Allerweltspartei oder Wille zur Hegemonie - was will die SPD?



1 Am 1. Juni dieses Jahres erschien in der Welt unter der Überschrift „SPD ohne Strategie“ einer jener Beiträge, die sich der zyklisch aktuellen Frage widmen, ob die SPD noch eine Zukunft habe. Der Autor Daniel Friedrich Sturm veranschaulichte den angeblich zu starken Traditionsbezug der SPD, indem er behauptete, die Funktionäre der SPD in Nordrhein-Westfalen würden schon morgens Erbensuppe essen und Pils trinken.

Es ist Skepsis angebracht, ob sich der Autor im modernen Leben gut auskennt – sonst wüsste er, dass nicht das Biertrinken an sich, sondern die Wahl der Biermarke die eigentliche Distinktionslinie zwischen den Milieus markiert. Das Zitat findet hier dennoch Erwähnung, weil es Ausdruck eines großen politischen Missverständnisses ist: Ein bestimmtes Milieu vertritt die stark lebensstilgeprägte Auffassung, es sei eine kluge Strategie, wenn die Sozialdemokratie sich zu einer links-bürgerlichen Formation wandelt.

Gewiss stellt sich die strategische Frage nach der Attraktivität der SPD für die modernen Mittelschichten durchaus – aber im Bündnis beziehungsweise in einem gesellschaftlichen Block mit den „kleinen Leuten“ und nicht mit dem eingangs zitierten Habitus der Arbeiterklassenverachtung. Im Jahr 1985 – drei Jahre zuvor hatte die SPD im Bund die Macht verloren – fragte sich der damalige SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz unter Bezugnahme auf Antonio Gramsci, warum der „schwersten Beschäftigungskrise seit den dreißiger Jahren“ in einigen Kernländern des Westens so viele Wahlerfolge der Rechten folgten. Seine Analyse: Die „ökonomisch führende Schicht – eine schmale Gruppe von Vermögensbesitzern“ habe die entscheidenden Zwischenschichten sowie ein Drittel der Arbeiterschaft „kooptiert“. Verstärkt durch „wichtige opinion leaders in Betrieben und Verwaltungen“ sah Glotz diese Koalition der Rechten als einen „historischen Block“ formiert. Dieser Block hielt gut zwei Jahrzehnte, auch die zwischenzeitliche Hochphase der europäischen Sozialdemokratie hat ihn nicht aufsprengen können.

2 Nach Lehman-Crash und Fukushima scheint nun wieder vieles offen zu sein, nur entwickeln sich die Dinge nicht zwangsläufig zugunsten der Sozialdemokratie: Der Neoliberalismus ist vorerst „out“, und spätestens seit Fukushima wird deutlich, dass sich ein neubürgerlich-ökologischer Block herausbilden könnte. Denn rund um den „Lifestyle of Health and Sustainability“ bündeln sich ökonomische Zukunftsmärkte, das „gute Gefühl“ und die Möglichkeit zur bürgerlichen Distinktion gegenüber den Trinkern der falschen Pilsmarken. Das Dumme ist nur: So verdienstvoll der Beitrag der SPD zum ökologischen Bewusstsein unserer Gesellschaft auch ist – für einen öko-kapitalistischen Block wird sie nicht gebraucht. Hingegen wäre ihre Aufgabe, die sozialen Fragen des frühen 21. Jahrhunderts aufzuwerfen und die Anliegen der Arbeitnehmer (aber auch eine eigene Idee von Industrie- und Strukturpolitik) in die hegemonialen Kämpfe und das Projekt eines sozial-ökologischen „New Deal“ einzubringen.

Doch zwei Fragen sind ungeklärt. Zum einen: Will die SPD in einem neuen post-neoliberalen, sozial-ökologischen Block noch eine führende Rolle übernehmen? Zum anderen: Wie könnte dieser aussehen? Bejaht man Frage eins, was durchaus nicht selbstverständlich ist, hat dies zwei Konsequenzen. Die erste Konsequenz lautet, dass die Qualität der Erwerbsarbeit als „Epizentrum der sozialen Frage“ (Robert Castel) den Kern eines solchen Blocks bilden muss. Wir haben in Deutschland über 40 Millionen Erwerbstätige, darunter knapp 36 Millionen abhängig Beschäftigte – mehr als je zuvor. Doch wer bringt die Anliegen der mobilen Wissensarbeiter, der Kleinunternehmer und Solo-Selbständigen, der Facharbeiter und Angestellten sowie der prekär Beschäftigten (und zwischen all diesen Gruppen gibt es Schnittmengen) politisch-diskursiv zusammen, wenn nicht die SPD?

Dies wiederum wird aber nur möglich sein, wenn eine zweite Konsequenz folgt: eine moderne Kapitalismus- und Ideologiekritik. Es ist ein Jammer, dass soziale Konservative die Widersprüche und Auswirkungen des flexiblen Kapitalismus klarer und schärfer benennen als mancher Sozialdemokrat. „Gute Arbeit“ für alle wird es nur geben, wenn der Kapitalismus neu reguliert und eingebettet wird. Das bedeutet im Kern, das Verteilungsproblem und die Demokratiefrage wieder zu Anliegen der Sozialdemokratie zu machen. Kritisches Nachdenken über unsere Arbeitswelt gibt es allerorten, selbst unter hochqualifizierten Mitarbeitern im Bankensektor. Es wird nur nicht politisch-diskursiv gebündelt.

3 Die SPD muss sich also entscheiden. Will sie eine Allerweltspartei der „neuen gemäßigt linken gesellschaftlichen Mitte“ (Franz Walter) sein, die politische Aufgaben aus der jeweiligen Alltagssituation heraus beantwortet, als Scharnierpartei für verschiedene Koalitionsoptionen bereitsteht und mit anderen Parteien in erster Linie auf den Ebenen der Personen und der Performanz konkurriert? Eine solche Partei wird hier und da bestimmt auch ihre Wahlerfolge erzielen, aber sie ist letztlich austauschbar. Oder will die SPD einen Neubeginn als „sozialintegrative Arbeitnehmerpartei für das 21. Jahrhundert“ wagen, die den Einsatz für Gleichheit, Freiheit und soziale Gerechtigkeit als ihr Kerngeschäft versteht und die bei allem Realismus in Bezug auf die Zwänge der Tagespolitik immer noch eine leidenschaftliche Idee von einer besseren und gerechteren Gesellschaft hat? «

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