.
Auch anderswo fiel die rhetorische Reaktion auf die Terroranschläge brachial aus: Papst Franziskus sprach vom anstehenden „Dritten Weltkrieg“, der amerikanische Außenminister John Kerry bezeichnete die für die Anschläge verantwortlichen Daesh-Terroristen als „pychopathische Monster“. Diese Rhetorik war jedoch nur der Vorlauf für eine stärkere europäische Beteiligung an den militärischen Operationen gegen den so genannten Islamischen Staat, wie sie Hollande nach den Anschlägen ausdrücklich auch von Deutschland erbat. Der Bundestag beschloss die deutsche Beteiligung innerhalb von nur drei Wochen: 445 Abgeordnete stimmten für den Einsatz der Bundeswehr, der bis zum Ende dieses Jahres befristet ist. Die Bundeswehr stellt eine Fregatte sowie Tornados zur Luftaufklärung bereit. Die Kosten werden sich voraussichtlich auf insgesamt 134 Millionen Euro belaufen. Anders als nach den Anschlägen vom 11. September mangelt es jedoch an einer eindeutigen völkerrechtlichen Legitimation, da kein klares UN-Mandat vorliegt.
In seinem Mandatsbeschluss beruft sich der Bundestag auf Artikel 51 der UN-Charta, also dem Recht auf Selbstverteidigung, und auf Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrages; aber die Anschläge von Paris sind weder mit einem staatlichen Angriff gleichzusetzen, noch ist die EU bisher als Verteidigungskollektiv aufgetreten. Besonders gravierend ist jedoch, dass in den maßgeblichen Resolutionen des Sicherheitsrates, auf die sich der Bundestagsbeschluss bezieht, die Verweise auf Kapitel VII der UN-Charta fehlen. Denn allein diese können militärische Maßnahmen legitimieren. Jenseits der völkerrechtlichen Frage bleiben Zweifel, wie Luftschläge auf dem Gebiet von Daesh/IS Erfolg haben können, wenn die Terroristen in einem Gebiet agieren, dass von Millionen Zivilisten bewohnt wird. Jedenfalls stellt ein solcher „Krieg gegen den Terrorismus“ noch lange keine Strategie zur Überwindung des Daesh-Terrors und vor allem nicht zur Befriedung Syriens und der Region dar.
Bushs Krieg startete den Zerfall der Region
Mehr als 14 Jahre ist es her, dass der damalige amerikanische Präsident George W. Bush die Al-Qaida Anschläge vom 11. September als einen „Kriegsakt“ gegen Amerika bezeichnet hat. Dem Terrorismus erklärte er kurzerhand den Krieg, der fortan im eigenen Land und weltweit geführt werden sollte. Seitdem hat sich die Debatte über Sicherheit grundlegend verändert – nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Europa, nachdem 2004 bei den koordinierten Anschlägen von Madrid 191 Menschen ums Leben kamen. Diese Anschläge forderten 60 Opfer mehr als die blutigen Anschläge von Paris.
Im Zuge des „Patriot Act“ und anderer grundlegender Gesetzesinitiativen wurden die amerikanischen Bürger- und Freiheitsrechte eingeschränkt. Derweil erhielten die amerikanischen Sicherheitsbehörden immer neue Befugnisse und eine bessere Ausstattung. Muslime wurden nicht selten unter Generalverdacht gestellt. Manche der politischen Maßnahmen lassen sich kaum noch zurücknehmen. Selbst Barack Obama war nicht in der Lage, das Hochsicherheitsgefängnis Guantánamo Bay, das extralegal für „besonders gefährliche“ Terroristen eingerichtet wurde, zu schließen – und damit ein zentrales Wahlversprechen von 2008 einzulösen.
Der terroristische Anschlag vom 11. September und der Krieg gegen Al-Qaida dienten allerdings nicht nur zur Legitimation des von den Vereinigten Staaten angeführten Nato-Einsatzes in Afghanistan. Sie wurden auch als Vorwand für den Einmarsch in den Irak 2003 missbraucht. Kennzeichnend für den Irak-Einsatz der Amerikaner war das völlige Fehlen einer politischen Strategie. Dies führte schließlich zum Aufbrechen der ethnisch-religiösen Spannungen und mündete in einem brutalen Bürgerkrieg, dessen Folgen wir nun zu spüren bekommen. Die gesellschaftliche Struktur des Irak, die während der jahrelangen Diktatur Saddam Husseins bereits ausgehöhlt worden war, zerfiel bald vollständig. Nichts hat die Entstehung von Daesh/IS so stark begünstigt wie die Ausgrenzung und Erniedrigung der Sunniten in den rechtsfreien Verließen der Amerikaner in Abu Ghraib und Camp Bucca.
Die Bilanz des „Kriegs gegen den Terror“ ist ernüchternd, die Bedrohung von zentralen demokratischen Freiheiten und Bürgerrechten ist real. Sollten die Anschläge von Paris dazu führen, dass wir erneut nur über die Ausweitung von Sicherheitsmaßnahmen und militärische Antworten diskutieren, wird es uns wohl kaum gelingen, die Herausforderung des Islamischen Staates und die chaotischen Verhältnisse im Nahen Osten zu bewältigen. In Deutschland und einigen anderen Ländern gab es nach den Anschlägen von Paris auch besonnenere Stimmen. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die bereits in der Flüchtlingsfrage Haltung bewies, mahnte, dass „unser freies Leben stärker ist als jeder Terror“. Sie forderte ihre Landsleute dazu auf, den Terroristen zu antworten, indem sie ihre Werte „selbstbewusst leben“.
Werte allein bieten zwar keinen Schutz vor Terrornetzwerken, Waffenschmuggel oder ideologischen Hassverbrechen. Und zweifelsohne sind vernünftig ausgestattete Sicherheitsbehörden, Polizei und Justiz grundlegende Voraussetzungen, um die Bevölkerung zu schützen und terroristische Mörder zu verfolgen und zu verurteilen. Jedoch bedarf es ebenso dringend einer fundamentalen Revision unserer zentralen außen-, innen- und entwicklungspolitischen Grundsätze. Nur dann werden wir eine Gesamtstrategie entwickeln können, die langfristig Stabilität im Nahen Osten und eine Bewältigung der Flüchtlingskrise ermöglicht.
Keine Bündnisse mit Diktaturen
Europa darf nicht zum Zweck der „Stabilität“ autokratische und diktatorische Regime stärken; langfristig wird eine solche Strategie neue Krisen auslösen. Es wirkt grotesk, dass Bashar Al-Assad, der die Hauptverantwortung für das Morden in Syrien trägt und Daesh/IS erst groß machte, sich jetzt als Alliierter im „Krieg gegen den Terrorismus“ anbietet. Die Friedensgespräche in Wien und in Genf ließen lange die nötige diplomatische Entschlossenheit vermissen. Ohne Druck auf Russland und den Iran, damit sie ihre bedingungslose militärische Unterstützung für Assads Truppen einstellen, wird sich das Morden nicht beenden lassen. Die Beteiligten müssen sich endlich auf eine Waffenruhe und eine Formel für ein Post-Assad Syrien einigen, die ein dauerhaftes Ende der Kampfhandlungen und des unerträglichen Leidens der syrischen Zivilbevölkerung ermöglicht.
Ein kritischerer Umgang mit dem ägyptischen Präsidenten Abd al-Fattah Al-Sisi, der Oppositionelle radikal verfolgt und die Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt hat, ist ebenso notwendig wie eine deutlichere Distanzierung gegenüber Saudi-Arabien. Die drastischen Maßnahmen, mit denen Al-Sisis Regime gegen die Muslimbrüder in Ägypten vorgeht, dürften noch dramatische Folgen nach sich ziehen und in den Folterkammern des Regimes neue, gewaltbereite islamistische Kräfte hervorbringen. Saudi-Arabien trägt bis heute zur ideologischen und finanziellen Ausstattung dschihadistischer Gruppen bei – direkt und indirekt. Wir sollten nicht darüber hinwegsehen, dass sich die Menschenrechtslage in den Golfstaaten und besonders in Saudi-Arabien bislang nicht verbessert hat. Politischer Druck ist notwendig, um die destruktive Politik unserer vermeintlich „Verbündeten“ zu verändern – auch auf Kosten von Wirtschaftsinteressen. Waffenlieferungen an den Golf müssen daher vorerst eingestellt werden, denn die massive Aufrüstung kann bedrohlich werden, wenn die Regime in der Golfregion eines Tages selbst zerfallen.
Europa ist ohne Strategie
Die Atomvereinbarung mit dem Iran und die teilweise Außerkraftsetzung von Sanktionen ist zwar ein positives Beispiel für den Erfolg von Diplomatie, aber eine innenpolitische Öffnung Teherans ist noch nicht absehbar. Deutschland und Europa dürfen jetzt nicht nur ihren Profit suchen. Stattdessen müssen sie auf Freiräume im Iran drängen, die Kulturbeziehungen stärken und die katastrophale Menschenrechtslage im Land thematisieren, um Verbesserungen zu ermöglichen.
Ebenso wenig dürfen wir den Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis vergessen. Im Nachgang der Attentate von Paris stilisierte sich der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu zwar als Partner im Kampf gegen Daesh/IS. Aber seine Regierung hat einer Zweistaatenlösung mittlerweile eine klare Absage erteilt. Die erneuten Gewaltausbrüche deuten die sicherheitspolitischen Konsequenzen bereits an. Angesichts der dauerhaften israelischen Herrschaft über die Westbank und der Verelendung des völlig isolierten Gazastreifens könnte es ohne massive diplomatische Intervention von außen zu einer neuen Eskalation des Konflikts kommen.
Die wohl wichtigste Herausforderung dieser Tage ist die Bewältigung der massiven Fluchtbewegungen. Nie waren seit Ende des Zweiten Weltkrieges so viele Menschen vor Krieg und Verfolgung weltweit auf der Flucht. Dies stellt die EU vor massive Herausforderungen: Während sie nach den Anschlägen von Paris bereits binnen weniger Wochen in der Lage war, militärische Schläge gegen Daesh/IS auszuführen, scheitert sie seit Monaten an einer gesamteuropäischen Strategie zur Aufnahme und Integration der Geflüchteten. Viele Staaten in Europa kritisieren den Kurs der deutschen Bundeskanzlerin, weigern sich allerdings, selbst Verantwortung zu übernehmen. Der Populismus in Europa gewinnt an Fahrt, Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit breiten sich aus. Die mangelnde Solidarität führt dazu, dass die Europäische Union mittlerweile in ihrem Kern bedroht ist. Nach den Anschlägen von Paris wittert die europäische Rechte ihre Chance, Stimmung gegen Einwanderer und Flüchtlinge zu machen – gegen Flüchtlinge, die genau vor jenem islamistischen Terror geflohen sind.
Dringend notwendig sind legale Immigrationswege in die EU. Die Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen, brauchen nicht nur physischen Schutz. Sie müssen auch gesellschaftlich integriert und in ihrer menschlichen Würde anerkannt werden – und zwar jenseits ihres Status als Flüchtling. Eine gut organisierte soziale und wirtschaftliche Integration ist auch mit Blick auf das Scheitern der französischen Migrationspolitik der vielleicht wichtigste Beitrag zur Sicherheit, Stabilität und Demokratie in Europa. Die Menschen, die vor Terror geflohen sind, sind besonders verletzlich. Sie dürfen erst Recht nicht unter einem neuen „Krieg gegen den Terrorismus“ leiden.