Generation XY

Die Jugend ist anders und sehr verschieden - Marginalien aus dem jungen Deutschland

Jens liest keine Bücher. Seine Lieblingssendung im Fernsehen ist momentan Big Brother. Einen Berufswunsch mag er nicht nennen. Ob er sich erwachsen fühlt? Nein.

Gesprächsnachmittag in einer Zivildienstschule, Teil des politisch bildenden Unterrichts der engagierten Schulleiterin, diesmal umgekehrter Versuchsaufbau: Politiker fragt, Zivis antworten. Vorstellungsrunde.

Alexander, 21, Einzelhandelskaufmann, hat zuletzt ein Lustiges Taschenbuch gelesen, sagt er. So was liest meine Tochter (acht) auch gerne mal. Fernsehen? Weiß nicht. Und: Ach ja, nicht erwachsen.

Weil das lustig ist, sagt jetzt eine ganze Reihe von Zivis, dass sie nicht lesen, nie, auch früher nicht. Markus, 20, der Krankenpfleger werden will, schaut gern Big Brother, Daniel (Elektroinstallateur) Akte X, Dennis TV Total. Oh ja, TV Total mögen auch Marco und Michael am liebsten. Alexander, 21, liest gerade Berufswahl für Abiturienten; Steven, 20, der Sozialpädagoge werden will, liest Miteinander reden.

Ein paar Jungen wollen studieren. Sie lesen auch: Tanja Blixen Jenseits von Afrika, Sinn des Lebens, Rückkehr der Zauberer. Hier, in den ambitionierteren Bildungskreisen, werden gern die Simpsons geschaut und ran. Einmal Lindenstraße, einmal Harald Schmidt.

Der Grundton ist jammerig. Sie wollen keinen Dienst leisten, für wen denn! Sind ja nur billige Arbeitskräfte, oder? Politik ist unendlich weit weg, also jederzeit als Generalübel in Anspruch zu nehmen: DIE POLITIKER! Das Wort führen die Ossis. Einer hat den Mund voll, weil er isst; einer liest eine Sport-illustrierte; einer war mal obdachlos und tritt jetzt als Generalexperte für Gerechtigkeitsfragen auf.


Fünf von fünfundzwanzig sind im Gesicht gepierced, einer enorm tätowiert, zwei Skins, wahrscheinlich, wenn man sie fragen würde, "Redskins". Alle Moden der Selbststigmatisierung sind beisammen. Aber die Politik.

Wir sprechen über die - zugegeben konfirmandenunterrichtsmäßige - Frage, was zu einem guten Leben gehört. Die Antworten kommen aus dem Ich-Ich-Ich-Universum: Spaß, Bier, Frau, Hund, Haus, wenig Stress, Freunde, Macht (nee, Gesundheit!), Erfolg, Zufriedenheit. Auf Nachfrage sind drei Viertel dieser ambulanten Pazifisten auch dafür, eine Familie zu gründen - vielleicht in fünfzehn Jahren, wenn das Spaßkonto zwischenzeitlich gut gefüllt ist. Spaß muss sein. Dann kann man sich Frau und Kinder leisten.


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Wer redet diesen Nicht-Erwachsenen eigentlich so erfolgreich ein, dass sie ganz dringend um Spaß kämpfen müssen?

Heimat, was ist das? In einem Treff für junge Spätaussiedler spreche ich mit Julia, Irina, Olga und Ludmilla; später kommen Waldemar und Wladimir dazu. Sie sind vor fünf, sechs Jahren mit ihren Eltern aus Kasachstan, Russland und der Ukraine zugezogen. Die Mädchen sprechen besser Deutsch als die Jungen, wollen Abitur machen, vielleicht studieren. Die Jungen sind schon in der Lehre. Nach Kasachstan zurück? Niemals. Da gibt es keine Arbeit, und wenn Arbeit, dann kein Geld. Man kann ja hinfahren, die Verwandten besuchen. In Deutschland ist alles so sauber, so komfortabel. An die Wand des Treffpunkts haben sie, weil ihre sozialpädagogischen Betreuer das gerne so wollten, ein Symbol ihrer "Heimat" gemalt - den Kreml.


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Die meisten Besatzungsmitglieder sind jünger als das Schiff auf dem sie fahren. Der Zerstörer Lütjens, Baujahr 1967, wird in drei Jahren außer Dienst gestellt. Jetzt geht es noch einmal auf große Ausbildungsfahrt nach Südafrika. Unterwegs viele interessante Häfen, Äquatortaufe, Botschafter in Uniform. Ich begleite die Crew auf dem ersten, kältesten Teil der Reise - von Kiel nach Wilhelmshaven. Der Kommandant, ein Fregattenkapitän mit Lehrergehalt, ist kaum älter als ich. Er hat das Kommando über 330 Mann und mehrere Hundert Millionen Mark Material. Motivationsprobleme kennt er nicht, sagt er, viele Soldaten haben ihre Verpflichtungszeit verlängert, um an der Reise komplett teilnehmen zu können. Beim Verlassen des Hafens spielt das Marinemusikcorps Ostsee Muss I denn. Eltern, Geschwister, Freundinnen und Frauen stehen auf der Pier und winken und werden immer kleiner und bleiben zurück.


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Wir haben uns in der Forstbaumschule verabredet, einem Biergarten, der auch drinnen sehr gemütlich ist. Ich bin gespannt, ob sie kommen und was sie sagen. Der lokale PR-Beauftragte der Zeugen Jehovas hat mir versprochen, ein paar Jugendliche mitzubringen, um endlich mal diese Vorurteile über die angeblich zu harte Erziehung in der Sekte auszuräumen.

Sie warten schon, Getränke stehen noch nicht auf dem Tisch. Ich will ein Bier bestellen, halte aber noch rechtzeitig inne und gebe - Kompromiss - ein "Alsterwasser" in Auftrag, sie trinken ja keinen Alkohol. Die jungen Leute bestellen Wasser und Tee, der PR-Chef - aha - auch ein Alster. Ihre Erziehung zuhause sei hart, aber gut, sagt ein Mädchen. Auch gebe es Züchtigung, aber nicht wirklich Prügel. Die Jugendlichen sprechen, ohne dass es ihnen peinlich zu sein scheint, darüber, wie sie von ihren Eltern - gerecht - erzogen werden. Keine Geburtstagsfeier? Kein Weihnachten? Kein Sport? Kein schlechter Umgang? Jehova sagt ..., in der Bibel steht ... Außerdem ist das alles gar nicht sooo streng. Und wir wollen doch so leben. Es schade keinem.


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Kinderdemokratie. In der Presseerklärung einer Staatssekretärin der schleswig-holsteinischen Landesregierung geht es um "Partizipation von der Geburt an". Kinder wissen am besten selbst, was gut für sie ist - die unverbildeten Wesen.
"Ich bin in den Gruppenrat gewählt worden", sagt der Junge und spießt Schinkenwürfel auf die Gabel.
Der Mann, der das Essen für ihn bestellt hat, schweigt.
"Ich bin verantwortlich für sozialistische Wehrerziehung", sagt der Junge.
"Wofür?"
"Für sozialistische Wehrerziehung." Er saugt Makkaroni von der Unterlippe.
"Und was musst Du da tun?"
"Ich bereite Manöver vor und so weiter."

Die Geschichte heißt Elfjähriger. Als mein Freund Bodo sie mir 1976 triumphierend, ein so tolles Buch mit so abgedrehten Geschichten zu kennen, zum dritten Mal vorgelesen hatte, lagen wir beide vor Lachen unter dem Tisch. Der Text steht in dem meistverkauften Buch der 70er, Rainer Kunzes Die wunderbaren Jahre, über Kinder, die kleine Erwachsene sein sollen und doch Kinder sind, in der DDR.


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Bianca war schon als Säugling auf Entzug, sagt der Heimleiter. Von den Eltern spricht er nicht. Sie kam ins Heim, in eine Pflegefamilie mit religiösem Hintergrund, entwickelte wieder eine Alkoholproblematik, ist jetzt siebzehn und trocken, intellektuell schwach.

Wolfgangs Mutter bekommt alle zwei Jahre ein Kind von irgendeinem Macho-Typ und gibt die Kinder dann in öffentliche Erziehungseinrichtungen, wenn es klappt. Wolfgang lebte, bis er dreizehn war, monatelang allein in der Wohnung der Mutter, die mit einem Binnenschiffer unterwegs war. Trotzdem: Der macht seinen Weg.

Mirkos Vater war Alkoholiker, der Junge kam ins Heim, wurde adoptiert, war dann doch über, als die neue Mutter schwanger wurde, ist jetzt neunzehn und macht Arbeitstraining in einer Werkstatt für Behinderte, kann keinen Blickkontakt halten.

Carolas Mama, selbst ein Heimkind, hat sich den goldenen Schuss gesetzt, Papa war obdachlos, jetzt ist sie fünfzehn und total versaut, sagt der Heimleiter, hängt mit zwielichtigen Mackern rum. Natürlich hat sie Schulprobleme.


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Früher. Früher war die Jugend nicht so unübersichtlich. So viele Jugendstile sind inzwischen erfunden, erprobt und werden gelebt. Wann war früher? Mit Blick auf das Publikum der jungen Wellen des damals neuen Privatradios schrieb der Journalist Rüdiger Becker 1986: "Die Zielgruppe sitzt in der Schule und bei McDonalds, sie steht an der Werkbank und vor der Disco, sie wäscht der Kundschaft die Haare und dem Vater das Auto, die Zielgruppe ist vierzehn, steht auf Madonna, Formel 1 (Fernsehen), Greenpeace und Computer, die Zielgruppe ist aber auch 24, steht auf Tom Waits, Formel 1 (Nürburgring), Stoltenberg und Ökobauernhöfe. Die Zielgruppe hat null Bock und macht Karriere. Sie sucht Lehrstellen, Abenteuer, Geborgenheit und den Sinn des Lebens. Die Zielgruppe ist jung und sehr verschieden ..."


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492.000 Kinder besuchten 1997 die Sekundarstufe I, also die Klassen 5 bis 10, einer Gesamtschule. 406.000 besuchten zur selben Zeit eine Sonderschule. Wo ist, wo war jemals die große öffentliche Diskussion über Mühe und Erfolg der Sonderschulpädagogik?
55 Prozent der Empfänger von Sozialhilfe waren 1997 jünger als 30 Jahre, darunter 32 Prozent jünger als fünfzehn.
1,1 Millionen Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren wurden 1997 in Krankenhäusern vollstationär behandelt. Am häufigsten waren die Klinikaufenthalte schwangerschaftsbedingt (246.000 Patientinnen) gefolgt von Verletzungen und Vergiftungen (212.000), Krankheiten der Verdauungsorgane (130.000) und der Atmungsorgane (90.000).
47 Prozent aller von der Polizei ermittelten Tatverdächtigten waren 1997 zwischen 14 und 30 Jahre alt.
So steht es in einem Spezialdatenband des Statistischen Bundesamtes zum Thema Jugend in Deutschland, veröffentlicht im April 2000.


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Der Leiter einer kirchlichen Jugendeinrichtung, die hauptsächlich von männlichen türkischen Jugendlichen besucht wird, schreibt in seinem Jahresbericht:
"Im Jugendtreff tolerieren wir keine Form von Gewalt und intervenieren sofort. Das heißt auch, dass wir körperliche Auseinandersetzungen strikt unterbinden und nötigenfalls uns nicht scheuen dazwischenzugehen. Wobei Deeskalation im Vordergrund steht. Auf keinen Fall dürfen wir mitprügeln oder parteiisch eingreifen. (...)
Leider haben wir sehr wenige Möglichkeiten, unsere Nutzer des Hauses von den ‘Heldenphantasien′ abzubringen, die zum Beispiel Kung-Fu-Filme bei den Jugendlichen auslösen. (...)
Ein ‘Weichei′ will niemand sein. Unsere Appelle an ein einfühlsames Handeln fruchten, wenn wir dem ‘Täter′ vermitteln können, wie schlecht es ihm in ähnlichen oder gleichen Situationen ergangen ist. Oder wir nutzen den Hinweis auf jüngere Brüder oder Schwestern, die sehr schnell in Schutz genommen werden und denen offensichtlich verletzlichere Gefühle zugestanden werden, um eine Übertragbarkeit herzustellen."


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Beliebtester Politiker ist nach einer Umfrage der Zeitschrift Bravo unter den Vierzehn- bis Achtzehnjährigen Außenminister Joschka Fischer (65%) vor Bundeskanzler Gerhard Schröder (64%) und Altbundespräsident Roman Herzog (62%). Die SPD wird vor allem mit "Zukunft" assoziiert (47%), die CDU vor allem mit "Egoismus" (49%), die Grünen mit "Natur und Umwelt" (85%). Vier Prozent geben auf Befragen an, dass sie Vertrauen in "Parteien" hätten, 61 Prozent halten natürlich "Greenpeace" für etwas Vertrauenswürdiges. 53 Prozent finden die SPD "eher gut", 14 Prozent "sehr gut".


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Der Bahnsteig füllt sich mit buntem Volk. Wie für eine absurde Theateraufführung sind die jungen Leute kostümiert und geschminkt. Blaue Haare, Antennen auf dem Kopf, neonfarbene Tops, Jungs mit langen selbstgebastelten Röcken, unpraktisches Schuhwerk aller Art. Trillerpfeifen, Techno-Musik. Dies ist die Vorhut der Abreisenden, Samstag Abend auf dem Bahnhof in Berlin-Spandau, unmittelbar nach dem "offiziellen" Ende der Love-Parade. Sammeln sich hier diejenigen, für die es nicht so schön war? Die nicht die Nacht weiterfeiern wollen? Oder dürfen?

Zwei Vierzehnjährige kicken eine Cola-Dose über das Pflaster, laut klackernd, aber offenbar bedacht, niemanden zu treffen. Eine Clique steht Schlange am Kartentelefon. Die Sondertruppe von der DB-Auskunft ist umlagert, als gäbe Westbam Autogramme.

Endlich läuft der IC vom Bahnhof Zoo ein, natürlich brechend voll. Bekomme ich meinen reservierten Platz frei? Es klappt anstandslos.

Warum fahren eigentlich so viele Jugendliche zur Love-Parade, kampieren wie die Pfadfinder im Tiergarten und oder am Wannsee, stauen sich kilometerlang auf der Avus, mieten ganz spießige Reisebusse, paradieren wie beim Karneval, bei einer Prozession oder Demonstration über die Prachtstraßen der großen Stadt? Weil da so viele junge Leute sind. Ein uraltes Programm.

Wir kommen zu spät für den letzten Anschluss in Hamburg an, aber die Bahn will die Minderjährigen jetzt nach Hause bringen. Sie setzt Extra-Züge ein. Keine Musik mehr, die Raver sind müde. Kurze Handy-Telefonate. Um 2.20 Uhr erreichen wir endlich Kiel. Der Bahnsteig ist für diese Zeit extrem belebt. Die Eltern.

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