Für welche soziale Idee steht die SPD?

Ausgerechnet bei ihrem Leib- und Magenthema Sozialpolitik steht die deutsche Sozialdemokratie derzeit ohne programmatische Orientierung da. Die Partei muss dringend klären, was sie will und für wen - sonst gibt es 2013 ein böses Erwachen

Kommt der Sozialstaat infolge der Staats­schuldenkrise unter die Räder? In Italien, Spanien oder Portugal ist diese Gefahr real. Dort kürzen die Regierungen Ren­ten­leistungen und Sozialausgaben, um die öffentlichen Haushalte zu sanieren – und so die Finanzmärkte zu beruhigen. Noch ist Deutschland eine Insel der Glückseligen: Die Wirtschaft brummt, die Steuereinnahmen wachsen. Aber man braucht keine Kristallkugel, um vorauszusagen, dass im Zuge der Spar­po­litik der nächsten Jahre auch bei uns die Diskussion über die künftige Rolle der Wohlfahrtsstaatlichkeit neu entfachen wird. Dass die Verfechter des Nacht­wäch­ter­staates versuchen werden, die Gunst der Stunde zu nutzen, zeigt das Beispiel Großbritannien: Nach dem Motto „Never waste a good crisis“ hat der konservative britische Pre­mierminister David Cameron seinem Land einen strikten Austeritäts­kurs mit Kürzungen bei Universitäten, Schulen, Transferleistungen und Sozial­pro­­­gram­men verordnet. Die soziale Schief­lage beim aktuellen „Sparpro­gramm“ der Bun­desre­gie­rung in Höhe von 80 Mil­liar­den Euro ist ein Vorgeschmack auf das, was auch in Deutschland droht.

Nur Kritik an Schwarz-Gelb reicht nicht

Wer die anstehenden ideenpolitischen Auseinandersetzungen gewinnen will, muss daher gut vorbereitet sein. Doch gerade in ihrem traditionell stärksten Kom­­petenzfeld scheint die deutsche So­zial­­staats­­partei schlechthin derzeit pro­gram­matisch orientierungslos. Denn während die SPD längst neue finanz- und steuerpolitische Konzepte vorgelegt hat, konzentriert sie sich in der Sozialpolitik vornehmlich auf Kritik an der schwarz-gelben Bundesregierung. An eigenen sozialpolitischen Reformvorschlägen hat sie nur wenig im Gepäck, außer einigen Evergreens wie den – berechtigten – For­de­rungen nach einem gesetzlichen Min­dest­lohn und der Bürgerversicherung. Die beschlossene Rücknahme zentraler Reformschritte aus der sozialdemokratischen Regierungszeit beim Arbeitslosen­geld I und bei der Rente mit 67 entwickelte keine Strahlkraft. Sie diente in erster Linie dazu, den innerparteilichen Burg­frieden wiederherzustellen.

Der Sozialstaat als Produktivfaktor

Drei Gründe sprechen dagegen, diesen sozialpolitischen Retrokurs, etwa beim The­ma Rente, weiterzuverfolgen: Erstens wäre es ein strategischer Fehler, weil die SPD an der Regierung viele Maß­nahmen schon aus Kostengründen gar nicht ver­wirk­­lichen könnte. Zweitens wäre es taktisch ver­kehrt, weil die Bürger um die beschränk­ten finanziellen Hand­lungs­­­­opti­o­nen wis­­­sen. Und drittens wäre es inhal­t­lich falsch, weil nicht die Funk­tio­na­lität des Sozialstaates angesichts verän­derter gesellschaftlicher Bedingun­gen im Mittelpunkt der sozialpolitischen Pro­gram­­matik stünde, sondern die Bes­ser­stellung bestimmter – ohnehin privi­le­­gier­ter – Bevölkerungs­gruppen wie der Rentner und der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.

Die Partei würde sich extrem angreifbar machen. Die Sozialdemokraten werden den Sozialstaat aber nur verteidigen können, wenn sie die Frage nach der Effekti­vität des Sozialstaates stärker in den Mittelpunkt rücken und zugleich seine Rolle als Produktivfaktor betonen. Ein gut funktionierender Sozialstaat und wirtschaftliche Dynamik sind keine Ge­gensätze, sondern bedingen einander – dieses Leitmotiv haben Sozialdemo­kra­ten in den vergangenen Jahren oft genug im Munde geführt. Jetzt kommt es darauf an, es als praktischen Handlungsleit­fa­den wirklich ernstzunehmen. Denn auch das Gegenteil stimmt: Ein schlecht funktionierender Sozialstaat und wirtschaftlicher Niedergang bedingen einander.

Bereits Mitte der neunziger Jahre haben progressive Sozialdemokraten europaweit die Zeichen der Zeit erkannt und – in unterschiedlicher Intensität – das Para­digma vom social investment state zu ihrem Leitbild gemacht. Doch was genau ist mit dem Sozialinvestitionsstaat gemeint? Es geht um einen Staat, der gezielt in das gesellschaftliche Human­vermögen investiert, um zugleich ökonomischen Erfolg und sozialstaatliche Ziele – Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Kohäsion, Integra­tion, Vertrauen – zu verwirklichen. Im besten Fall entsteht auf diese Weise eine kontinuierliche Rückkop­plung zwischen moderner Sozialstaatlich­keit und produktiver Ökonomie. Ein solches positives Wechselverhältnis ist aber nur möglich, wenn sich der Wohlfahrts­staat an neue soziale Risiken und Bedürf­nisse der postindustriellen Gesellschaft anpasst. Hier­zu gehören atypische Beschäftigung, Lang­zeitarbeitslosigkeit, die Vereinbar­keit von Kindern und Arbeit oder die fehlende In­te­gration von Einwanderern.

Es geht um mehr als nur Schutz

Nicht zuletzt die extreme Jugend­ar­beits­losigkeit in vielen europäischen Län­dern führt es uns eindringlich vor Augen: Der Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts muss über seine traditionelle Schutz­funk­tion hinausgehen und sich an dem Ziel messen lassen, mehr Lebens- und Be­schäf­ti­gungs­chancen für möglichst viele Men­schen zu schaffen. Wer glaubt, Deutsch­land habe angesichts der historisch nie­­d­ri­gen Ar­beitslosenquote und der drittgeringsten Jugendarbeits­losig­keit in Eu­ro­pa seine Hausaufgaben bereits gemacht, der irrt. Ein Beispiel zur Ver­deut­lichung: Mehr als jeder Dritte der hier lebenden Menschen ohne deutschen Pass im Alter zwischen 25 und 34 Jahren hat keinen Berufs­ab­schluss. Es läuft etwas grundsätzlich schief in Deutschland. Auch bei uns tickt eine gesellschaftliche Zeitbombe.

Deshalb muss der Sozialversicherungs­staat ergänzt – nicht ersetzt! – werden durch öffentliche soziale Dienstleis­tun­gen wie qualitativ hochwertige Betreu­ungs­ein­richtungen, aktive Arbeitsmarkt­institu­tionen oder gute Pflegeeinrichtungen für Ältere. Parallel dazu kommt es darauf an, die Sozialversicherungen so umzubauen, dass flexiblen Berufsverläufen stärker Rechnung getragen wird, etwa durch die versicherungstechnische Aufwertung von Halbtagsstellen. Wie der dänische So­ziologe Gøsta Esping-Andersen herausarbeitete, ist gerade auch der „konservative“ deutsche Wohlfahrtsstaat in diesem Sinne weiterhin reformbedürftig, weil viele seiner Strukturen immer noch auf das Ideal­bild des vollzeitbeschäftigten männlichen Alleinernährers ausgerichtet sind und Frauen systematisch benachteiligen.

Die „Aktivgesellschaft“ und ihre Gegner

Doch dieser sozialpolitische Ansatz stößt nicht nur bei Liberalen und Konserva­tiven auf Widerstand. Auch Intel­lektu­elle im sozialdemokratischen Umfeld stellen ihn in Frage – wenn auch aus vollkommen unterschiedlichen Richtungen. So kritisiert der Jenaer Soziologe Stephan Lessenich in dem jüngst vom Thüringer Wirtschaftsminister Matthias Machnig herausgegebenen Buch Welchen Fort­schritt wollen wir?, die europäische Sozial­de­mokratie sei seit den neunziger Jahren dem „neuen Geist des Kapitalis­mus“ erlegen und habe in der Sozialpolitik das ideo­logisch vorherrschende Markt­para­dig­ma ungeprüft übernommen. Nach Lesse­nichs Lesart geht es den sozialdemokratischen Verfechtern des investiven Sozial­staates allerdings – und das ist besonders wichtig – gerade nicht um Sozial­abbau, sondern vielmehr um eine neue Logik sozialstaatlicher Interven­tion, mithin um eine „Neuerfindung des Sozia­len“: Habe der traditionelle Sozial­staat in erster Linie der Vergesell­schaf­tung individueller Risiken gedient und die Markt­ab­hängigkeit der Arbeit­neh­mer verringert, stünden nun die Befähi­gung aller Bürger zur Marktteil­nahme in der „Aktiv­gesell­schaft“, außerdem die Eigenver­ant­wor­tung des Einzelnen für die „Nicht­be­lastung der Versicherten­ge­meinschaft“ im Zentrum – und das alles auf dem Rücken der „Subjekte“.

Sozialversicherungsstaat reloaded?

Hinter Lessenichs Radikalkritik steht ein Bild von der gesellschaftlichen Bedeu­tung von Arbeit und der Rolle der Wirt­schaft in der Gesellschaft, das herkömmlichen sozialdemokratischen Vorstel­­lun­­gen deutlich widerspricht. So fordert er ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle, flankiert von einer Wirtschaftspolitik, die auf sinkendes Wachstum und Selbstbe­schrän­kung setzt. Aus sozialdemokratischer Sicht hingegen ist in einer Arbeits­ge­sell­schaft Beschäftigung das beste Mit­­tel für soziale Inklusion und der So­zial­staat ohne eine starke Wirtschaft nicht aufrechtzuerhalten. Dennoch: Richtiger­weise erinnert uns Lessenich daran, dass die Sozial­staats­reformer der Regierung Schröder vor allem auch rhetorisch gelegentlich übers Ziel hinausschossen, etwa wenn es um „Ich-AGs“ ging oder den Zwang, auch solche Jobs anzunehmen, die der eigenen Qualifikation nicht entsprechen.

Während Lessenich den Sozialver­sicherungsstaat zugunsten universalistischer Modelle langfristig faktisch abschaffen will, fordert im Gegensatz dazu Ernst Hillebrand in der vergangenen Ausgabe der Berliner Republik, den Sozial­versicherungsgedanken zu erneuern und sozialstaatliche Leistungen wieder stärker an die erbrachten Beiträge zu knüpfen: „Verschiedene Sozialstaatsreformen der vergangenen Jahre haben – oft genug unter sozialdemokratischer Prämisse – die Ansprüche der Bezahler relativiert und jene von Nicht-Bezahlern im Namen universalistischer Sozialstaatsprinzipien gestärkt. Die von der neoliberalen Um­verteilung von unten nach oben ohnehin gebeutelten Durchschnittsarbeitnehmer werden bei diesem Spiel nicht gut gestellt.“ Zusätzlich hätten „verhärtete Sozialtransfermilieus“ dazu beigetragen, die Gesellschaft in Leistungsbezieher und -bezahler zu spalten. Auf diese Weise sei das Prinzip der Reziprozität unterlaufen worden.

Indirekt richtet sich auch Hille­brands Ansatz gegen das Leitbild des vorsorgenden Sozialstaats. Zum einen weil höhere Sozialversicherungsleistungen viel Geld kosten, das dann anderswo fehlt; zum anderen weil sie falsche An­reize setzen und Beschäfti­gungs­chan­cen vermindern können; schließlich auch deshalb, weil Hillebrands Vorschlag gerade nicht auf die Lösung des diagnostizierten Hauptproblems selbst zielt, nämlich die (Re-)Inklusion des gesellschaftlich abgehängten Prekariats. Im Gegenteil würden sich die materiellen und rechtlichen Unterschiede zwischen den Insidern und den Outsidern auf dem Arbeitsmarkt sogar noch verschärfen. Das gesellschaftliche Solidaritätsgefühl würde folglich eben nicht wachsen, sondern abnehmen.

Wo „Weihnachtsgeld“ ein Fremdwort ist

Darüber hinaus macht Hillebrand seine Rechnung ohne die wachsende Zahl hart arbeitender, häufig junger Freiberufler, für welche die Vokabeln „Weihnachts­geld“, „Rentenansprüche“ und „Arbeits­losengeld“ schlicht Fremdwörter sind. Diese Gruppe finanziert den Wohl­fahrts­staat, den viele von ihnen als „Sicher­heits­­netz für alte Leute“ (Alfred Gusen­bauer) wahrnehmen, mit ihren Steu­er­leis­tun­gen mit, ohne dabei eigene An­sprüche zu erwerben. Ihre Bereit­schaft zur Soli­darität lässt sich nur aufrechterhalten, wenn der Sozialstaat in die Zukunft investiert, statt große Bevölke­rungsteile bloß zu alimentieren. Aus diesem Grund sollte es der SPD nicht um den Ausbau des Sozialversiche­rungs­staates gehen, sondern um dessen Flan­kie­rung mit investiver Sozialpolitik.

Die SPD muss sich entscheiden

Die SPD muss sich also entscheiden: Will sie ihren sozialpolitischen Schwerpunkt auf die Verteidigung „vergangener Errun­gen­schaften“ (Tony Judt) legen oder den investiven Sozialstaat selbstbewusst weiterentwickeln? Ohne diesen Klä­rungs­prozess droht eine ähnlich widersprüchliche Politik, wie sie die zwischen Be­treu­ungs­geld und Ausbau der Kinderbetreuung schwankende Union betreibt. Mit Maß­nahmen wie den Hartz-Gesetzen, dem Ausbau der Kinderbetreuung oder dem Programm „Soziale Stadt“ hat die SPD in ihrer Regierungszeit wichtige Weichen in Richtung des vorsorgenden Sozialstaats gestellt. Diesen Weg fortzusetzen wird Geld kosten – aber die Kapitalrendite ist hoch, besonders in Zeiten schrumpfender Kinderzahlen.

Auch die aktuelle Krise selbst liefert gute Argumente für einen handlungsfähigen Wohlfahrtsstaat. Wie der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman kürzlich in seinem Blog ausführte, kommen diejenigen europä­ischen Staaten, die über gut ausgebaute Wohlfahrtssysteme verfügen, heute wirtschaftlich deutlich besser über die Run­den als die Länder mit nur rudimentären Sozialsystemen: „Schweden mit seinen bekanntlich hohen Sozialleistungen geht es hervorragend; das Land ist eines der wenigen, in denen das Brutto­in­lands­produkt heute höher ausfällt als vor der Krise. Und die sozialstaatlichen Aufwen­dungen als prozentualer Anteil am Natio­naleinkommen lagen vor der Krise in allen Ländern, die heute in Schwierigkeiten sind, niedriger als in Deutschland, geschweige denn in Schweden.“ Es kann kein Zufall sein, dass Schweden als Vor­zeigeland des investiven Sozialstaates gilt.

Aus diesem Grund hat Deutschland übrigens ein elementares Interesse daran, dass andere europäische Staaten ähnliche Aktivierungsstrategien verfolgen – gerade die finanziell in Not geratenen Länder mit hoher Arbeitslosigkeit. Der ehemalige belgische Arbeitsminister Frank Vandenbroucke schlägt deshalb einen „Social Investment Pact“ vor, mit dem die EU ihre Mitgliedsstaaten dabei unterstützen könnte, mehr soziale Inves­ti­tionen zu tätigen. So sollen die Euro­pä­ischen Strukturfonds und die Euro­pä­ische Investitionsbank entsprechende Maßnahmen stärker fördern als bisher. Dieser Plan verdient Aufmerksamkeit. Europas Sozialdemokraten müssen dem einseitigen Spardiktat der mehrheitlich konservativen europäischen Regie­run­gen einen eigenen Zukunftsentwurf entgegensetzen, der strikte Haushaltsdis­ziplin, moderne Wirtschaftspolitik und soziale Investitionen verbindet. «

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