Generationenumbruch und Sozialstaat

"Lebenspolitik" als Antwort auf den flexiblen Kapitalismus

"Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht,
und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung,
ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen."


Karl Marx / Friedrich Engels, 1848

 

Die Republik ist (wieder einmal) auf der Suche nach einem Etikett für die nachwachsende Generation. Diesmal sind es nicht die Wissenschaftler und Publizisten älterer Generationen, dem beruflichen Zwang zur Komplexitätsreduktion folgend. Es sind die 25-40jährigen selbst, die sich eine kollektive Identität verpassen wollen. Die Rede ist von den "89ern", der "Generation Berlin" oder der "Generation Golf". Das Ausdenken von Generationenlabels ist cool. Und das literarische Aufplustern von mehr oder weniger banalen Alltagserlebnissen zur Generationenidentität auch. Sogar die Drogeriekette Schlecker hat den Trend der Zeit erkannt und prägt die "Generation S".

Dennoch drängt sich der Verdacht auf, dass eine kleine postmoderne Elite vor allem über sich selber schreibt. Dies wäre nicht weiter problematisch, würde diese Inszenierung nicht zum Ausgangspunkt der Entwicklung eines politischen Selbstverständnisses gemacht, das die Interessenlagen weiter Teile der jungen Generation aus dem Blickfeld der Feuilletons geraten lässt. Eine Generationendebatte mit politischem Gebrauchswert muss sich von der Fixierung auf die Befindlichkeiten einer selbsternannten Avantgarde lösen und die materiellen Lebensbedingungen junger Erwachsener zu Beginn des 21. Jahrhunderts ins Zentrum rücken. Entscheidend ist die Politisierung der Frage "Wie wollen wir als junge Generation in Zukunft arbeiten und leben?" Und: Lassen sich diese Ansprüche in einem Erneuerungsprojekt für linke Politik bündeln?

Erosion des "Modells Deutschland"

Jede Generation bringt ihre eigenen Prägungen, Deutungen und Strömungen hervor. Allerdings vollzieht sich dies vor dem Hintergrund spezifischer materieller und kultureller Bedingungen (technische Entwicklung, Arbeitswelt, Bildungssystem, soziale Lage etc.), in die eine Generation hineinwächst. Im Rückblick auf die ersten drei Nachkriegsjahrzehnte wird je nach Blickwinkel auch vom sozialdemokratischen Zeitalter, dem Fordismus oder dem rheinischen Kapitalismus gesprochen. Die so bezeichnete historische Epoche stand für die Verbindung von wirtschaftlichem Wachstum, Massenproduktion, Ausbau des Wohlfahrtsstaates und lebenslang vergleichsweise konstanten Erwerbsbiografien - zumindest für den männlichen Bevölkerungsteil. Zusammengehalten wurde das Ganze unter dem von Helmut Schmidt geprägten Begriff "Modell Deutschland" von einem wohlfahrtstaatlichen Basiskonsens und einer bestimmten nationalen Regulationsweise. Für die jetzt junge Generation gelten viele dieser Sicherheiten der "stabilen Vergangenheit" (Richard Sennett) jedoch nicht mehr.

Der Strukturwandel zur Dienstleistungsökonomie, die informationstechnologische Revolution, die Umbrüche der Arbeitswelt und die Herausbildung neuer Lebensweisen sind die prägenden Generationenerfahrungen. Diese sind entscheidender als politische Ereignisse wie der Mauerfall (zumindest für den Westen der Republik) oder der Golfkrieg beziehungsweise politisierend wirkende Katastrophen wie Tschernobyl. Die in den flexiblen Kapitalismus hineinwachsende Generation ist sich dessen bewusst, dass es auch unter Rot-Grün kein Zurück in das "goldene Zeitalter" der fordistisch geprägten Nachkriegsgesellschaft geben kann.

Wesentlicher Kern des neuen Vergesellschaftungsmodus ist der Formwandel der Ware Arbeitskraft. Vielfach wechseln sich unterschiedliche Formen von abhängiger und (schein-)selbständiger Arbeit ab. Wer heute einen Beruf erlernt und in das Erwerbsleben einsteigt, kann sich immer weniger sicher sein, diesen das ganze Leben lang auszuüben. Die Anforderungen an "unternehmerische" Eigenverantwortlichkeit, an zeitliche und räumliche Flexibilität und kontinuierliche Weiterentwicklung der beruflichen Kompetenzen steigen. Selbst wenn der so genannte "Arbeitskraftunternehmer" (Voß/Pongratz) längst nicht in allen Betrieben und Branchen Realität ist, fungiert er doch als Prototyp einer Entwicklung, die von den Beschäftigten nicht nur als Belastung, sondern auch als Chance angesehen wird. Insgesamt nimmt die Notwendigkeit zu, bereits in der Ausbildung planerisch an das eigene Leben heranzugehen und ManagerIn der eigenen Biografie zu sein.

Bildungssystem und Sozialstaat haben diese Entwicklung jedoch noch nicht nachvollzogen. Wer beim beschleunigten Tempo nicht mithalten kann oder will, droht in prekäre Randbereiche der Arbeitsgesellschaft abgedrängt oder ganz abgekoppelt zu werden. Unter den Bedingungen wirtschaftsliberaler Politik, hoher Arbeitslosigkeit und knapper öffentlicher Kassen werden Jugendliche schon früh mit der Konkurrenz um Ausbildungs- und Studienplätze konfrontiert. Dies ist die andere Seite der schönen neuen Arbeitswelt: Ein Viertel der jungen Generation hat längst das Vertrauen in staatliche Politik verloren und sich abgewendet.
Die sozio-ökonomischen Umbrüche forcieren so auch die politische Spaltung. Die Solidaritätsressourcen des Nachkriegs-Sozialstaats werden aufgezehrt, weil die Politik die neuen Realitäten sich selbst überlässt und somit den Trend zu individualisierten Formen der sozialen Absicherung fördert. Aber auch die "traditionalistische" Logik der nach wie vor politisch und kulturell am "Modell Deutschland" klebenden Teile der ArbeiterInnenbewegung wird nicht in der Lage sein, diese Spaltung aufzuheben. Der größte Teil der jungen Erwachsenen ist durchaus für soziale Gerechtigkeit, aber der alte Wohlfahrtsstaatskonsens wird zunehmend als "okkulte Solidarität" (Trentin) wahrgenommen, weil er auf die eigenen Probleme nur unzureichende Lösungen parat hat.
Die vom amerikanischen Soziologen Richard Sennett formulierte Frage beinhaltet auch neue Herausforderungen für die Zukunft des Sozialstaats: "Wie kann ein Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine Identität zu einer Erzählung bündeln?"

Meine Kernthese lautet: Der Kampf um die Köpfe und damit auch die Zukunftsfähigkeit der Linken entscheidet sich über den Generationenwechsel entlang der Sozialstaatsfrage in der "Neuen Mitte" der 20-35jährigen. Entweder es gelingt, die neuen Arbeits- und Lebensrealitäten zum Ausgangspunkt für ein modernes linkes Gesellschaftsprojekt zu machen, oder die individuelle Flucht aus dem Wohlfahrtsstaat wird zunehmen.

Lebenspolitik

Die strategische Herausforderung für die Zukunft linker Politik besteht darin, der Spaltung der jungen Generation gemeinsame Anknüpfungspunkte für eine solidarische und emanzipatorische Politik entgegenzustellen. Im Zentrum einer solchen Erneuerung muss der Anspruch auf individuelle Emanzipation und Partizipation stehen. Hierbei geht es sowohl um die Chance, den eigenen Lebensstil zu entwickeln und zu realisieren, als auch um die Vorstellung von einer zukünftigen Arbeitsgesellschaft in der Leistung, Kompetenz und Eigeninitiative zählen und entsprechend gefördert und honoriert werden. Erforderlich ist eine reformpolitische Antwort auf die Umbrüche des flexiblen Kapitalismus, die Veränderungen akzeptiert, aber "Sicherheit in der Flexibilität" ermöglicht.

Der Ansatz der Lebenspolitik plädiert dafür, die anstehenden Reformen von Bildungssystem, Arbeitsmarktpolitik und sozialer Sicherung auf das Leitbild der "selbstbestimmten Lebensführung" auszurichten und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Ansprüche an staatliche Unterstützung differenzierter geworden sind.

Lebenspolitik muss bereits im Bildungssystem ansetzen und Jugendlichen (zum Beispiel ab 14 Jahren) die Möglichkeit geben, unter Zuhilfenahme professioneller Beratung die eigenen Stärken zu erkennen, persönliche Entwicklungsstrategien zu erarbeiten und Lebensfahrpläne zu entwickeln. Nur so kann auch wieder ein positives Verhältnis zwischen junger Generation und staatlichem Handeln hergestellt werden. Jeder junge Mensch sollte darüber informiert werden, in welcher Lebensphase er auf welche Unterstützungsleistung des Staates zurückgreifen kann.

Eine neue Bildungsreform muss anerkennen, dass sich die Arbeitsgesellschaft gravierend geändert hat und die Bildungsphase bereits als Gleitflug in die Erwerbsarbeit verstanden wird. Die Bildungslaufbahn muss früher mit der Erwerbsperspektive verzahnt werden und sich in die Erwerbsphase ausdehnen.

Sozialstaat á la carte

Auch ein zukünftiger Sozialstaat muss gegen die Interessen einer privilegierten Minderheit erkämpft werden und ist auf eine gerechtere Reichtumsverteilung angewiesen. Das hierfür erforderliche gesellschaftliche Bündnis wird allerdings nur bedingt über abstrakte Grundwertedebatten und Gerechtigkeitsappelle zu formieren sein. Auch der "modernen ArbeitnehmerInnenmitte" (Michael Vester) muss der konkrete individuelle und gesellschaftliche Nutzen des Sozialstaates deutlich werden. Schon allein aus diesem Grunde müssen die Sozialleistungen so weit wie möglich "produktiv" beziehungsweise gesellschaftlich wohlstandsmaximierend und nicht für bloße monetäre Transferleistungen verwendet werden. "Sozialstaat á la carte" bedeutet ein lebensbegleitendes Sozialstaatskonzept, das solidarisch finanziert wird, aber allen individuell wählbare Leistungen und eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglicht.

Der Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft erfordert eine neue Arbeitsmarktpolitik. Sinnvoll wäre die Umwandlung der Arbeitslosenversicherung in eine Arbeitsversicherung, die auch den Erwerbstätigen wählbare Leistungen anbietet. Die Absicherung von Übergängen zwischen unterschiedlichen Beschäftigungen, die Ermöglichung von Qualifizierungsphasen, flexiblen Arbeitszeiten und Auszeiten für private Interessen würde Erwerbsbiografien sozialstaatlich einbetten. Die Arbeitsversicherung wäre die sozialpolitische Grundlage für Zeitsouveränität und lebenslanges Lernen. Sie müsste um eine tarifpolitische Strategie der Gewerkschaften ergänzt werden.

Die steigende Frauenerwerbstätigkeit, der Wandel der Familien und die demographische Entwicklung erfordern ein flexibles und finanzierbares Dienstleistungsangebot. Daher sollten auch strukturpolitische Überlegungen zur Förderung des Dienstleistungssektors auf der Angebotsseite mit individuellen Wahlmöglichkeiten auf der Nachfrageseite verbunden werden. Ein Teil der Steuereinnahmen könnte den BürgerInnen beziehungsweise Haushalten pro Kopf in Form von Dienstleistungskonten zurückerstattet werden. Diese können als eigene Währung für die lokale Ökonomie je nach individueller oder familiärer Bedürfnislage bei HandwerkerInnen, BabysitterInnen, Nachhilfeunternehmen oder Agenturen für Haushaltsdienste gegen Dienstleistungen eingetauscht werden.

Das vorhandene Potenzial an Kreativität und gesellschaftlicher Solidarität bleibt in der Regel sich selbst überlassen. Die Quelle für das zunehmende Bestreben, sich selbständig zu machen, ist oftmals nicht in der Profitorientierung, sondern in Motiven der Selbstverwirklichung, der Umsetzung eigener Ideen oder dem Bestreben, keinen Chef über sich zu haben, zu sehen. Innovations- und Existenzgründungspolitik werden aber gleichgesetzt mit der Hoffnung auf die Züchtung vieler kleiner deutscher Bill Gates‘. Die Förderung von "SozialunternehmerInnen", die nicht-marktgängige Dienstleistungen im gesellschaftlichen Interesse anbieten - von Kultur- und Medienprojekten bis hin zu spezialisierten Beratungsdiensten für VerbraucherInnen - könnte die Kreativität und Eigeninitiative bündeln. Hier bietet sich eine Schnittstelle zur Stärkung des Non-Profit-Sektors zwischen Markt und Staat beziehungsweise einer "solidarischen Ökonomie".

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