Gedöns war gestern
Die Parteien in Deutschland haben sich das Thema Familienpolitik auf die Fahnen geschrieben. Selbst Teile der Union begreifen nach und nach, dass die Familie des 21. Jahrhunderts nicht mehr dem traditionellen Familienbild entspricht. Neue politische Ansätze sind gefragt. Alleinerziehende Eltern sind ebenso normal geworden wie Patchwork-Familien. Viele Familien verändern die Form ihres Zusammenlebens sogar immer wieder.
Deshalb können Familien ihren Mitgliedern nicht mehr die soziale und finanzielle Sicherheit bietet wie noch vor 30 Jahren. Im Gegenteil, Familien sind hohen Risiken wie etwa Trennung, finanziellen Belastungen oder jahrelangem Arbeitsausfall aufgrund von Kindern ausgesetzt. Viele Menschen entscheiden sich deswegen gegen eine Familie, was zu einem stetigen Rückgang der Geburtenrate geführt hat. Die Geburtenrate sagt also viel darüber aus, wie gut die Familienpolitik eines Landes funktioniert.
In Deutschland bekommen Frauen im Schnitt etwa ein Kind weniger als sie sich wünschen. Besonders bei Frauen mit hohem Bildungsgrad klaffen Wunsch und Wirklichkeit auseinander. Ein Grund dafür ist die mangelnde Vereinbarkeit von Kind und Beruf. Das deutsche Sozialstaatsmodell begünstigt immer noch Ein-Verdiener-Haushalte, in denen (meistens) der Mann arbeitet und die Frau bei den Kindern bleibt. Das muss sich aus mehreren Gründen ändern.
Alleinerziehende in der Armutsfalle
Erstens ist die Armutsrate bei alleinerziehenden Müttern unter allen Familienformen am höchsten. Der Armutsfalle entkommen die Alleinerziehenden nur, wenn sie auch mit Kind berufstätig sein können. Zweitens reicht das Einkommen des Mannes allein oft gar nicht mehr aus, um die Bedürfnisse aller Familienmitglieder zu decken. Und drittens ist die Erwerbstätigkeit der Frau eine Frage der Gleichberechtigung.
Gerade für Besserverdienende ist die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf sehr wichtig. Viele Frauen haben jahrelang in ihre Bildung investiert und fürchten, nach einer langen Kinderpause nicht mehr in den Beruf zu finden. Zudem stellt der jahrelange Ausstieg aus dem Erwerbsleben ein großes finanzielles Problem dar.
Wie kann der Staat Zwei-Verdiener-Haushalte besser unterstützen? Mehr Geld ist gar nicht nötig. Die Leistungen für die Familie sind in Deutschland etwa so hoch wie im familienfreundlichen Schweden. Nur verteilen die Skandinavier das Geld besser. Rund 72 Prozent ihrer Ausgaben für Familien gehen in Schule und Betreuung, nur 28 Prozent in Geldleistungen. Deutschland gibt umgekehrt 71 Prozent für Geldleistungen aus und 29 Prozent für Dienstleistungen. Dieses Geld müssen wir umschichten.
Zudem müssen in Deutschland die Zuwendungen für Familien übersichtlicher strukturiert werden. Viele Finanzhilfen des Staates sind hierzulande von der Anzahl der Kinder in einem Haushalt abhängig. Dieses Prinzip birgt ein Risiko: Werden die Finanzhilfen gestrichen, fällt gar nicht auf, dass an der Familie gespart wurde. In Frankreich hat man dieses Problem mit einer „Familienkasse“ gelöst, die sämtliche Einnahmen und Ausgaben für Familien verwaltet. Mit der Familienkasse wird nicht nur die Bedeutung dieser finanziellen Mittel besonders betont. Wenn gekürzt wird, fällt das auch sofort auf.
Diese Beispiele zeigen, wie viel in Deutschland familienpolitisch noch im Argen liegt. Hier kommen einige Vorschläge, wie Familiengründungen attraktiver gemacht und die Geschlechterrollen verändert werden können:
Ein wichtiger Baustein für eine neue Familienpolitik in Deutschland ist das beschlossene Elterngeld, das die finanziellen Ausfälle nach der Geburt eines Kindes minimieren soll. Es ist sinnvoll, dass Väter die Elternzeit mindestens zwei Monate lang nehmen müssen, wenn sie das Elterngeld weiter beziehen wollen. So werden Anreize für mehr Gleichberechtigung gegeben, ohne die Familien zu bevormunden. Zusätzlich sollten Väter zur Zeit der Geburt zehn Tage bezahlten Elternurlaub nehmen dürfen, um sich voll und ganz um ihre Familie zu kümmern. Leider steht das Elterngeld nach wie vor in der Kritik. Viele meinen, es sei eine Subvention der Besserverdienenden. Doch es gibt Wege, diese Leistung gerechter zu gestalten. Beispielsweise könnten zusätzliche Beträge für Geringverdienende oder Arbeitslose gezahlt werden.
Auch bei der Betreuung dürfen diese Gruppen nicht vernachlässigt werden. Möglich wäre ein Mindestanspruch auf externe Betreuung im Umfang von etwa zehn Stunden pro Woche auch für Arbeitslose und Eltern im Elternurlaub. Dann könnte die Elternzeit beispielsweise für die Weiterbildung genutzt werden, was den Wiedereinstieg in den Beruf begünstigen würde.
Das Elterngeld allein ist allerdings nur ein Mosaikstein. Wir brauchen zudem ein flächendeckendes Betreuungsangebot, damit Eltern nach dem Elternurlaub wieder arbeiten können. Diese Betreuungsangebote müssen auch für Geringverdiener finanzierbar sein.
Die existierenden Betreuungsformen sollten umstrukturiert werden und neue Aufgaben hinzubekommen. Zum Beispiel könnten Kindertagesstätten zu Familienzentren ausgebaut werden, in denen Geburtsvorbereitungskurse ebenso stattfinden wie eine umfassende Betreuung nach der Geburt und Angebote zur Familienbildung und -beratung. Solche Einrichtungen sollten bereits vorhandene Angebote in verschiedenen Einrichtungen miteinander vernetzen.
So könnten die Familienzentren einen „Begrüßungsbesuch“ des Jugendamtes bei einem Neugeborenen und seinen Eltern organisieren, bei dem auf Angebote hingewiesen und Unterstützung angeboten wird. Klinikärzte und Hebammen könnten dabei behilflich sein, Ansprechpartner zu finden, wenn bei der Geburt deutlich wird, dass die Familie besondere Hilfe benötigt.
Die Ganztagsschule ist mehrfach nützlich
Auch nach den ersten Jahren darf die Politik die Familien nicht allein lassen. Zwar gibt es in Deutschland einen gesetzlichen Anspruch auf einen Kindergartenplatz, doch bei den Betreuungsmöglichkeiten für Kinder zwischen drei und sechs Jahren besteht großer Verbesserungsbedarf. Die Öffnungszeiten der Einrichtungen müssen sich den Anforderungen des Berufslebens anpassen. Arbeitszeiten zwischen 9 und 16 Uhr sind realitätsfern. Vielmehr sollte es um eine flächendeckende Betreuung sowohl vormittags als auch nachmittags gehen. Zudem muss die Qualität der Einrichtungen verbessert werden. Vor allem Kinder von Einwanderern oder Kinder in benachteiligten Stadtteilen müssen zusätzlich gefördert werden, etwa durch besonderen Sprachunterricht.
Die Pisa-Studie hat gezeigt, dass die Betreuung nicht nach dem Schulunterricht enden darf. Das flächendeckende Angebot der Offenen Ganztagsschule löst hier gleich mehrere Probleme auf einmal. Einerseits erhöhen Weiterbildungsangebote, etwa in den Bereichen Kultur und Sport, die Leistungen der Schüler. Andererseits sorgen Freizeitangebote dafür, dass die Schüler beschäftigt sind. Mindestens bis zu einem Alter von 14 Jahren brauchen Kinder Betreuung, um Langeweile am Nachmittag und die daraus entstehenden Probleme zu vermeiden.
Für eine familienfreundliche Gesellschaft ist aber auch ein Engagement der Arbeitgeber unerlässlich. Betriebe müssen auf die neuen gesellschaftlichen Bedingungen reagieren, mit Teilzeitangeboten, flexiblen Arbeitszeiten und Wiedereinstiegsprogrammen – damit die Kinder in unserer Gesellschaft adäquat versorgt werden und der Arbeitsmarkt auch Familien mit Kindern offen steht.
Der Staat wiederum könnte Betriebe unterstützen, die auf die Bedürfnisse von Familien eingehen. Letztlich aber profitieren die Unternehmen selbst am meisten von familienfreundlichen Arbeitsbedingungen: Gute Mitarbeiter fallen nicht mehr jahrelang aus und arbeiten konzentriert und zuverlässig, wenn die gute Versorgung ihrer Kinder gewährleistet ist.
Arbeitgeber müssen zudem auf äußere Umstände flexibel reagieren und es den Eltern ermöglichen, kranke Kinder zu versorgen. Eltern sollten 60 Tage Elternurlaub zusätzlich erhalten, die nur bei Krankheit des Kindes in Anspruch genommen werden dürfen. Auch die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit sollte erlaubt sein, mindestens bis das Kind sechs Jahre alt ist.
Sicherlich sind all diese Vorschläge nicht von heute auf morgen zu verwirklichen, aber wir haben keine andere Wahl, als ein familienfreundliches Land zu werden. Viel zu spät haben wir bemerkt, dass wir eine neue Politik für Familien brauchen. Der Staat spielt dabei die zentrale Rolle, aber auch andere gesellschaftliche Akteure haben eine große Verantwortung.
Wenn Deutschland gesellschaftspolitisch in Europa Anschluss halten will, brauchen wir ein konzertierte Aktion für die familienfreundliche Gesellschaft.