Gemeinsam in Verantwortung
Im vergangenen Herbst feierte die Republik 25 Jahre Mauerfall und die friedliche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Beinahe zeitgleich forderte ein Teil der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern unsere Demokratie heraus. Bei den drei Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg machte nur noch eine Minderheit von ihrem demokratischen Wahlrecht Gebrauch. Mit der AfD schaffte es eine neue nationale und reaktionäre Partei aus dem Stand, mit zweistelligen Ergebnissen in die Parlamente einzuziehen. Und als sei das nicht schon genug, schüren die Organisatoren der so genannten „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ – kurz Pegida – seit Oktober Ängste vor einer vermeintlichen Islamisierung Deutschlands. Die Organisation nutzt die verheerenden Krisen in der Welt, um am rechten Rand Menschen für ihre Bewegung zu gewinnen. Dabei erfährt Pegida auch Unterstützung aus der Mitte unserer Gesellschaft.
Der Aufstieg des marktförmigen Extremismus
Die von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebene Studie Fragile Mitte – Feindselige Zustände über rechtsextreme Einstellungen in Deutschland aus dem Jahr 2014 konstatiert zwar einen allgemeinen Rückgang geschlossener rechtsextremer und menschenfeindlicher Einstellungen in der Bevölkerung. Allerdings erfahren einige Dimensionen noch immer große Zustimmung – gerade in Ostdeutschland.
Besondere Ablehnung erfahren dabei Asylsuchende, Sinti und Roma sowie Muslime. Als Erklärungsansatz machen die Autoren der Studie einen „marktförmigen Extremismus“ aus: Einwanderer werden nicht generell abgelehnt, vielmehr unterscheiden viele Deutsche zwischen „nützlichen“ und „weniger nützlichen“ Migranten. Dieser marktförmige Extremismus führe dazu, dass Wettbewerb und Fortschritt höher bewertet werden als Solidarität und Gleichwertigkeit. Diese Beobachtung beschreibt auch der Soziologe Heinz Bude in seinem neuen Buch Gesellschaft der Angst. Bude sieht einen Mentalitätswandel, hin zu betonter Konkurrenzfähigkeit in einer globalisierten Welt. Gerade die Mittelschicht habe Angst, den erreichten Sozialstatus wieder zu verlieren.
Wir werden einen langen Atem benötigen
Diese Stimmung aus marktförmigem Extremismus einerseits und diffusen Bedrohungsängsten andererseits konnte die AfD erfolgreich kanalisieren. Sie reiht sich verbal mit ein in das braune Heer, sei es bei den Auseinandersetzungen um neue Flüchtlingsheime oder um Grenzkriminalität. So befeuert sie nach bewährt-effektivem Muster die Untergangsszenarien, die von NPD, Pegida und anderen rechtsradikalen Gruppen in diesen Tagen überall in Deutschland gezeichnet werden.
Pegida wird sich auch in Dresden irgendwann auflösen. Bekennende Nazis und Rechtsextreme werden dennoch weiterhin die Demokratie verachten und ihren Rassismus schüren, während andere „Spaziergänger“ ins Lager der Nichtwähler zurückgehen. Gewonnen hat die Demokratie damit nicht.
Als aktive Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und überzeugte Sozialdemokraten sehen wir unseren Auftrag darin, die Einheit der Arbeitnehmerschaft zu organisieren – in ihrer ganzen Vielfalt an Lebensstilen, Herkunft und auch Wertorientierungen. Die Zersplitterung der Arbeitnehmer hat in Deutschland immer dazu geführt, dass nationale und wirtschaftsliberale Kräfte Mehrheiten gewinnen konnten. Eine Lehre daraus ist der Gedanke der Einheitsgewerkschaft unter dem Dach des DGB. Dabei möchten wir alle Menschen in der Mitte unserer Gesellschaft versammeln.
Verlässliche Arbeitsverträge und ein leistungsgerechter Lohn können helfen, Abstiegsängste und Unsicherheiten abzubauen. Auch die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschland ist bei einem zurzeit noch signifikanten Lohngefälle weiterhin zentrales Ziel sozial-demokratischer und gewerkschaftlicher Politik. Daneben sind aber auch künftig vielfältige gesellschaftliche Anstrengungen vonnöten, die bunte, demokratische Früchte tragen – gegen jede Form von Rechtsextremismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.
Die Herstellung von sozialer Sicherheit und umfassender gesellschaftlicher Teilhabe sowie couragiertes Eintreten für die Werte der sozialen Demokratie bilden aus unserer Sicht die zentralen Antworten, um Menschen wieder für das demokratische Mitmachen zu gewinnen. Dafür werden wir einen langen Atem benötigen.
Demokratie hört nicht am Werkstor auf: Starke Tarifverträge, betriebliche Mitbestimmung und ein funktionierendes System der Sozialpartnerschaft bilden das Fundament des „deutschen Modells“ der Arbeitsbeziehungen. Parteiübergreifend war man sich einig, dass dieses Modell 2008 / 09 maßgeblich dazu beigetragen hat, Arbeitsplätze in unserem Land zu sichern und die Wirtschafts- und Finanzkrise insgesamt erfolgreich zu meistern. Zu diesem „deutschen Modell“ gehört auch eine aktive Wirtschafts- und Industriepolitik, bei der die Politik eben nicht allein auf die Selbstheilungskräfte des Marktes vertraut. Nach der Krise steht der Wirtschaftsstandort Deutschland jedenfalls besser da als vorher. Der Sozialwissenschaftler Birger Priddat hat in seiner Studie Leistungsfähigkeit der Sozialpartnerschaft in der Sozialen Marktwirtschaft aus dem Jahr 2011 explizit auf diese Erfolge in schwierigen Zeiten hingewiesen und die langfristigen Effekte sozialpartnerschaftlichen Handelns herausgearbeitet.
Anstatt daraus nun aber die naheliegende Konsequenz zu ziehen und die Humanisierung der Arbeitswelt im gesellschaftlichen Konsens voranzutreiben, stellt sich das Bild in diesen Tagen leider anders dar: An vielen Stellen wird das politische Ziel, gute Arbeit, Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft zu stärken, durch das Arbeitgeberlager konterkariert. Festzustellen sind sowohl ein rückläufiger Grad an Tarifbindung als auch ein verschärftes Vorgehen gegen Betriebsratsgründungen. Die Strategie der Arbeitgeberverbände, Unternehmen ohne Tarifbindung eine Verbandsmitgliedschaft zu ermöglichen, muss als entscheidende Zäsur in den deutschen Arbeitsbeziehungen gesehen werden. Den Gewerkschaften droht damit der Verlust ihrer Verhandlungspartner.
Arbeit bleibt ein wichtiger Integrationsfaktor
Entgegen aller Sonntagsreden scheint eine Orientierung an Kollektivnormen – und damit am Ziel von guter Arbeit und sozialer Sicherheit für alle Arbeitnehmer – für die heutigen Spitzen der Arbeitgeberverbände immer weniger selbstverständlich zu sein. Anstatt mit kluger und weitsichtiger Politik die Herausforderungen einer sich durch Demografie, Digitalisierung und Energiewende wandelnden Arbeitswelt zu gestalten, dominiert Ideologie. Deutlich wird dies an den politischen Auseinandersetzungen dieser Tage: Der gerade eingeführte gesetzliche Mindestlohn wird vielerorts ausgehebelt; die Möglichkeit, mit flexiblen Übergängen gleitend in den Ruhestand zu gelangen wird blockiert; und die im Koalitionsvertrag vereinbarte Reform zur Eindämmung von Leiharbeit und Werkverträgen schiebt man auf die lange Bank.
Arbeitgeberlager, Wirtschaftsverbände und weite Teile der Union müssen sich entscheiden: Wollen sie die Gewerkschaften systematisch bekämpfen oder für eine Renaissance der Sozialpartnerschaft einstehen? Dabei sollten sie an die Konsequenzen denken – für das deutsche System der Arbeitsbeziehungen, aber auch für die soziale Sicherheit und gesellschaftliche Teilhabe der Arbeitnehmer und ihrer Familien.
Durch die langjährige gemeinsame Geschichte sind Gewerkschafter davon überzeugt, dass Vielfalt an Religionen, Kulturen und Lebensformen unsere demokratische Gesellschaft bereichert. In diesem Sinne streiten wir auch für eine solidarische Flüchtlings- und eine zeitgemäße Zuwanderungspolitik. Arbeit war und ist stets ein wichtiger Integrationsfaktor: Aus zugewanderten Menschen werden Arbeitnehmer, dann Kollegen, schließlich entstehen Freundschaften. Die Wahlergebnisse und Debatten der vergangenen Wochen und Monate erfüllen uns daher mit großer Sorge.
Mehr denn je gilt: »Mach meinen Kumpel nicht an!«
Bereits im November 2014 hat die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) eine Resolution „Für eine humanitäre und solidarische Flüchtlingspolitik“ verabschiedet. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, jetzt politische Lösungen in der Einwanderungs-, Flüchtlings- und Integrationspolitik zu finden. Auch die anderen Gewerkschaften des DGB haben deutliche politische Signale in diese Richtung gesendet. Die Initiative der SPD-Bundestagsfraktion zu einem neuen Einwanderungsgesetz geht deshalb in die richtige Richtung. Neben den politischen Diskussionen beteiligen sich Gewerkschafter überall in unserem Land aktiv an den vielen bunten Demonstrationen für ein friedliches und solidarisches Miteinander.
Es ist unser Ziel, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund für den gewerkschaftlichen Gedanken zu gewinnen. Barrieren gehören abgebaut. Alle Menschen, ob zugewandert oder schon immer in Deutschland zu Hause, haben in unserer Mitte ihren Platz. Diesen Gedanken bringt auch die couragierte Arbeit des gewerkschaftsnahen Vereins „Mach meinen Kumpel nicht an!“ seit den achtziger Jahren zum Ausdruck. Wir wollen dabei besonders in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit weiter einen Schwerpunkt setzen, sowohl in der Jugend- als auch in der Erwachsenenbildung. Denn unsere Diskussionen in den Betrieben zeigen leider, dass Aufklärung über die reale Situation von Flüchtlingen in Deutschland dringend notwendig ist.
All dieses Engagement ist aber nicht genug, wenn noch immer jeden Montag in Sachsen und anderswo Menschen gegen Solidarität und Sozialstaatlichkeit auf die Straße gehen. Wir müssen unsere Politik daher langfristig und strategisch ausrichten: Besonders in Ostdeutschland bedarf es einer Stärkung der kritischen und aufgeklärten Zivilgesellschaft, braucht es Begegnungen zwischen Menschen aus allen Teilen der Welt. Es müssen viele gemeinsame Erfahrungsräume für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität entstehen. Dafür werden sich die IG BCE und der DGB mit ihren demokratischen Netzwerkpartnern noch stärker engagieren.
Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung vereint seit jeher der Kampf für die Werte der sozialen Demokratie. Die stetig sinkende Wahlbeteiligung bei Kommunal- und Landtagswahlen, das schwache Abschneiden der SPD in einigen ostdeutschen Bundesländern, das Erstarken einer neuen Rechten mit der sich derweil noch bürgerlich gebenden AfD, die Pegida-Proteste und der Legitimationsverlust der klassischen politischen Institutionen fordern uns gemeinsam heraus.
Es ist daher an der Zeit, wieder stärker und Seit’ an Seit’ für eine progressive Politik zu streiten. Wer den politischen und sozialen Fortschritt will, der muss versuchen, Menschen in der Mitte unserer Gesellschaft zu versammeln. Soziale Sicherheit und gesellschaftliche Teilhabe sind dafür die Voraussetzung. So kann es gelingen, Männer und Frauen wieder für die Schönheit der sozialen Demokratie zu gewinnen.