Europas Währung heißt Anti-Amerikanismus
Bis zu meinem Abschluss viele Jahre später wurde ich immer wieder von meinen Englischlehrern in ihrem von einem starken Wiener Akzent gefärbten Englisch ermahnt, doch nicht diesen abscheulichen „amerikanischen Dialekt“ zu sprechen und niemals die „amerikanische Schreibweise“ zu verwenden, deren Vereinfachungen das ungebildete und simple Naturell der Amerikaner verdeutliche. Natürlich wurde ich auch bei jedem meiner Regelverstöße, sei es nun Schwätzen im Unterricht oder Fußball spielen auf dem Flur, ermahnt: „Markovits, wir sind hier nicht im Wilden Westen. Benimm dich.“ Deutsch mit Wiener Akzent: großartig; Englisch mit amerikanischem Akzent: schrecklich. Das trifft auch fast 50 Jahre später noch zu.
Eine Reise nach Europa bestätigt, was aus Umfragen hervorgeht: Die Abneigung gegen Amerika wird stärker, lauter und entschlossener. Sie vereint die Westeuropäer mehr als jede andere politische Regung, abgesehen von der allgemein feindseligen Einstellung gegenüber Israel. Tatsächlich ist die Schärfe der westeuropäischen Antipathie gegenüber Israel nicht ohne den existierenden Anti-Amerikanismus zu verstehen. Diese beiden eng miteinander verbundenen Ressentiments gelten mittlerweile als guter Ton und werden im Diskurs der politischen Klassen geduldet. Sie sind gang und gäbe, und zwar nicht nur bei den westeuropäischen Eliten von Kultur und Medien, sondern in der gesamten Gesellschaft: von London bis Athen, von Stockholm bis Rom.
Anti-Amerikanismus als lingua franca
Zweifellos haben zahlreiche verheerende und unverantwortliche politische Maßnahmen von Mitgliedern der Bush-Regierung sowie ihr überhebliches Auftreten und ihr arroganter Ton entscheidend zu dieser offenen, noch nie da gewesenen Feindseligkeit der Europäer gegenüber den Amerikanern und Amerika beigetragen. Sie tragen sehr wohl Verantwortung dafür, dass sich eine Situation ergeben hat, in der sich der Anti-Amerikanismus zu einer Art globaler Aversion entwickelt hat, einer gemeinsamen Sprache des Widerstandes gegen die realen und vermeintlichen Übel der Moderne, die nun untrennbar mit Amerika in Zusammenhang gebracht werden. Ich pendle seit 1960 regelmäßig zwischen den Vereinigten Staaten und Europa und kann mich an keine Zeit erinnern, in der eine solch vehemente Aversion gegen alles Amerikanische in Europa geherrscht hat wie heute. Keines der westeuropäischen Länder bleibt von diesem Phänomen unberührt, keine einzelne Gesellschaftsklasse, Alters- oder Berufsgruppe, nicht einmal eines der Geschlechter. Diese Aversion reicht jedoch viel tiefer und weiter als der oft beschworene „Anti-Bushismus“. Für mich stellt dieser heftige, europa- und sogar weltweite „Anti-Bushismus“ nur die Spitze eines riesigen anti-amerikanischen Eisbergs dar.
Der Anti-Amerikanismus ist zur westeuropäischen lingua franca geworden. Selbst auf dem Höhepunkt des Vietnam-Krieges und während der Kontroverse über den Nato-Doppelbeschluss sah es ganz anders aus. Bei jedem Ereignis war die europäische Öffentlichkeit in ihrer Haltung gegenüber Amerika geteilt: Neben denjenigen, die mit Wider stand und Protest reagierten, gab es starke Kräfte, die die amerikanische Politik zu würdigen wussten und Verständnis zeigten. Doch seit Oktober 2001, nur wenige Wochen nach dem 11. September und kurz vor dem Krieg der Amerikaner gegen das Taliban-Regime in Afghanistan, verbreitete sich in ganz Europa eine ausgeprägte Abneigung gegenüber Amerika. Sie betraf weit mehr als die Politik, die Maßnahmen und die Regierung der Amerikaner und reichte praktisch in alle Bereiche der westeuropäischen Öffentlichkeit hinein.
Doch um diese Verstärkung des Anti-Amerikanismus zu begreifen, muss man die Umstände genauer betrachten, unter denen es dazu kommen konnte. Westeuropas uneingeschränkte Ablehnung von missbräuchlichen und unverantwortlichen politischen Maßnahmen der Amerikaner wachsen auf einem Nährboden aus Hass, Verachtung und Abneigung gegenüber Amerika, die in Europa eine lange Tradition haben.
Gegen Amerika und Israel
Wie jedes andere Vorurteil sagt auch das des Anti-Amerikanismus mehr über diejenigen aus, die es haben, als über den eigentlichen Gegenstand seines Zorns und seiner Geringschätzung. Von klassischen Vorurteilen wie Antisemitismus, Homophobie, Frauenfeindlichkeit und Rassismus unterscheidet sich der Anti-Amerikanismus in der Dimension der Macht. Juden, Schwule und Lesben, Frauen und ethnische Minderheiten haben in den meisten Ländern kaum Macht über die Mehrheit der Bevölkerung oder das dominierende Geschlecht. Die real existierenden Vereinigten Staaten hingegen verfügen über große Macht, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr über die gesamte Welt erstreckt und wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge einmalig in der menschlichen Geschichte ist.
Während andere Vorurteile in der Öffentlichkeit, besonders solche gegen Schwache, als wichtiges Vermächtnis von Fortschritt und Toleranz der letzten 40 Jahre im öffentlichen Diskurs der meisten demokratischen Industriestaaten nicht mehr geduldet werden, gilt dergleichen nicht für die vermeintlich und tatsächlich Starken. Daher wird der Anti-Amerikanismus in vielen Kreisen weiterhin nicht nur geduldet, sondern gilt mittlerweile sogar als eine Art Ehrenabzeichen.
Das Gleiche trifft für die feindselige Einstellung gegenüber Israel zu. Aufgrund seiner Bindungen zu den Vereinigten Staaten wird es von seinen europäischen Kritikern als mächtig wahrgenommen, wobei beide Länder als miteinander eng verflochten gelten. Hier ist sicherlich noch etwas anderes mit im Spiel: Amerika besitzt zahlreiche mächtige Verbündete, die nie auch nur ansatzweise unter solch feindseliger Beobachtung standen, wie es bei Israel täglich der Fall ist. In Zusammenhang mit Europas problematischer, nicht ausreichend erfolgter Verarbeitung der jüdischen Geschichte spielt es eine entscheidende Rolle, dass Israel ein jüdischer Staat ist. Heutzutage ist ein „neuer“ Antisemitismus feststellbar, der sich zu den traditionellen Vorurteilen hinzugesellt: Er stellt ein Epiphänomen des Anti-Amerikanismus dar.
Der Atlantik als Grenze
Die Schweizer Publizistin Gret Haller hat für ein sehr empfängliches und breites Publikum ausführlich darüber berichtet, wie grundlegend sich Amerika bereits seit Gründung der Amerikanischen Republik von Europa unterscheidet (und selbstverständlich darüber, wie sehr es Europa unterlegen ist). Für Haller weicht die Art, in der die Beziehungen zwischen Staat, Gesellschaft, Gesetz und Religion in Amerika hergestellt und gedeutet wurden, so stark von der in Europa ab, dass es weder möglich noch wünschenswert ist, die beiden Lebensanschauungen miteinander zu vereinbaren und in Einklang zu bringen. Daher sollte sich Europa deutlich von Amerika abgrenzen. Auf einer Konferenz zum europäischen Anti-Amerikanismus, auf der ich mit Frau Haller an einer Podiumsdiskussion teilgenommen habe, betonte sie ausdrücklich, dass Großbritannien schon immer zu Europa gehört habe und dass der Ärmelkanal niemals eine Grenze darstellen dürfe, die Großbritannien von Europa trennt. Die Grenze müsse der breiter werdende Atlantik sein, der Europa einschließlich Großbritannien zu Recht von Amerika trenne. Von Beginn an habe es zwischen beiden viel mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten gegeben. Die letzten Jahre hätten bloß dazu beigetragen, diese Unterschiede und ihre Unvereinbarkeit noch deutlicher hervorzuheben.
Rückschrittlich auf allen Ebenen?
Im Rahmen dieser weithin verbreiteten Anklage wird Amerika des Rückschritts auf drei Ebenen beschuldigt: auf moralischer Ebene (Amerika als Vertreter der Todesstrafe und des religiösen Fundamentalismus; demgegenüber Europa, wo die Todesstrafe abgeschafft wurde und man an einem aufgeklärten Säkularismus festhält); auf sozialer Ebene (Amerika als – mit den Worten des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt – Bastion des unkontrollierten „räuberischen Kapitalismus“ und der Strafe; demgegenüber Europa als Heimat des fürsorglichen Sozialstaats und der Rehabilitation); und auf kultureller Ebene (Amerika: kommerzialisiert, Europa: vergeistigt; Amerika: prüde und gleichzeitig geil, Europa: gerissen und weise).
In einer interessanten Debatte in Deutschland über so genannte defekte Demokratien scheinen die Vereinigten Staaten tatsächlich an erster Stelle zu stehen. Ohne eine bedeutende „soziale“ Komponente sind die Defekte einer Demokratie so fundamental, dass man es fast in Betracht ziehen könnte, ein solches System als nicht-demokratisch zu bezeichnen, oder zumindest als defekte Demokratie. Sicherlich wird kein ernsthafter Beobachter die erheblichen Defekte des politischen Systems der Amerikaner abstreiten. Doch in diesem Zusammenhang sind nicht so sehr die oft berechtigten Anschuldigungen gegen die amerikanische Demokratie von Bedeutung, sondern das vollkommene Stillschweigen über die Defekte der deutschen und (west-)europäischen Demokratie. Wie Klaus Faber, einer der wichtigsten progressiven Kritiker dieses Arguments, völlig richtig erwidert, würden die isolierten und entfremdeten Immigranten in den Vororten von Paris oder auf den tristen Straßen Berlins sicherlich weniger als die Kritiker Amerikas dazu tendieren, die deutsche und französische Demokratie als frei von Defekten zu loben. Wenn man die erfolgreiche Integration von Immigranten in die „soziale“ Komponente mit einbezieht, stünde die amerikanische Demokratie weniger defekt da als die vermeintlichen Vorzeigemodelle Westeuropas.
Viele der Komponenten des europäischen Anti-Amerikanismus finden sich bereits im europäischen intellektuellen Diskurs des späten 18. Jahrhunderts. Die Vorurteile über die vermeintliche Bestechlichkeit, Kleingeistigkeit, Grobheit, Kulturlosigkeit und vor allem den Mangel an Authentizität der Amerikaner sind seit mehr als 200 Jahren fester Bestandteil der Meinung der europäischen Elite und in diesem Personenkreis allgegenwärtig. Eine Vielzahl von Beispielen aus allen Lebensbereichen belegt, wie weit verbreitet und alltäglich der Anti-Amerikanismus mittlerweile ist. Ich habe bewusst Beispiele aus Bereichen gewählt, die man normalerweise nicht mit der Politik in Verbindung bringen würde, um zu zeigen, dass die europäische Abneigung gegen alles Amerikanische im Prinzip wenig mit der Politik der Bush-Regierung oder irgendeiner anderen Regierung zu tun hat.
Amerika steht für Schaumschlägerei
Wenden wir uns dem Thema „Sprache“ zu. Im Deutschen implizieren die Begriffe „Amerikanisierung“ und „amerikanische Verhältnisse“ meist ausnahmslos etwas Negatives und Bedrohliches, das vermieden werden sollte. So verspottete zum Beispiel die Junge Union die Bestrebungen der SPD, inner parteiliche Vorwahlen nach amerikanischem Beispiel einzuführen, mit der Bemerkung, die deutsche Politik brauche eine Demokratisierung, keine Amerikanisierung. Die Union setzte Ersteres mit kompetenter Problemlösung gleich, Letzteres mit Schaumschlägerei. Die Linke ihrerseits hat „Amerikanisierung“ als abwertenden Begriff in ihren Wortschatz aufgenommen. Auch in Großbritannien sind „americanisation“ und „american-style“ fast ausschließlich negativ besetzt; ihnen wird oft „schleichend“ als aufschlussreiches Adjektiv vorangestellt: die schleichende Amerikanisierung, die in der wachsenden Seitenzahl britischer Romane ihren Ausdruck findet; die schleichende Amerikanisierung des britischen Sports; der Waffenkult, der durch die schleichende Amerikanisierung infolge brutaler Filme angeheizt wird.
Und Fußball spielen können sie auch nicht
Die Fußballwelt ist ein sehr gutes Beispiel für meine Argumentation, denn welche Einwände man auch immer gegen diesen Sport und seine Kultur haben mag, so ist doch zumindest eindeutig, dass die Vereinigten Staaten während des gesamten 20. Jahrhunderts in diesem Sport höchstens unter „ferner liefen“ mitspielten. Amerika hatte in der Fußballwelt einfach kein Gewicht und dies ist eigentlich noch immer der Fall. Die Amerikaner waren für Europa nie ein ernstzunehmender Gegner. Und dennoch hatte der Diskurs über dieses Spiel auf europäischer Seite immer einen zynischen, aggressiven, provozierenden und vor allem herablassenden Ton.
Als die Vereinigten Staaten zum Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft für das Jahr 1994 gewählt wurden, waren viele in der europäischen Medienwelt entsetzt. Anstatt sich darüber zu freuen, dass nun auch der letzte weiße Fleck auf der Fußball-Landkarte von diesem „schönen Spiel“ erobert werden sollte, äußerten die Europäer lautstark die üblichen Einwände gegen die Unkultiviertheit, Vulgarität, Profitgier und Ignoranz der Amerikaner. Indem die Amerikaner den Wettkampf austragen, so die verbreitete Meinung, werde das Spiel und seine Tradition an Ansehen verlieren. Den Amerikanern die Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft zu übertragen sei eine an Unverschämtheit, Frechheit und Authentizitätsmangel grenzende Perversion, da die Umgebung in keiner Weise für den Sport geeignet sei. Die Anlagen wurden schlecht, die Organisation lächerlich gemacht und das ganze Unterfangen verspottet. Als die Stadien größere Besucherzahlen verzeichneten als je bei einer Weltmeisterschaft davor oder danach, und als die Gewalttätigkeit und die Zahl der Verhaftungen bei Weitem geringer waren als bei allen Veranstaltungen gleicher Größenordnung, schrieben die europäischen Medien dies der Dummheit und Ignoranz der Amerikaner zu. Natürlich seien die Amerikaner zu den Spielen gekommen, weil sie solche Veranstaltungen eben mögen. Doch fanden sie wirklich Gefallen an diesem Sport – und verstanden sie ihn überhaupt?
Amerikanisierung = Verschlechterung?
Das Konzept der „Amerikanisierung“ impliziert außerdem jegliche Art von Verschlechterung in der europäischen Arbeitswelt: Stress, aus Angst den Job zu verlieren; Ausschluss durch eine Intensivierung der Arbeit; „Flexibilität“, „Mobilität“. Im Rahmen des komplexen, sich schnell verändernden Kapitalismus ist es daher ein Synonym für alles Schlechte. Die Menschen kritisieren bei europäischen Produkten einen vermeintlichen Rückgang von Wertarbeit und Qualität und machen den durch die Amerikanisierung stark gewachsenen Wettbewerb dafür verantwortlich. Außerdem nimmt die Quantität der Arbeit konstant zu, besonders bei Managern und anderen Führungskräften. Das Oxymoron „Arbeitsurlaub“ wurde in den europäischen Sprachgebrauch übernommen und ist ein weiteres Beispiel für eine Amerikanisierung des europäischen Arbeitslebens. Wenn überhaupt, habe ich jedoch bisher selten etwas von einer vermeintlichen „Japanisierung“ oder „Chinaisierung“ des europäischen Arbeitslebens gehört.
Oder man betrachte die europäischen Diskussionen zum Hochschulwesen. Als ich in einem Spiegel Spezial-Artikel zum amerikanischen Hochschulwesen die Bedeutung des Unterrichts in Amerika und (im Gegensatz zu deutschen Hochschulen) die Ernsthaftigkeit hervorhob, mit der der Unterricht von den Studenten bewertet wird, erhielt ich zahlreiche Protestbriefe von deutschen Kollegen. „Gott sei Dank sind wir nicht in Amerika, wo Universitäten nur bessere weiterführende Schulen sind“, so ein aufgebrachter Briefschreiber. Dass es Studenten erlaubt ist, den Unterricht ihrer Professoren zu bewerten, wurde von fast allen meinen deutschen Kollegen abgelehnt und als amerikanische Unsitte betrachtet, die die Universität kommerzialisiere und schädlich für die Unabhängigkeit von Professoren und Wissenschaft sei. Der verstorbene konservative Kölner Soziologe Erwin K. Scheuch hatte schon vor Jahren die Amerikanisierung der deutschen Universitäten angeprangert. In einer Vorlesung zum Thema „Vorbild Amerika“ im Jahr 2002 behauptete er, nur etwa 50 Institutionen des amerikanischen Hochschulwesens verdienten überhaupt den Begriff „Universität“. Er sprach sich zudem gegen die Einführung amerikanischer „Credits“ an deutschen Hochschulen aus, ebenso wie gegen die Einführung von leistungsorientierten Gehältern, die seiner Ansicht nach Deutschlands „kollegiale Strukturen“ zerstörten.
Auf der anderen Seite des Ärmelkanals schrieb der Journalist Peter Kingston im Jahr 1994 in einem Artikel im Guardian, dass „die seltsamen Strukturen der amerikanischen Bubblegum Universities auch an den hiesigen Hochschulen immer geläufiger [werden]. Die enorme Bandbreite an Kursen und deren exotische Kombinationen, das Vorkauen des Stoffes im Unterricht, der übermäßige Wert, der auf Noten gelegt wird, die allgemeine Hinnahme, dass viele Studenten während des Studiums Jobs annehmen müssen“, so Kingston, „dies alles ist zu Standardeigenschaften der Universitas Britannica geworden.“ Als Anmerkung: Der Begriff Bubblegum Universities passt gut zu der vermeintlichen Absenkung der traditionellen Standards. Er kann kaum noch stigmatisierender werden.
Wie man es macht, ist es verkehrt
Es ist zu erwarten, dass europäische Konservative sich über den amerikanischen Feminismus, Multikulturalismus sowie die positive Diskriminierung und die damit verbundenen Reformbewegungen in Amerika lustig machen, die angeblich allesamt die besten Universitäten in den USA beherrschen. Es gibt allerhand Material, in dem solche Reformen unter der Rubrik „politische Korrektheit“ lächerlich gemacht werden. Wie man es macht, ist es verkehrt. Während die Europäer sich gewöhnlich über die Arroganz und den Elitismus an amerikanischen Hochschulen beschweren, werfen sie ihnen nun das genaue Gegenteil vor: dass ihre Erfolge im Namen der politischen Korrektheit durch unqualifizierte Kräfte zunichte gemacht würden.
Ein anderes Beispiel ist die vermeintliche Amerikanisierung des europäischen Rechtswesens und der europäischen Justizverwaltung, die Besorgnis erregt. Bei einem informellen Treffen mit Gewerkschaftern im Jahr 2002 behauptete die damalige deutsche Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin, Amerika besitze ein lausiges Justizsystem. Diese Ansicht ist in den intellektuellen Kreisen Europas weit verbreitet. Auch die „Anspruchsmentalität“ der Amerikaner sowie die damit vermeintlich eng verbundene Geldgier bei Gerichtsverfahren werden abschätzig beurteilt. Die mögliche Einführung von Fernsehübertragungen aus dem Gerichtssaal in Deutschland wird als Anpassung an „amerikanische Zustände“ betrachtet.
Ebenso werden europäische Feiertage angeblich mehr und mehr amerikanisiert: An Weihnachten tritt der Weihnachtsmann an die Stelle der Jungfrau Maria und des Jesuskindes, das halb-heidnische Halloween erfreut sich immer größerer Beliebtheit – und Geburtstagsfeste verdrängen die früher üblichen Feiern zum Namenstag. Selbst Wildtiere sollen sich angeblich Amerikas Einfluss beugen: In Hamburg und Wien herrscht zunehmend Verärgerung darüber, dass die von Amerika nach Europa eingeführten räuberischen schwarzen Eichhörnchen ihre friedlicheren einheimischen Artgenossen verdrängen.
Zu geil und zu puritanisch zugleich
Angesichts dieser vermeintlichen Amerikanisierungen wird in Europa ein angeblicher Verlust an Reinheit und Authentizität beklagt. Dieser Verlust wird durch einen bedrohlichen und unerwünschten Eindringling herbeigeführt, der zu allem Überfluss auch noch kulturell unterlegen ist. Amerika wird einfach alles übel genommen, und zwar sowohl das eine wie auch dessen genaues Gegenteil: Es ist gleichzeitig zu geil und zu puritanisch, zu elitär und doch auch zu egalitär, zu chaotisch, aber auch zu steif, zu weltlich und zu religiös, zu radikal und zu konservativ. Und wieder gilt: Wie man es macht, ist es verkehrt.
Die Zukunft des Anti-Amerikanismus im öffentlichen Diskurs Europas wird weiterhin eng mit dem Schicksal des europäischen Einigungsprozesses verknüpft sein, einem der ehrgeizigsten politischen Projekte der Welt. Im Grunde haben die europäischen Auffassungen über Amerika wenig mit dem tatsächlichen Amerika zu tun, sondern viel mehr mit Europa selbst. Der europäische Anti-Amerikanismus ist mittlerweile zu einem wesentlichen Bestandteil, vielleicht sogar zu einer zentralen mobilisierenden Kraft für die unaufhaltsame Entstehung einer gemeinsamen europäischen Identität geworden, die ich mir schon immer gewünscht habe und die ich auch weiterhin energisch unterstützen werde, auch wenn ich lieber eine andere mobilisierende Kraft für ihren Aufbau gesehen hätte.
Anti-Amerikanismus als europäische Währung
Durch den Anti-Amerikanismus wird bereits eine konkrete, emotional wahrgenommene und nicht intellektuell aufgebaute, europäische Identität geformt. Sie hilft den Schweden und Griechen, Finnen und Italienern dabei, ihr noch sehr schwaches Zusammengehörigkeitsgefühl nicht als „Anti-Amerikaner“, sondern als Europäer zu erfahren. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das gegenwärtig nur auf der Tatsache beruht, dass sie keine Amerikaner sind.
Der Anti-Amerikanismus wird als nützliche mobilisierende Kraft dienen, um in Europa ein Bewusstsein zu schaffen für seine neue Rolle als wachsender Machtblock, der in scharfer Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten steht. Dieses Bewusstsein muss nicht nur unter den Europäern, sondern weltweit geschaffen werden. Die feindselige Einstellung gegenüber Amerika hat bereits zu einer einheitlichen europäischen Stimme in der Weltpolitik beigetragen. Sie wird der wachsenden Macht Europas weiterhin gute Dienste leisten in der neuen globalen Konstellation der Mächte, wo ein immer durchsetzungsfähigeres Europa gemeinsam mit einem ebenso durchsetzungsfähigen China die Vereinigten Staaten in jeder möglichen Hinsicht herausfordern wird.
Gegenwärtig scheint es für die Europäer noch keine deutlichen Anreize zu geben von der feindseligen Einstellung gegenüber Amerika abzulassen. Der Anti-Amerikanismus ist alles andere als schädlich für Europa und seine Interessen. Er ist vielmehr dabei behilflich, Europa weltweit Respekt, Wohlwollen und vor allem politische Schlagkraft zu verschaffen. Der Anti-Amerikanismus ist zu einer europäischen Währung geworden, deren Wert sehr stark schwankt, die aber auch einen Jeton darstellt, den Europa mit wachsender Begeisterung einlösen wird. Durch die Kultivierung einer Amerika-feindlichen Haltung täuscht Europa die Mitgliedschaft in der globalen Opposition derer vor, die von Amerika unterdrückt werden.
Kitt für Basis und Eliten
Es ist vollkommen unklar, welche Richtung durch das Ausspielen der europäischen Karte eingeschlagen wird und welchen politischen und symbolischen Inhalt dieses Verhalten impliziert: eine negative, ausschließende und daher arrogante Entstehung einer Identität, die Hannah Arendt als „Europäismus“ bezeichnet hat, oder eine positive und universalistische Weltanschauung, die auf den gemeinsamen westlichen Werten aufbaut und dann die Basis für den weiteren Aufbau eines europäischen Staates und einer europäischen Nation schafft.
Eins steht jedoch vollkommen außer Frage: Da der Anti-Amerikanismus eine breite Basis hat und die Eliten und die breite Öffentlichkeit darin übereinstimmen, könnte er zum ersten Mal in seiner langen europäischen Geschichte eine starke politische Kraft werden, die weit über die Ambivalenzen, Antipathien und Ressentiments hinausgeht, die das intellektuelle Leben Europas seit dem 5. Juli 1776 kontinuierlich gestaltet haben.
Leicht gekürzte Fassung eines Essays, den der Autor in der Zeitschrift „The Chronicle of Higher Education“ vom 19. Januar 2007 veröffentlicht hat. Abgedruckt auch in Markovits’ gerade erschienenem Buch „Uncouth Nation: Why Europe Dislikes America“ (Princeton University Press)