Gerhard als Wolke

Der sozialdemokratischen Leitkultur fehlt die junge Garde einer neuen SPD-Programmatik

Immer noch hat der Kanzler in Umfragen klar die Nase vorn. Gleichwohl: Man ist im Kanzleramt und im Willy-Brandt-Haus keineswegs mehr felsenfest davon überzeugt, daß die Bundestagswahlen 2002 schon unzweifelhaft gewonnen sind. Schließlich gab es nach einem schönen und harmonischen Sommer auch wieder einige mißliche Pannen im Regierungsmanagement. Zudem haben die Lehrlinge im neuen CDU-Establishment zuletzt erkennbar an Sicherheit gewonnen. Und dann sind da noch einige schlechte Nachrichten aus dem Ausland, die den Strategen in der Regierungszentrale Kummer und Sorgen bereiten. In Amerika boomt seit Jahren die Wirtschaft; aber der demokratische Präsidentschaftskandidat ist gescheitert. Von Norwegen bis Holland haben die europäischen Sozialdemokraten erfolgreich regiert, haben Schulden abgetragen und Arbeitslosenzahlen reduziert. Und doch werden sie dafür nirgendwo enthusiastisch gelobt oder innig geliebt. Im Gegenteil, die Menschen nörgeln und nöckeln. Demoskopisch zumindest stehen die auswärtigen Genossinnen und Genossen Schröders trotz hochbeachtlicher Leistungsbilanzen ganz überwiegend mies da. Bilanzen wärmen eben nicht, heißt es daher warnend und meist noch verhalten in der SPD. Und: Es fehle einfach die Botschaft, die neue sozialdemokratische Erzählung.

Ein wenig sehen das offenbar auch die Schröder-Berater so. Deshalb basteln sie seit einiger Zeit an einem Kanzlerimage, das den Amtsinhaber nicht mehr ganz als prinzipienlosen Machtmenschen aussehen läßt. Sie schrieben ihm gravitätische Sätze zur Zivilgesellschaft auf. Aber das wärmte erst recht niemanden. Zivilgesellschaft - das klingt professoral, nach evangelischer Akademie in Tutzing oder sonstwo. Aber es klingt nicht nach Schröder. Es klingt nach all denen, die der Kanzler herzlich verachtet. Auch der präsidiale Habitus, den sich Schröder in den Zeiten der Krise der Christdemokraten und des eigentlichen Bundespräsidenten der Republik zulegte, wirkte an ihm stilisiert, aufgesetzt, unecht. Überhaupt funktioniert in parlamentarischen Demokratien die präsidiale Pose bei Regierungschefs nicht lange. Ludwig Erhard hatte sie in den 60ern versucht und ist jämmerlich gescheitert. Als Willy Brandt nach Nobelpreis und Wahlsieg 1972 damit begann, präsidial über den Niederungen von Parlaments- und Parteiendemokratie zu schweben, dauerte es nicht lang, bis er - als "Willy Wolke" verspottet - brachial abstürzte. Schröder sollte es als "Gerhard Wolke" der Zivilgesellschaft besser erst gar nicht versuchen. Es würde noch schlimmer danebengehen.

Gewiß, Politiker müssen Theater aufführen. Aber am überzeugendsten gerät ihr Auftritt, wenn sie sich gewissermaßen selber spielen. Schröder als grübelnder Staatsphilosoph und väterlicher Werteverkünder - das wirkt wie eine Parodie. Nach vorn kam Schröder nicht als weiser Charismatiker, sondern als rüder und rempliger Aufsteiger, der sich zäh und zielstrebig hochboxte, Gegner und Freunde unsentimental aus dem Feld warf, Chancen blitzschnell erfaßte und kalt ergriff. Mit diesem Macher- und Machoimage hatte er in den 90er Jahren die Konsumenten von Hansa-Pils hier und Prosecco dort gleichermaßen beeindruckt und zu einer ungewöhnlich breiten Wählerkoalition für die SPD zusammengefügt. Im Grunde ist und bleibt das Schröders Positivimage, auch wenn linksliberale Feuilletonschreiber darüber regelmäßig ihr Näschen rümpfen: ein Macher, der weiß wo seine Wurzeln liegen, dessen Biographie für wolkige Verkündungen nicht viel Platz ließ, der zwar keine großen Zukunftsentwürfe parat hat, aber mit wachem Instinkt die wenigen Handlungsmöglichkeiten, die Politikern heute überhaupt noch bleiben, durchaus populistisch nutzt. Und der im übrigen sehr genau die Sicherheitsneigungen seines Volkes kennt und sie ohne die geringsten ordnungspolitischen Skrupel in heiklen Situationen bedient.

Immer noch ist das das eigentliche Schröder-Image, mit dem der Kanzler und seine Partei entscheidende Punkte machen. In gewisser Weise verkörpern der Kanzler und seine Sozialdemokraten damit zwar nicht die deutsche Leitkultur, so aber doch die Leitmentalität der Mehrheitsdeutschen: Sicherheit und leistungsorientierter Aufstieg. Denn die dominante Leiderfahrung der Deutschen nach einem Jahrhundert von Kriegen und Krisen, von Inflationen und Depressionen, von Flucht und Vertreibung war die Unsicherheit. Und aus dieser Leiderfahrung erwuchs die Leitmentalität der Sicherheit. Dazu kam dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die neue Massenerfahrung des Aufstiegs durch Leistung. Dagegen sind die klassischen bildungsbürgerlichen Leitkulturen von Religion und Nationalismus hinwegsäkularisiert worden, geistig und sozial. Es gibt sie eben kaum noch: die konservativen Studienräte, die deutschnationalen Hochschullehrer, die nationalistischen protestantischen Pfarrhäuser, die Traditionspfleger von Heimat, Sitte und Brauchtum, den völkischen Adel und die soldatischen Jungmännerbünde. Zurück geblieben ist die säkularisierte und im Prinzip weitgehend sozialdemokratisierte Sicherheits- und Aufstiegsgesellschaft, deren ganz typischer Protagonist eben Gerhard Schröder ist (oder jemand wie Oskar Lafontaine ebenfalls gewesen wäre).

Deshalb ist Schröder nicht zufällig Kanzler. Im Grunde benötigt er jetzt eigentlich einen klugen Programmatiker, der seinen Politikstil - den Habitus des Pragmatikers und institutionell gebremsten Populisten in der säkularisierten und sozialdemokratisierten Sicherheits- und Aufsteigergesellschaft - konzeptionell veredelt, der das ganze in die Parteihistorie einfügt, mit einigen Zielperspektiven verknüpft und dann leitkulturell für die gesellschaftliche Mitte verallgemeinert. So wie Karl Kautsky einst August Bebel die Programme schrieb, wie Rudolf Hilferding früher für Otto Wels die Stichworte lieferte, wie Willi Eichler dann für Ollenhauer den ethischen Sozialismus lieferte, oder wie Egon Bahr schließlich für Willy Brandt die Ostpolitik vorformulierte.

Ein Kanzler selbst muß und sollte gar kein Programmatiker sein. Doch einen Theoretiker der populistisch-pragmatischen Realpolitik mit reflexivem Sinn für Machbares und Mögliches, mit validen Kenntnissen der Geschichte, mit analytischen Begriffen der Gegenwart und mit einprägsamen Bildern der Zukunft gibt es in der Schröder-SPD nicht. Die alte Garde sozialdemokratischer Programmatiker trauert melancholisch den schönen Grundwertediskursen der Vergangenheit nach. Und ein neuer Denkerzirkel, der über zielorientierte Steuerungs- und Handlungstrategien in den eng gewordenen Räumen der (europäischen) Verhandlungs- und Koordinationsdemokratie reflektieren müßte, hat sich nicht gebildet. Der alten Programmpartei SPD ist der programmatische Nachwuchs abhanden gekommen. Infolgedessen existiert da ein geistig-kulturelles und programmatisches Loch unterhalb der sozialdemokratischen Kanzlerschaft und der zivilgesellschaftlichen Feiertagslyrik. Daher sind sich die Sozialdemokraten ihrer selbst nicht sicher. Sie wissen nicht recht, wo sie stehen und wohin es geht. Deshalb ist ihre Stimmung so labil, so unsicher, so verzagt - aller schönen Umfragedaten zum Trotz.

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