Falsche Diagnose, schlechte Lösung
Die Steuerpolitik hat wahlentscheidende Bedeutung. Derzeit stehen die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die Anhebungen des Spitzensteuersatzes und andere „Grausamkeiten“ zur Diskussion. Bemerkenswert sind die Begründungen dafür. Sie beschränken sich nicht nur auf mehr Gerechtigkeit im Steuersystem, sondern reklamieren auch finanziellen Mehrbedarf in den öffentlichen Haushalten. Hinzu kommt, dass die politische Debatte zuletzt durch Steuerhinterzieher sowie die Steuervermeidungspolitik globaler Unternehmen weiteren Zündstoff erhalten hat. Es geht also um ein Aufkommensproblem und ein – mehrdimensionales – Gerechtigkeitsproblem. Bei beiden Problemen liegt den wahlkämpferischen Ankündigungen eine falsche Diagnose zugrunde.
Vor allem Länder und Gemeinden haben Probleme, ihre Haushalte auf die Schuldenbremse einzustellen, zumal sie im wesentlichen nur Ausgaben kürzen, nur sehr beschränkt Steuern erhöhen können und mit der Einrichtung von Ganztagsschulen und der U3-Kinderbetreuung einen teuren Mehraufwand zu bewältigen haben. Zudem hallen die gravierenden Steuerausfälle als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 /2010 noch nach, wiewohl die säkular niedrigen Kapitalmarktzinssätze vielfach nicht oder nur unzureichend zur Sanierung der Haushalte verwendet werden. Die Steuerquote, das Verhältnis von Steueraufkommen zum Bruttoinlandsprodukt, ist indes wieder auf das Vorkrisenniveau zurückgekehrt und wird in den kommenden Jahren weiter steigen.
Nur in Belgien zahlen Ledige mehr
Übersehen wird, dass das Steueraufkommen in den vergangenen Jahren zunehmend mit Aufgaben belastet wurde, die zuvor über Ausgaben wahrgenommen wurden. Der größte Posten ist das Kindergeld mit einem Volumen von gut 38 Milliarden Euro jährlich: Seit 1996 wird es als Abzug von der Steuerschuld gewährt und hält so die Steuerquote künstlich niedrig. Würde das Kindergeld nicht mit der Einkommenssteuer saldiert, so hätte die Steuerquote im vergangenen Jahr 24,2 Prozent betragen. Dieser Wert wurde zuletzt in den siebziger Jahren bei der Einführung des Kindergelds erreicht. Insofern darf die Behauptung, die Steuerquote sei extrem niedrig, getrost ins Reich der Märchen verbannt werden. Bezieht man weitere steuerliche Zulagen und quasi-steuerliche Belastungen der Steuerpflichtigen wie die EEG-Umlage in die Rechnung mit ein, so erreicht die volkswirtschaftliche Steuerquote einen Wert von deutlich über 25 Prozent und damit einen der höchsten Werte der Nachkriegszeit. Trotz Abschaffung der Eigenheimzulage betragen Kindergeld und weitere Zulagen immer noch 22 Prozent des Aufkommens der Einkommenssteuer.
Dass die Steuern aufgrund hoher Abzugsbeträge mit Umverteilungscharakter weniger ergiebig sind, hinterlässt Spuren auch in der Steuerbelastung von Individuen beziehungsweise Haushalten. So ermittelt die OECD für den alleinstehenden deutschen Durchschnittsverdiener eine Steuerbelastung von 18,7 Prozent, die fünfthöchste Quote unter den Industrieländern, während der Durchschnittsalleinverdiener mit zwei Kindern bei einer Einkommenssteuerbelastung von minus 0,6 Prozent sogar noch Geld herausbekommt. Nur in Tschechien und der Slowakei ist die Besteuerung dieses Steuerzahlertyps noch vorteilhafter.
Berücksichtigt man die Belastung durch Sozialversicherungsbeiträge mit, so zahlte der ledige Steuerzahler mit Durchschnittseinkommen im Jahr 2010 genau 39,2 Prozent seines Einkommens an Abgaben, der Alleinverdiener mit zwei Kindern hingegen 19,6 Prozent. Nur in Belgien werden die Einkommen lediger Steuerzahler höher belastet, während der deutsche Alleinverdiener mit zwei Kindern auf Platz 11 unter 26 Ländern landet, also etwa im Durchschnitt liegt. Die Diskriminierung von hinzuverdienenden Ehefrauen, ein weiteres Problem der deutschen Einkommenssteuer, lässt sich auch an einer wachsenden Gesamtabgabenbelastung auf 25,7 Prozent ablesen, wenn zum Durchschnittseinkommen ein Zusatzeinkommen von 33 Prozent desselben kommt; dieser Haushaltstyp wird nur noch in 6 dieser 26 Länder höher besteuert als in Deutschland.
Ein weiteres Aufkommens- und Gerechtigkeitsproblem der deutschen Einkommenssteuer liegt in den besonderen Abzugsmöglichkeiten, die erst bei höheren Einkommen greifen. Unstreitig tragen die höheren Einkommen nicht zuletzt wegen des progressiven Steuertarifs stärker zum Steueraufkommen bei als die niedrigeren Einkommen. Rund 50 Prozent des Aufkommens der Einkommenssteuer wurden 2007 von Steuerpflichtigen mit steuerlichen Einkünften von mehr als 70.000 Euro bezahlt.
Indes heißen steuerliche Einkünfte von 70.000 Euro nicht, dass der betreffende Haushalt tatsächlich nur ein Einkommen in dieser Höhe hat. Denn es gibt im deutschen Steuerrecht, auch nachdem einige Abzugsmöglichkeiten vor allem für Lohnsteuerzahler abgeschafft oder begrenzt wurden, immer noch unendlich viele Abzugsmöglichkeiten für Wohlhabende, die sich diese Ausgaben „leisten“ können. Hier sind Ausgaben zu nennen, mit denen bestimmte Zwecke gefördert werden sollen, zum Beispiel für den Erhalt von Häusern mit Denkmalstatus. Dabei gefällt sich die Politik immer wieder darin, das Steuerrecht für Vergünstigungen zu missbrauchen, die da nicht hineingehören. Immerhin wehren sich mittlerweile die Länder im Bundesrat dagegen, dass sie und ihre Gemeinden Förderprogramme des Bundes mitfinanzieren sollen.
Riesenräder und Luxushotels
Für das Steueraufkommen kritischer sind echte Privilegien, bei denen bestimmte Finanzanlageprodukte zu unmittelbaren steuerlichen Abzügen führen. Denn steuerlich ist es ein Unterschied, ob sich ein Einkommenssteuerpflichtiger eine Aktie von einem Werftunternehmen oder einen Anteil an einem Schiff kauft, das von der gleichen Werft (meist aber von koreanischen Werften, also noch nicht einmal von deutscher Hand) gebaut wird. Werftaktien werden aus versteuertem Einkommen angeschafft, die Dividenden und später vielleicht realisierten Spekulationsgewinne werden der Abgeltungsteuer unterworfen, ohne dass noch ein Werbungskostenabzug erlaubt ist, wobei die Dividende zuvor schon mit der Körperschaftssteuer belastet war. Der Anteil am Schifffonds hingegen, den es im Übrigen erst ab bestimmten finanziellen Größenordnungen gibt, wird als steuerliche Investition behandelt, kann nach bestimmten Regeln (wie auch die Erwerbungskosten) vom besteuerbaren Einkommen abgezogen werden und mindert somit die Einkommenssteuer unmittelbar bei Erwerb im Jahr der Anschaffung.
Auch mittels der Wiederanlage der Rückschüttungen lassen sich Steuerzahlungen steuerfrei halten. Bei Wohlhabenden endet dieses Steuersparmodell mit dem Tod, wo nicht mehr die Einkommenssteuer, sondern die Erbschaftssteuer „zugreift“. Hier mindern aber zumindest bei nahen Verwandten Steuerfreibeträge und die günstigeren Steuersätze der Erbschaftssteuer das Steueraufkommen; noch geringer wird die Steuerbelastung, wenn die Finanzanlagen zuvor in ein erbschaftssteuerlich (noch) begünstigtes Unternehmen eingebracht werden, das dann nur die dort anfallende Lohnsumme sieben Jahre lang nicht reduzieren darf, um der Steuer zu entgehen. Auf die gleiche Weise werden neben Schiffen auch Luxushotels, Riesenräder, Flugzeuge und andere Großobjekte gefördert, die in vielen Fällen dann wieder von global aufgestellten Großunternehmen genutzt werden. Damit wären weitere Profiteure derartiger Steuersparmodelle genannt, die es aber auch noch ärger treiben.
Bei der jüngsten Diskussion um Steueraufkommen und Steuergerechtigkeit stehen eben diese Unternehmen im Zentrum, wobei man ihnen nur vorwerfen kann, dass sie das Unternehmenssteuerrecht verschiedener Nationalstaaten, darunter auch europäischer Hochsteuerländer, zumindest im Regelfall völlig legal durch konzerninterne Transaktionen so miteinander kombinieren, dass sie nur noch minimale Steuerbeträge in verschiedene Staatskassen abführen. Dass der Konzerngewinn eines deutschen Global Players nur noch einem effektiven Steuersatz von unter 1 Prozent unterworfen sein soll, erscheint jedem Gerechtigkeitsgefühl zuwider zu laufen. Entsprechend armselig hat sich das Aufkommen der Körperschaftssteuer entwickelt: Mit knapp 17 Milliarden Euro war es im Jahr 2012 trotz Rekordgewinnen deutscher Unternehmen kaum höher als 1985 oder 1990.
Lange konzentrierte sich die Debatte um die internationale Unternehmensbesteuerung auf die Unterschiede zwischen den nationalen Körperschaftssteuersätzen, die 2011 zwischen 8,5 Prozent in der Schweiz und 35 Prozent in den USA lagen. Deutschland lag mit einem Satz von 15 Prozent auf den Gesamtgewinn der Unternehmen in der Gruppe der niedrigen Steuersätze – nach der Schweiz, Bulgarien und Zypern und Irland. Nimmt man weitere Unternehmenssteuern dezentraler Ebenen wie die deutsche Gewerbesteuer hinzu, so werden Unternehmensgewinne in Deutschland mit knapp 30 Prozent besteuert; nur 8 von 32 Ländern aus der OECD-Analyse wiesen 2011 höhere Steuersätze auf. Seit dem Einsetzen der Globalisierung Mitte der achtziger Jahre existieren für das Kapital keine nationalen Grenzen mehr. Infolgedessen wurden die Körperschaftssteuersätze weltweit gesenkt. Der Politik blieb nur die Wahl, Bemessungsgrundlagen und vielfach auch Arbeitsplätze zu verlieren – oder eben die Steuersätze zu reduzieren.
Aber schon vor dreißig Jahren wurden die großen Steuerersparnisse nicht durch Steuersatzarbitrage gemacht, sondern durch die geschickte Verlagerung von Unternehmensteilen und Gewinnen über Grenzen hinweg. Der Grund dafür ist, dass sich die nationalen Gesetze zu den Unternehmenssteuern massiv unterscheiden, was die Verrechnungsmöglichkeiten von Gewinnen aus mehreren Ländern, die Besteuerung von Holding-Gesellschaften und Betriebsstätten sowie von Gewinnbestandteilen betrifft. Werden diese Verschiebemöglichkeiten nun noch kombiniert mit verschachtelten Zwischengesellschaften, die in Steueroasen sitzen, dann zahlen diese Unternehmen mehr Honorare für Steuerberater und Steuerlobbyisten als Unternehmenssteuern. Denn von diesen komplexen steuerrechtlichen Konstruktionen profitieren mittlerweile ganze Heerscharen von Beratern und Finanzinstitutionen. Eine unwürdige „Umwegproduktion“ (Friedrich August von Hayek), die die Effizienz von sozialen Marktwirtschaften ökonomisch und moralisch unterminiert!
Abzugsmöglichkeiten radikal einschränken
Dabei darf nicht übersehen werden, dass diese Konstruktionen von nationalen Regierungen geschaffen wurden, die nach eigenem Bekunden miteinander „befreundet“ und zum Teil sogar in Wirtschafts- und Währungsunionen verbunden sind. Zwar thematisiert die OECD seit etwa fünf bis acht Jahren das „aggressive tax planning“ von Unternehmen, geschehen ist bislang allerdings wenig. Dies gilt sowohl für das, was nationale Regierungen selbständig tun können, als auch für die Maßnahmen, bei denen die Staaten koordiniert vorgehen müssten. Noch nicht einmal in der Finanz- und Wirtschaftskrise und bei den Milliardenhilfen durch Euro-Rettungsschirme wurde thematisiert, dass viele der Schieflagen auch von Banken und Finanzinstitutionen – und im Zweifel auch die krisenauslösenden Immobilienblasen – ihre tiefere Ursache in den Asymmetrien und kreativen Nutzungen des internationalen Unternehmenssteuerrechts haben.
Was ist vor diesem Hintergrund zu tun? Steuermehreinnahmen können erzielt werden durch eine hoffentlich weiterhin gute Wirtschaftsentwicklung, von Steuerhinterziehern, die mittels Steuer-CDs in die Legalität zurückgetrieben werden sowie durch nationale und international koordinierte Reformen des Unternehmenssteuerrechts. Mehr noch als eine Bankenunion wird eine einheitliche Bemessungsgrundlage für in der EU grenzüberschreitend tätige Unternehmen benötigt, die dann nach der Lohnsumme oder den Wertschöpfungsanteilen national zerlegt wird. Plötzlich hätten unterschiedliche Körperschaftssteuersätze kaum noch Bedeutung für die Wahl der Unternehmensstandorte.
Ein Steuermehraufkommen und mehr Steuergerechtigkeit würden in Deutschland auch erzielt, wenn man die Abzugsmöglichkeiten von der Bemessungsgrundlage der Einkommenssteuer radikal einschränkt – sowohl bei den verschiedenen steuerlichen Förderungen, als auch was die Verwendung von Ersparnissen in Steuersparmodellen angeht, die de facto nur Geldanlagen und keine unternehmerische Tätigkeit sind. Davon profitieren ohnehin nur die Reichen mit hohen Grenzsteuersätzen, die man mit einer Erhöhung der Spitzensteuersätze sogar noch „belohnen“ würde. Durch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer würden die steuersparenden Finanzanlagenjongleure gar nicht getroffen, da sie bei diesen Anlagen kaum über Nettovermögen verfügen. Zahlen würde der „dumme Mittelstand“, der nicht ins Ausland ausweichen kann und auch keine Möglichkeiten hat, sein Portfolio, das zum großen Teil auch noch der ergänzenden Alterssicherung dient, steuerlich zu optimieren. Bei Verzinsungen von derzeit oft nur 1 bis 2 Prozent käme eine Vermögenssteuer von 1 Prozent einer zusätzlichen Einkommenssteuer von mehr als 50 Prozent gleich. Und realiter müssten auf Inflationsverluste im Vermögen noch Steuern gezahlt werden. Das kann aber nicht gerecht sein.
Steuergerechtigkeit setzt in allen modernen Steuersystemen der Welt bei der Bemessungsgrundlage der Einkommenssteuern natürlicher Personen und juristisch verfasster Unternehmen an, und nur selten beim Steuertarif oder Steuersatz. Schade, dass Steuerpolitiker aller Parteien dies im Wahlkampf ignorieren.