Für welche soziale Idee steht die SPD?
Kommt der Sozialstaat infolge der Staatsschuldenkrise unter die Räder? In Italien, Spanien oder Portugal ist diese Gefahr real. Dort kürzen die Regierungen Rentenleistungen und Sozialausgaben, um die öffentlichen Haushalte zu sanieren – und so die Finanzmärkte zu beruhigen. Noch ist Deutschland eine Insel der Glückseligen: Die Wirtschaft brummt, die Steuereinnahmen wachsen. Aber man braucht keine Kristallkugel, um vorauszusagen, dass im Zuge der Sparpolitik der nächsten Jahre auch bei uns die Diskussion über die künftige Rolle der Wohlfahrtsstaatlichkeit neu entfachen wird. Dass die Verfechter des Nachtwächterstaates versuchen werden, die Gunst der Stunde zu nutzen, zeigt das Beispiel Großbritannien: Nach dem Motto „Never waste a good crisis“ hat der konservative britische Premierminister David Cameron seinem Land einen strikten Austeritätskurs mit Kürzungen bei Universitäten, Schulen, Transferleistungen und Sozialprogrammen verordnet. Die soziale Schieflage beim aktuellen „Sparprogramm“ der Bundesregierung in Höhe von 80 Milliarden Euro ist ein Vorgeschmack auf das, was auch in Deutschland droht.
Nur Kritik an Schwarz-Gelb reicht nicht
Wer die anstehenden ideenpolitischen Auseinandersetzungen gewinnen will, muss daher gut vorbereitet sein. Doch gerade in ihrem traditionell stärksten Kompetenzfeld scheint die deutsche Sozialstaatspartei schlechthin derzeit programmatisch orientierungslos. Denn während die SPD längst neue finanz- und steuerpolitische Konzepte vorgelegt hat, konzentriert sie sich in der Sozialpolitik vornehmlich auf Kritik an der schwarz-gelben Bundesregierung. An eigenen sozialpolitischen Reformvorschlägen hat sie nur wenig im Gepäck, außer einigen Evergreens wie den – berechtigten – Forderungen nach einem gesetzlichen Mindestlohn und der Bürgerversicherung. Die beschlossene Rücknahme zentraler Reformschritte aus der sozialdemokratischen Regierungszeit beim Arbeitslosengeld I und bei der Rente mit 67 entwickelte keine Strahlkraft. Sie diente in erster Linie dazu, den innerparteilichen Burgfrieden wiederherzustellen.
Der Sozialstaat als Produktivfaktor
Drei Gründe sprechen dagegen, diesen sozialpolitischen Retrokurs, etwa beim Thema Rente, weiterzuverfolgen: Erstens wäre es ein strategischer Fehler, weil die SPD an der Regierung viele Maßnahmen schon aus Kostengründen gar nicht verwirklichen könnte. Zweitens wäre es taktisch verkehrt, weil die Bürger um die beschränkten finanziellen Handlungsoptionen wissen. Und drittens wäre es inhaltlich falsch, weil nicht die Funktionalität des Sozialstaates angesichts veränderter gesellschaftlicher Bedingungen im Mittelpunkt der sozialpolitischen Programmatik stünde, sondern die Besserstellung bestimmter – ohnehin privilegierter – Bevölkerungsgruppen wie der Rentner und der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
Die Partei würde sich extrem angreifbar machen. Die Sozialdemokraten werden den Sozialstaat aber nur verteidigen können, wenn sie die Frage nach der Effektivität des Sozialstaates stärker in den Mittelpunkt rücken und zugleich seine Rolle als Produktivfaktor betonen. Ein gut funktionierender Sozialstaat und wirtschaftliche Dynamik sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander – dieses Leitmotiv haben Sozialdemokraten in den vergangenen Jahren oft genug im Munde geführt. Jetzt kommt es darauf an, es als praktischen Handlungsleitfaden wirklich ernstzunehmen. Denn auch das Gegenteil stimmt: Ein schlecht funktionierender Sozialstaat und wirtschaftlicher Niedergang bedingen einander.
Bereits Mitte der neunziger Jahre haben progressive Sozialdemokraten europaweit die Zeichen der Zeit erkannt und – in unterschiedlicher Intensität – das Paradigma vom social investment state zu ihrem Leitbild gemacht. Doch was genau ist mit dem Sozialinvestitionsstaat gemeint? Es geht um einen Staat, der gezielt in das gesellschaftliche Humanvermögen investiert, um zugleich ökonomischen Erfolg und sozialstaatliche Ziele – Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Kohäsion, Integration, Vertrauen – zu verwirklichen. Im besten Fall entsteht auf diese Weise eine kontinuierliche Rückkopplung zwischen moderner Sozialstaatlichkeit und produktiver Ökonomie. Ein solches positives Wechselverhältnis ist aber nur möglich, wenn sich der Wohlfahrtsstaat an neue soziale Risiken und Bedürfnisse der postindustriellen Gesellschaft anpasst. Hierzu gehören atypische Beschäftigung, Langzeitarbeitslosigkeit, die Vereinbarkeit von Kindern und Arbeit oder die fehlende Integration von Einwanderern.
Es geht um mehr als nur Schutz
Nicht zuletzt die extreme Jugendarbeitslosigkeit in vielen europäischen Ländern führt es uns eindringlich vor Augen: Der Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts muss über seine traditionelle Schutzfunktion hinausgehen und sich an dem Ziel messen lassen, mehr Lebens- und Beschäftigungschancen für möglichst viele Menschen zu schaffen. Wer glaubt, Deutschland habe angesichts der historisch niedrigen Arbeitslosenquote und der drittgeringsten Jugendarbeitslosigkeit in Europa seine Hausaufgaben bereits gemacht, der irrt. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Mehr als jeder Dritte der hier lebenden Menschen ohne deutschen Pass im Alter zwischen 25 und 34 Jahren hat keinen Berufsabschluss. Es läuft etwas grundsätzlich schief in Deutschland. Auch bei uns tickt eine gesellschaftliche Zeitbombe.
Deshalb muss der Sozialversicherungsstaat ergänzt – nicht ersetzt! – werden durch öffentliche soziale Dienstleistungen wie qualitativ hochwertige Betreuungseinrichtungen, aktive Arbeitsmarktinstitutionen oder gute Pflegeeinrichtungen für Ältere. Parallel dazu kommt es darauf an, die Sozialversicherungen so umzubauen, dass flexiblen Berufsverläufen stärker Rechnung getragen wird, etwa durch die versicherungstechnische Aufwertung von Halbtagsstellen. Wie der dänische Soziologe Gøsta Esping-Andersen herausarbeitete, ist gerade auch der „konservative“ deutsche Wohlfahrtsstaat in diesem Sinne weiterhin reformbedürftig, weil viele seiner Strukturen immer noch auf das Idealbild des vollzeitbeschäftigten männlichen Alleinernährers ausgerichtet sind und Frauen systematisch benachteiligen.
Die „Aktivgesellschaft“ und ihre Gegner
Doch dieser sozialpolitische Ansatz stößt nicht nur bei Liberalen und Konservativen auf Widerstand. Auch Intellektuelle im sozialdemokratischen Umfeld stellen ihn in Frage – wenn auch aus vollkommen unterschiedlichen Richtungen. So kritisiert der Jenaer Soziologe Stephan Lessenich in dem jüngst vom Thüringer Wirtschaftsminister Matthias Machnig herausgegebenen Buch Welchen Fortschritt wollen wir?, die europäische Sozialdemokratie sei seit den neunziger Jahren dem „neuen Geist des Kapitalismus“ erlegen und habe in der Sozialpolitik das ideologisch vorherrschende Marktparadigma ungeprüft übernommen. Nach Lessenichs Lesart geht es den sozialdemokratischen Verfechtern des investiven Sozialstaates allerdings – und das ist besonders wichtig – gerade nicht um Sozialabbau, sondern vielmehr um eine neue Logik sozialstaatlicher Intervention, mithin um eine „Neuerfindung des Sozialen“: Habe der traditionelle Sozialstaat in erster Linie der Vergesellschaftung individueller Risiken gedient und die Marktabhängigkeit der Arbeitnehmer verringert, stünden nun die Befähigung aller Bürger zur Marktteilnahme in der „Aktivgesellschaft“, außerdem die Eigenverantwortung des Einzelnen für die „Nichtbelastung der Versichertengemeinschaft“ im Zentrum – und das alles auf dem Rücken der „Subjekte“.
Sozialversicherungsstaat reloaded?
Hinter Lessenichs Radikalkritik steht ein Bild von der gesellschaftlichen Bedeutung von Arbeit und der Rolle der Wirtschaft in der Gesellschaft, das herkömmlichen sozialdemokratischen Vorstellungen deutlich widerspricht. So fordert er ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle, flankiert von einer Wirtschaftspolitik, die auf sinkendes Wachstum und Selbstbeschränkung setzt. Aus sozialdemokratischer Sicht hingegen ist in einer Arbeitsgesellschaft Beschäftigung das beste Mittel für soziale Inklusion und der Sozialstaat ohne eine starke Wirtschaft nicht aufrechtzuerhalten. Dennoch: Richtigerweise erinnert uns Lessenich daran, dass die Sozialstaatsreformer der Regierung Schröder vor allem auch rhetorisch gelegentlich übers Ziel hinausschossen, etwa wenn es um „Ich-AGs“ ging oder den Zwang, auch solche Jobs anzunehmen, die der eigenen Qualifikation nicht entsprechen.
Während Lessenich den Sozialversicherungsstaat zugunsten universalistischer Modelle langfristig faktisch abschaffen will, fordert im Gegensatz dazu Ernst Hillebrand in der vergangenen Ausgabe der Berliner Republik, den Sozialversicherungsgedanken zu erneuern und sozialstaatliche Leistungen wieder stärker an die erbrachten Beiträge zu knüpfen: „Verschiedene Sozialstaatsreformen der vergangenen Jahre haben – oft genug unter sozialdemokratischer Prämisse – die Ansprüche der Bezahler relativiert und jene von Nicht-Bezahlern im Namen universalistischer Sozialstaatsprinzipien gestärkt. Die von der neoliberalen Umverteilung von unten nach oben ohnehin gebeutelten Durchschnittsarbeitnehmer werden bei diesem Spiel nicht gut gestellt.“ Zusätzlich hätten „verhärtete Sozialtransfermilieus“ dazu beigetragen, die Gesellschaft in Leistungsbezieher und -bezahler zu spalten. Auf diese Weise sei das Prinzip der Reziprozität unterlaufen worden.
Indirekt richtet sich auch Hillebrands Ansatz gegen das Leitbild des vorsorgenden Sozialstaats. Zum einen weil höhere Sozialversicherungsleistungen viel Geld kosten, das dann anderswo fehlt; zum anderen weil sie falsche Anreize setzen und Beschäftigungschancen vermindern können; schließlich auch deshalb, weil Hillebrands Vorschlag gerade nicht auf die Lösung des diagnostizierten Hauptproblems selbst zielt, nämlich die (Re-)Inklusion des gesellschaftlich abgehängten Prekariats. Im Gegenteil würden sich die materiellen und rechtlichen Unterschiede zwischen den Insidern und den Outsidern auf dem Arbeitsmarkt sogar noch verschärfen. Das gesellschaftliche Solidaritätsgefühl würde folglich eben nicht wachsen, sondern abnehmen.
Wo „Weihnachtsgeld“ ein Fremdwort ist
Darüber hinaus macht Hillebrand seine Rechnung ohne die wachsende Zahl hart arbeitender, häufig junger Freiberufler, für welche die Vokabeln „Weihnachtsgeld“, „Rentenansprüche“ und „Arbeitslosengeld“ schlicht Fremdwörter sind. Diese Gruppe finanziert den Wohlfahrtsstaat, den viele von ihnen als „Sicherheitsnetz für alte Leute“ (Alfred Gusenbauer) wahrnehmen, mit ihren Steuerleistungen mit, ohne dabei eigene Ansprüche zu erwerben. Ihre Bereitschaft zur Solidarität lässt sich nur aufrechterhalten, wenn der Sozialstaat in die Zukunft investiert, statt große Bevölkerungsteile bloß zu alimentieren. Aus diesem Grund sollte es der SPD nicht um den Ausbau des Sozialversicherungsstaates gehen, sondern um dessen Flankierung mit investiver Sozialpolitik.
Die SPD muss sich entscheiden
Die SPD muss sich also entscheiden: Will sie ihren sozialpolitischen Schwerpunkt auf die Verteidigung „vergangener Errungenschaften“ (Tony Judt) legen oder den investiven Sozialstaat selbstbewusst weiterentwickeln? Ohne diesen Klärungsprozess droht eine ähnlich widersprüchliche Politik, wie sie die zwischen Betreuungsgeld und Ausbau der Kinderbetreuung schwankende Union betreibt. Mit Maßnahmen wie den Hartz-Gesetzen, dem Ausbau der Kinderbetreuung oder dem Programm „Soziale Stadt“ hat die SPD in ihrer Regierungszeit wichtige Weichen in Richtung des vorsorgenden Sozialstaats gestellt. Diesen Weg fortzusetzen wird Geld kosten – aber die Kapitalrendite ist hoch, besonders in Zeiten schrumpfender Kinderzahlen.
Auch die aktuelle Krise selbst liefert gute Argumente für einen handlungsfähigen Wohlfahrtsstaat. Wie der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman kürzlich in seinem Blog ausführte, kommen diejenigen europäischen Staaten, die über gut ausgebaute Wohlfahrtssysteme verfügen, heute wirtschaftlich deutlich besser über die Runden als die Länder mit nur rudimentären Sozialsystemen: „Schweden mit seinen bekanntlich hohen Sozialleistungen geht es hervorragend; das Land ist eines der wenigen, in denen das Bruttoinlandsprodukt heute höher ausfällt als vor der Krise. Und die sozialstaatlichen Aufwendungen als prozentualer Anteil am Nationaleinkommen lagen vor der Krise in allen Ländern, die heute in Schwierigkeiten sind, niedriger als in Deutschland, geschweige denn in Schweden.“ Es kann kein Zufall sein, dass Schweden als Vorzeigeland des investiven Sozialstaates gilt.
Aus diesem Grund hat Deutschland übrigens ein elementares Interesse daran, dass andere europäische Staaten ähnliche Aktivierungsstrategien verfolgen – gerade die finanziell in Not geratenen Länder mit hoher Arbeitslosigkeit. Der ehemalige belgische Arbeitsminister Frank Vandenbroucke schlägt deshalb einen „Social Investment Pact“ vor, mit dem die EU ihre Mitgliedsstaaten dabei unterstützen könnte, mehr soziale Investitionen zu tätigen. So sollen die Europäischen Strukturfonds und die Europäische Investitionsbank entsprechende Maßnahmen stärker fördern als bisher. Dieser Plan verdient Aufmerksamkeit. Europas Sozialdemokraten müssen dem einseitigen Spardiktat der mehrheitlich konservativen europäischen Regierungen einen eigenen Zukunftsentwurf entgegensetzen, der strikte Haushaltsdisziplin, moderne Wirtschaftspolitik und soziale Investitionen verbindet. «