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Die französischen Sozialisten haben seit 1988 sechs von sieben nationalen Wahlen verloren. Jetzt stehen sie ratlos, gestrig und sklerotisch da, ohne Zukunftsidee und Machtperspektive - ein aufschlussreiches Lehrstück aus dem Nachbarland, beschrieben

Klare Niederlagen haben einen Vorteil: Sie zwingen den Verlierer zur schonungslosen Analyse. Ablenkungsmanöver, Ausflüchte und das Aussitzen der bestehenden Probleme verfangen nicht mehr. Insofern könnte der Doppelschlag heilsam sein, den die französischen Sozialisten bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen einstecken mussten.

 

Die Wahlergebnisse der vergangenen Jahre sind eindeutig: Seit 1988 hat die Parti Socialiste (PS) sechs von sieben nationalen Wahlen verloren. Im ersten Wahlgang der diesjährigen Präsidentschaftswahl erhielten alle Kandidaten der Linken zusammen ganze 36 Prozent der Stimmen, bei der anschließenden Parlamentswahl waren es 39 Prozent – ein historisches Tief. Zwar konnte die Niederlage begrenzt werden, weil sich Ségolène Royal im zweiten Wahlgang auf 47 Prozent steigerte. Außerdem gewann die Sozialistische Partei bei den Parlamentswahlen 50 Wahlkreise hinzu und kann mit 191 Abgeordneten eine relativ starke Oppositionsrolle gegenüber der regierenden Union pour un Mouvement Populaire (UMP) einnehmen, die 315 Abgeordnete stellt.

 

Doch die Gesetze der Mehrheitswahl sind unerbittlich: In ihrer derzeitigen Verfassung ist die französische Linke nicht mehrheitsfähig. Da hilft es nichts, dass sich die PS annähernd auf ihrem Niveau von 26 Prozent gehalten hat. Sie ist die einzige ernstzunehmende Kraft der Linken; die vormals starken Bündnispartner wie die Kommunisten und die Grünen sind in der Bedeutungslosigkeit versunken. Damit sind die bisherigen Mehrheits- und Bündnisstrategien der Linken obsolet geworden.

 

Aus diesen Gründen ist eine umfassende Erneuerung der PS und damit der Linken unumgänglich geworden. Nicht nur inhaltlich muss sich die Partei runderneuern, sondern auch in Bezug auf ihre Funktionsweise und ihre strategischen Optionen. Doch die notwendigen Reformen werden durch eine unverhohlene, auch während des Präsidentschaftswahlkampfs nur mühsam übertünchte Rivalität zwischen führenden Exponenten der Partei behindert, allen voran Ségolène Royal, Dominique Strauss-Kahn und Laurent Fabius.

 

Der PS gehen die möglichen Partner aus

 

Einig ist man sich darin, dass der so genannte „Zyklus von Epinay“ am Ende ist. Gemeint ist die auf dem Parteitag von Epinay 1971 durch den neuen Parteichef François Mitterrand erfolgte Reform der Sozialistischen Partei und ihre Ausrichtung auf ein Bündnis mit den Kommunisten. Mit dieser Strategie führte Mitterrand die unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Kräfte der Linken zusammen und schuf die Grundlage für den Wahlsieg 1981.

 

So wurden die Sozialisten, die bis dahin bei den Wahlen schwächer abgeschnitten hatten als die Kommunisten, zur stärksten Kraft der Linken. In der Zeit von 1981 bis 2002 regierten sie insgesamt 15 Jahre lang. Diese Bündnis- und Mehrheitsstrategie, die von 1997 bis 2002 unter Regierungschef Lionel Jospin um andere kleine Partner wie die Grünen erweitert wurde, ist nun hinfällig geworden – der PS gehen ganz einfach die Partner aus. Um wieder mehrheitsfähig zu werden, müssen die Sozialisten neue Wege gehen.

 

Vor diesem Hintergrund ist die innerparteiliche Kontroverse um eine mögliche Allianz mit dem Zentrum um François Bayrou zu sehen, der im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl fast 19 Prozent erzielte. Ein Großteil seiner Wähler stammte aus dem Stimmenreservoir der Linken, und die Zuwächse der PS bei der Parlamentswahl sind offensichtlich auf Wähler der Mitte zurückzuführen. Aber sollte man sich deshalb gleich mit Bayrou und seiner neuen Partei verbünden? Das wäre zu kurz gegriffen.

 

Denn das Problem der PS geht tiefer: Offensichtlich ist das inhaltliche Angebot der Sozialisten an die Wähler nicht attraktiv genug. Die Partei hat es schlicht versäumt, Lehren aus dem Debakel von 2002 zu ziehen, als ihr Kandidat Lionel Jospin im ersten Wahlgang vom Rechtsextremen Le Pen knapp überrundet wurde und nicht einmal in die Stichwahl kam. Bereits vor fünf Jahren war zu konstatieren, dass die Sozialisten mit ihrer Sprache und ihren Themen einen Großteil der Wähler, vor allem die einfachen Bevölkerungsschichten, nicht mehr erreichen. Eine inhaltliche Erneuerung wäre schon damals dringend erforderlich gewesen.

 

Die Differenz von Diskurs und Wirklichkeit

 

Stattdessen saß die PS das Problem einfach aus. Die Unpopularität der damaligen Regierung Raffarin sorgte für einen Kantersieg bei den Regionalwahlen 2004, so dass man den bequemen Weg einer Anti-Rechts-Opposition ging, anstatt inhaltliche Kontroversen auszutragen. Die tatsächliche Zerrissenheit der Partei wurde dann beim Europareferendum 2005 deutlich, als eine Mehrheit der Parteimitglieder mit „Ja“, eine Mehrheit der sozialistischen Wähler aber mit „Nein“ stimmte und sich führende Sozialisten daraufhin öffentlich zerstritten. Die von Parteichef François Hollande verfolgte Strategie, die auseinanderstrebenden Flügel mühsam zusammenzubinden, ging auf Kosten einer überfälligen inhaltlichen Klärung – und war letztlich verhängnisvoll.

 

Ségolène Royal hat auch aufgrund ihrer unklaren Botschaften die Wahl verloren. Zudem spürten die Wähler, dass die Partei nicht wirklich hinter ihr stand. Ihr sehr persönlicher Wahlkampf, bei dem sie den Parteiapparat häufig umging, setzte zwar einige neue inhaltliche Akzente. Er litt aber an fehlender Unterstützung für die Kandidatin und ihre programmatischen Aussagen im eigenen Lager. Diese Aussagen wiederum waren oft vage und wirkten improvisiert. Royal musste auf zahlreiche parteiinterne Kompromissformeln Rücksicht nehmen. Sie war in einem Diskurs gefangen, der hinter der Wirklichkeit zurückblieb.

 

Demgegenüber hatte Nicolas Sarkozy die von ihm geführte rechte Sammlungspartei UMP voll auf seine Linie eingeschworen. Sein inhaltliches Angebot war zwar widersprüchlich – es enthielt eine heterogene Mischung aus liberaler Reform- und Steuerpolitik, wachstums- und arbeitsbetonter, aber auch protektionistischer Wirtschaftspolitik, interventionistischer Strukturpolitik sowie harter Innen- und Einwanderungspolitik. Dennoch waren Sarkozys Botschaften konkreter als die seiner Konkurrentin. So konnte er seinen Willen glaubhaft machen, an die Stelle der kraft- und einfallslosen Politik von Jacques Chirac eine energische Reformpolitik zu setzen, obwohl er Chiracs Politik als Minister mit verantwortet hatte.

 

Es gelang Sarkozy nicht nur, bei den traditionell linken Wählerschichten zu punkten. Mit Themen wie Innere Sicherheit, Einwanderung oder nationale Identität konnte er auch viele rechtsextreme Wähler an sich binden. Die herben Verluste des Front National trugen wesentlich zur Mehrheit des konservativen Kandidaten bei. Das politisch korrekte Naserümpfen der Linken über den damit verbundenen Rechtspopulismus mag seine Berechtigung haben. Zugleich aber war diese Reaktion ein Ausdruck von Hilflosigkeit sowie der letztlich vergebliche Versuch, mit einer platten Anti-Sarkozy-Kampagne auf Stimmenfang zu gehen.

 

Wer soll die Partei künftig führen?

 

Wie geht es nun weiter? In seltener Einigkeit ertönt der Ruf nach einer programmatischen „Erneuerung“ der Partei, auf allen Parteiebenen ist eine breite, kontroverse Diskussion entbrannt. Umfragen zufolge nennen 70 Prozent von Royals Wählern die Unfähigkeit der Sozialisten, ihr Programm zu erneuern, als Grund für die Niederlage. Doch schon jetzt überlagert ein erbitterter Personalstreit die inhaltliche Debatte: Wer soll die Partei künftig führen? Ségolène Royal hat ihren Anspruch angemeldet. Das Wahlergebnis hat sie gestärkt, doch sie verfügt kaum über „Stallgeruch“. Ihre eigenwilligen Initiativen und der Versuch, die Partei mit Hilfe öffentlicher Sympathien „von außen“ zu erobern, haben die Partei polarisiert. Vorerst hat Royal ein Zweckbündnis ihrer Rivalen Dominique Strauss-Kahn, Laurent Fabius und Lionel Jospin provoziert, die sie gemeinsam ausbremsen wollen. Der schwache Parteichef François Hollande darf vorerst bleiben, er passt in das Kalkül der übrigen „Elefanten“.

 

Zweifellos droht die inhaltliche Erneuerung zum Spielball innerparteilicher Machtspiele zu werden. Denn die PS wird durch organisierte courants bestimmt, um Führungsfiguren herum gruppierte Flügel, die ein starkes Eigenleben haben, ja regelrechte Clans bilden. Oft sind die Führungspersönlichkeiten wichtiger als Inhalte, was die innerparteiliche Debatte nicht gerade erleichtert. Im Grunde müssten auch die Parteistrukturen dringend auf den Prüfstand, weil „die Art, wie die parteiinterne Debatte organisiert wird, obsolet und sklerotisch ist“, wie es Manuel Valls, einer der jüngeren Wortführer der Erneuerung, ausdrückt.

 

Immerhin wächst der Wille zur Analyse

 

Der notwendige inhaltliche und strategische Klärungsprozess wird also mühsam werden, zumal Parteiorganisationen in Frankreich nicht sakrosankt sind. Spaltungen, Wiedervereinigungen, Namensänderungen und Neugründungen sind auch bei den etablierten Parteien keine Tabus. Dies gilt auch für die Sozialistische Partei mit ihren rund 220.000 Mitgliedern, von denen 70.000 aufgrund einer Werbekampagne im Frühjahr 2006 neu eingetreten sind – per Internet und mit einem Jahresbeitrag von 20 Euro. Zwar droht derzeit keine unmittelbare Gefahr von links, weil zwischen den zahlreichen trotzkistischen, kommunistischen, basissozialistischen und bürgerbewegten Gruppierungen keine Einigkeit zu erzielen ist. Doch die Modernisierer der PS stehen vor dem Problem, innerparteiliche Strömungen zusammenhalten zu müssen, die inhaltlich mindestens so weit auseinander liegen wie in Deutschland die neue Linkspartei und der rechte Flügel der SPD.

 

Angesichts dieser schwierigen Bedingungen ist ungewiss, ob und wie die Erneuerung der PS gelingen kann. Immerhin wächst die Bereitschaft zur schonungslosen Analyse. „Die französische Linke war noch nie so wenig glaubwürdig wie heute“, befindet etwa der Linksintellektuelle Zaki Laïdi. Er wirft der Partei vor, keine Hoffnung mehr zu verkörpern, sondern sozialen Pessimismus auszustrahlen und eine rein nationale Sicht einzunehmen. Der Grund dieses Pessimismus sei ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem Markt und der Globalisierung, das allzu oft zu einem antiliberalen und antieuropäischen Verbalradikalismus verleite. Diese Ohnmacht hindere die Partei daran, die politischen Gestaltungschancen in der Marktwirtschaft und im Rahmen der Globalisierung realistisch einzuschätzen und daraus eine linke Strategie abzuleiten.

 

Auch andere kritische Stimmen konstatieren, dass die PS die gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahre nicht zur Kenntnis genommen habe. Die Innere Sicherheit (die schon 2002 sträflich vernachlässigt worden war), die Prekarität sowie die Misere in den Vorstädten gehören ebenso zu den nicht aufgearbeiteten Themen wie eine Reform des Staates und der Verwaltungsstrukturen.

 

Der vorsorgende Sozialstaat als Modell

 

Auch für Dominique Strauss-Kahn bildet „die wachsende Kluft zwischen den beschleunigten Veränderungen der französischen Gesellschaft und unseren alten Wahrnehmungsmustern“ den Hintergrund für die Wahlschlappen der PS. Der frühere Finanzminister und Exponent einer Modernisierung der Partei plädiert für eine neue Sozialpolitik im Sinne eines vorsorgenden Sozialstaates, wie ihn die SPD propagiert. Weitere Elemente seiner Strategie sind eine integrierte Wirtschafts- und Sozialpolitik („Das Soziale in der Ökonomie“), eine linke Angebotspolitik, die stärker auf die Voraussetzungen und Bedingungen des Wachstums und nicht allein auf gerechte Verteilung zielt, sowie ein antiprotektionistischer, europäischer Kurs.

 

Natürlich provozieren derartige Vorschläge Gegenreaktionen der sozialistischen Linken. Sie werfen den Modernisierern vor, sich von der Rechten ideologisch einschüchtern zu lassen. „Ihre Aktion“, kritisiert der Journalist Eric Dupin, „bewegt sich im mentalen Rahmen des Gegners“. Schnell steht der Vorwurf des Sozial-Liberalismus im Raum – eine der schlimmsten Beleidigungen, die sich französische Linke an den Kopf werfen können. Der latente, oft aggressive Antiliberalismus ist weiterhin präsent, übrigens nicht nur bei den Linken. Auch Nicolas Sarkozy vertritt ihn sehr offensiv, vor allem auf europäischer und internationaler Ebene.

 

Lehren für deutsche Sozialdemokraten

 

Trotz allem scheinen die jahrelang wirksamen, selbst verordneten Tabus und Denkverbote langsam aufzuweichen. Das gebetsmühlenartige Festhalten am Status quo des französischen Modells – starker Staat, öffentliche Monopolunternehmen, reglementierter Arbeitsmarkt, Colbertismus – und die reflexartige Ablehnung aller Veränderungsversuche als (neo-)„liberal“ sind der Erkenntnis gewichen, dass die Welt sich verändert hat und die Linke dringend neue Antworten braucht, um ihre Ziele zu erreichen. Es geht weniger um die Frage, ob man sich mehr nach links oder mehr zur Mitte hin orientieren sollte, als vielmehr darum, „sich der Realität zu nähern“, wie es Jacques Julliard im Nouvel Observateur formuliert. Das bedeutet, die zahlreichen neuen Verwerfungen in der Gesellschaft ebenso zur Kenntnis zu nehmen wie die veränderten Spielräume öffentlichen Handelns.

 

Es heißt aber auch, sich zur Gesellschaft hin zu öffnen und von den Akteuren der Zivilgesellschaft zu lernen – kein leichtes Unterfangen für eine Partei, die im Wesentlichen eine Organisation von Mandatsträgern geblieben ist und deren Diskurse oft genug abgehoben und gesellschaftlich wenig geerdet scheinen. Viele ihrer führenden Vertreter haben „den Bezug zur Realität ebenso wie zur Sprache der einfachen Leute verloren“, moniert Fadela Amara. Diese Äußerung sollte den Sozialisten zu denken geben: Fadela Amara gehört zu jenen linken Aktivistinnen der Zivilgesellschaft, die von Sarkozy im Zuge seiner „Öffnung“ in die Regierung berufen wurden.

 

Was kann die deutsche Sozialdemokratie aus alldem lernen? Weder zählen die französischen Sozialisten bei der programmatischen Erneuerung zur europäischen Avantgarde (wenngleich sie selbst dies teilweise völlig anders sehen), noch sind die politischen und ideologischen Bedingungen direkt miteinander vergleichbar. Betrachtet man allerdings den Kern des Problems, nämlich die Schwierigkeit, in einer europäisierten und globalisierten Welt eine moderne Linke zu definieren, so sind die Parallelen offenkundig. Bei Themen wie dem eines erneuerten Sozialstaatsverständnisses, einer neuen Rolle des Staates sowie der nationalen und internationalen Regulierung der Wirtschaft wäre ein stärkerer programmatischer Austausch sehr hilfreich.

 

Das Über-Ich des revolutionären Marxismus

 

Nicht zuletzt bieten die französischen Sozialisten reichlich Anschauungsunterricht im Umgang mit der linkssozialistischen Konkurrenz. An der Regierung erzielte die PS durchaus Erfolge, sie war bemerkenswert pragmatisch und hatte Mut zu neuen Weichenstellungen. Und doch war sie unfähig, ihre eigene Regierungspraxis programmatisch zu begleiten, weil sie sich in eine Abhängigkeit von maximalistischen Forderungen der Linkskonkurrenz begab. Vom „Über-Ich des revolutionären Marxismus“ (Jean-Christophe Cambadélis) konnte sie sich nicht gänzlich befreien. Dieser Weg war in vieler Hinsicht eine Sackgasse. Insofern gilt, nicht nur für Frankreich, folgender Satz von Jacques Julliard: „Es gibt keine schlimmere Sozialdemokratie, als eine Sozialdemokratie, die sich ihrer selbst schämt.“

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