Gerecht und Modern
Die Rituale wiederholen sich: Nach verlorenen Wahlen – wie zuletzt in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt – und angesichts schlechter Umfragewerte werden Richtung und Kurs der SPD innerhalb der Partei umgehend infrage und zur Diskussion gestellt. Während die einen den sozialdemokratischen Markenkern stärken und ausschliesslich auf mehr Gerechtigkeit setzen wollen, sehen die anderen die SPD zu wenig an der Seite der „Leistungsträger“ der Gesellschaft und wollen die Partei mit Zukunftsthemen stärker in die Mitte rücken. Dabei wird ein Widerspruch zwischen Gerechtigkeit und Modernität aufgemacht.
Hat man besonders die Gerechtigkeit im Blick, so ist das zumeist mit einer schonungslosen Fehleranalyse verbunden: Agenda 2010 und die Sozialreformen als neoliberaler Irrweg eines ebensolchen Zeitalters. Hat man hingegen die Mitte und die Moderne im Blick, wird stolz auf die Erfolge dieser wegweisenden Reformepoche verwiesen, gleichzeitig verbietet man sich jede Diskussion über Steuererhöhungen jeglicher Art, da diese ja in jedem Fall die Leistungsträger der Mitte verprellen würden. Diese Vielstimmigkeit und der scheinbare Gegensatz zwischen Gerechtigkeit und Moderne, den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gerne zelebrieren, führen dazu, dass die Wählerschaft der Partei kein eindeutiges Profil zuschreiben kann.
Gleiche Freiheit, gleiche Lebenschancen
Ein Blick in die Vergangenheit macht klar: Gerechtigkeit und Modernität sind gerade für Sozialdemokraten kein Gegensatz. Die SPD war immer dann erfolgreich, wenn sie Innovation und Gerechtigkeit, Fortschritt und Zusammenhalt miteinander verbunden hat. Sie war erfolgreich, wenn sie auf der einen Seite das Vertrauen ihrer klassischen Anhängerschaft besaß, zum anderen aber auch für neue Wählerschichten attraktiv war und dabei von den intellektuellen Eliten des Landes getragen wurde.
Das Hamburger Grundsatzprogramm der SPD aus dem Jahr 2007 macht deutlich, dass Gerechtigkeit verschiedene Facetten hat und umfassend zu definieren ist: als gleiche Lebenschancen und Teilhabe, als gerechte Verteilung von Einkommen, Vermögen und Macht sowie als Anerkennung von Leistung: „Gerechtigkeit gründet in der gleichen Würde jedes Menschen. Sie bedeutet gleiche Freiheit und gleiche Lebenschancen, unabhängig von Herkunft oder Geschlecht. Also meint Gerechtigkeit gleiche Teilhabe an Bildung, Arbeit, sozialer Sicherheit, Kultur und Demokratie, gleichen Zugang zu allen öffentlichen Gütern. … Gerechtigkeit (erfordert) mehr Gleichheit in der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Macht. Denn große Ungleichheiten in deren Verteilung gefährden die Gleichheit der Lebenschancen. … Leistung muss anerkannt und respektiert werden. Gerecht ist eine der Leistung angemessene Verteilung von Einkommen und Vermögen.“
Um erfolgreich zu sein, muss die SPD es schaffen, den scheinbaren Widerspruch zwischen Gerechtigkeit und Modernität innerhalb der Partei zu überwinden. Modernität und Gerechtigkeit sind keine Gegensätze. Beides gehört für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zusammen. Das müssen wir klar benennen und nach außen hin glaubhaft vertreten, anstatt je nach Gelegenheit erst das eine und das andere in den Vordergrund zu stellen. Nur so kann eine eindeutige Profilzuschreibung durch die Wählerschaft zurückgewonnen werden. In den folgenden Themenkomplexen möchte ich aufzeigen, dass gerade sozialdemokratische Politik gleichzeitig gerecht und modern ist und sein muss.
Die Schere zwischen »Prekariat« und „Panama“
Bürgerinnen und Bürger verstehen Gerechtigkeit heute in einem umfassenden Sinne. Sie verbinden in ihren Vorstellungen einer gerechten Gesellschaft sehr stark die Aspekte Sicherheit und Chancen. Sie wünschen sich eine gerechte und gute Bildung, Absicherung bei Krankheit und im Alter, Unterstützung für Kinder und Familien, gerechte Verteilung der Lasten, eine faire Gestaltung der Arbeitswelt und mehr Souveränität für die Beschäftigten, echte Gleichstellung von Frauen und Männern sowie die Stärkung der Zivilgesellschaft und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Sicherheit bedeutet dabei zum einen die solidarische Absicherung der zentralen Lebensrisiken und zum anderen einen starken Staat, der die Schwachen schützt und öffentliche Sicherheit gewährt. Gerade in einer sich verändernden Arbeitswelt kommt es darauf an, Sicherheit im Wandel zu garantieren. Zugleich muss eine gerechte und solidarische Gesellschaft Chancengleichheit für alle von Anfang an sicherstellen und auch immer wieder neue Chancen eröffnen. In der konkreten Ausgestaltung sozialdemokratischer Politik sind Sicherheit und Chancen, Modernität und Gerechtigkeit, keine Gegensätze, sondern bedingen einander.
Gerade in einer sich verändernden und immer schneller entwickelnden Arbeitswelt im Zeitalter von Industrie 4.0 wird gute Bildung immer wichtiger, um in unserer Gesellschaft zu bestehen. Das gilt von Beginn an: für die Betreuung der Kleinsten, über Schule, Ausbildung oder Studium bis zur Weiterbildung. Die SPD bleibt deshalb auch weiterhin die Partei der Bildungsgerechtigkeit. Zudem ist eine starke wirtschaftliche und soziale Infrastruktur die zentrale Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die SPD muss deshalb dafür sorgen, dass Infrastruktur nicht verkommt und notwendige Investitionen rechtzeitig, vorausschauend und wirksam getätigt werden.
In den kommenden Jahren werden mehr öffentliche Mittel benötigt: zur weiteren Verbesserung von Bildung und Betreuung, zur Aufwertung der sozialen Berufe, zur Stärkung unserer sozialen Sicherungssysteme und für Investitionen in die öffentliche Infrastruktur. Zugleich muss der zunehmenden Ungleichheit bei den Vermögen entgegengewirkt und die Schere zwischen „Prekariat“ und „Panama“ geschlossen werden. Hierfür brauchen wir mehr Steuergerechtigkeit. Steuerpolitische Maßnahmen müssen deshalb diskutiert werden – ohne dass die Facharbeiterin oder der Ingenieur Angst vor sozialdemokratischer Steuerpolitik haben muss. Dabei ist klar, dass Arbeitseinkommen nicht stärker belastet werden dürfen als Einkommen aus Kapitalvermögen. Und vor allem können wir nicht akzeptieren, dass dem Staat aufgrund von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung jedes Jahr mehr als 150 Milliarden Euro verlorengehen – weit mehr als jede neue Steuer oder Steuererhöhung einbringen würde. Hinzu kommt aber auch die andere Seite: So sollte sich sozialdemokratische Politik wieder weit mehr um die Frage kümmern, wie Vermögensbildung für breite Schichten besser gelingen und besser unterstützt werden kann.
Die SPD steht dafür, die sozialen Sicherungssysteme zu stärken, bei denen Menschen für Menschen, Starke für Schwache, Gesunde für Kranke, Junge für Alte eintreten. Dabei stehen wir vor der zentralen Aufgabe, die Sicherungssysteme an die Herausforderungen des demografischen Wandels und der veränderten Arbeitswelt anzupassen. Dies bedeutet besonders die Einbeziehung möglichst vieler Erwerbsformen und Einkommensarten in eine gerechte Finanzierung sowie verstärkte Prävention, um die Kosten zu reduzieren. Das Projekt der solidarischen Bürgerversicherung muss deshalb von der SPD in der nächsten Legislaturperiode endlich in die Tat umgesetzt werden. Selbständige sollten wir konsequent in die Systeme der sozialen Sicherung einbeziehen.
Die Herausforderungen des demografischen Wandels für die Alterssicherung können wir nur bewältigen, wenn die Lasten gerecht zwischen den Generationen und verschiedenen Formen der Finanzierung verteilt werden. Eine sozialdemokratische Politik fordert gleichermaßen die Stärkung der ersten Säule, der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente, und ebenso eine möglichst flächendeckende kapitalgedeckte betriebliche Altersvorsorge.
Partei des gesellschaftlichen Zusammenhalts
Eine Stabilisierung des Rentenniveaus setzt eine weiterhin positive Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung voraus. Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik sind daher auch Rentenpolitik. Darüber hinaus kann auch die konsequente Finanzierung von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben – beginnend bei der Mütterrente – über Steuermittel zu einer Stabilisierung des Rentensystems beitragen.
Die SPD hat in der Vergangenheit den Mut für umfassende Strukturreformen am deutschen Arbeitsmarkt gehabt. Damit wurde eine wichtige Grundlage zum Abbau der strukturellen Arbeitslosigkeit und zum starken Wachstum der Beschäftigung in den vergangenen Jahren gelegt. Natürlich gab es dabei auch Fehler und Versäumnisse. Deshalb waren und sind Korrekturen nötig. Der gesetzliche Mindestlohn ist dafür ein Beispiel. Zudem wurden erste wichtige Schritte zur Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen angegangen. Darüber hinaus bedarf es noch mehr Anreize, um die Tarifbindung zu stärken. Denn alle internationalen Studien zeigen, dass eine starke Tarifbindung der zentrale Hebel für mehr Lohngerechtigkeit ist.
„Fördern“ und „Fordern“ gehören in einer sozialdemokratischen aktiven Arbeitsmarktpolitik zusammen. Dazu braucht es gute Beratung und Betreuung in den Arbeitsagenturen sowie in den Jobcentern. Sozialdemokratisch ist es, die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung, die Bundesagentur für Arbeit zu einer Agentur für Arbeit und Qualifizierung weiterzuentwickeln.
Die Digitalisierung der Arbeitswelt stellt veränderte Anforderungen an eine Politik, die auf Selbst- und Mitbestimmung der Beschäftigten setzt. Diese Herausforderung möchte die SPD gemeinsam mit den Sozialpartnern gestalten, um die neuen Möglichkeiten für mehr Flexibilität und Zeitsouveränität für die Beschäftigten zu nutzen. Mehr Zeitsouveränität und mehr mobiles Arbeiten sind eine Chance für eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbs- und Privatleben. Neue Arbeitszeitmodelle müssen – neben anderen Lebensmodellen – besonders den sich wandelnden Vorstellungen von jungen Eltern gerecht werden und eine partnerschaftliche Arbeitsteilung von Erwerbsarbeit und Sorgearbeit ermöglichen.
Die Familie prägt die solidarische Gesellschaft beispielhaft. Kinder sind die Zukunft einer Gesellschaft, sie sichern den Wohlstand und die Sozialsysteme von Morgen. Deshalb ist es die wichtigste Zukunftsaufgabe, Kindern einen guten Start ins Leben zu geben und die Rahmenbedingungen für das Elternsein möglichst gut zu gestalten. Beste Bildung und Betreuung, Unterstützung für Familien und mehr Zeitsouveränität sind deshalb die Eckpfeiler einer modernen und gerechten sozialdemokratischen Familienpolitik.
Die SPD hat schon viel bewegen können – muss aber weiter dran bleiben: mit der von Manuela Schwesig vorgeschlagenen geförderten Familienarbeitszeit und mit dem von Andrea Nahles geplanten Wahlarbeitszeitgesetz. Ihre Politik bedeutet ein flexibleres Verständnis von Vollzeitarbeit, mit dem unterm Strich sogar zusätzliches Arbeitspotenzial gewonnen werden kann, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Die SPD ist die Partei der Integration und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Eine soziale und solidarische Gesellschaft besitzt eine starke Integrationskraft. Gerade bei der Integration von Flüchtlingen beweist unsere Zivilgesellschaft diese Kraft – es engagieren sich deutlich mehr Menschen für Flüchtlinge als gegen sie demonstrieren. Die SPD sollte sich als Bündnispartner dieser zivilgesellschaftlichen Kräfte verstehen. Integration ist eindeutig ein zweiseitiger Prozess. Ob er gelingt, hängt von uns allen ab: Die einen müssen integrieren, die anderen zur Integration bereit sein. Jedoch kann nur eine Gesellschaft, die zusammensteht, Menschen am Ende auch gut integrieren. Deshalb sprechen wir seit Monaten von der doppelten Integration – der neu Hinzugekommenen, aber auch derjenigen, die schon da sind und auf Unterstützung und Solidarität angewiesen sind. Die Schwachen dürfen nicht gegen die Schwächeren ausgespielt werden. Zugleich ist Integration ein Prozess, der alle staatlichen Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – in die Verantwortung nimmt.
Das Soziale Europa bauen
Vieles kann heute nicht mehr national, sondern nur noch gemeinsam mit den europäischen Partnern gelöst werden. Die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratie entscheidet sich nicht nur durch nationales Handeln, sondern auch dadurch, ob es gelingt, ein soziales Europa zu bauen. Die SPD muss sichtbar dafür kämpfen, dass die Regeln der internationalisierten Wirtschaft nicht den Märkten überlassen werden, sondern dass diese Regeln politisch gestaltet werden. Zudem muss sich die SPD in ihrer Tradition als Friedenspartei für ein Deutschland mit gewachsener Verantwortung in Europa und der Welt stark machen.
Die SPD war immer dann stark, wenn sie Innovation und Gerechtigkeit, Fortschritt und Zusammenhalt miteinander verbunden hat und zudem die richtigen Antworten auf die zentralen Zukunftsthemen hatte. Die SPD ist die richtige Partei, die Zukunft unserer Gesellschaft positiv zu gestalten – mit Zuversicht und nicht mit Angst, gerecht und modern. Nur wenn es uns als Sozialdemokraten gelingt, Zuversicht auszustrahlen und schlüssige Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft zu geben, werden wir auch diejenigen mitnehmen können, die zweifeln und Ängste haben.«
Dieser Artikel entstand auf Basis von Diskussionen im Netzwerk Berlin.