Goodbye Giddens?

In diesen Tagen geht der Erfinder des Dritten Weges in Rente. Ein Porträt

Anthony Giddens hätte auch Schauspieler werden können. Wenn er die Bühne betritt, strahlt er eine Aura der Sicherheit aus. Anders als bei Akademikern üblich, fühlt er sich im Rampenlicht wohl. Wenn Giddens hemdsärmelig vor seinem Publikum steht, sich bewusst nicht hinter, sondern neben das Rednerpult stellt, scheint die flüssige Rede natürlich. Der Redestil ist angenehm unaufgeregt, der pointierte Plauderton überwiegt. Nur ab und zu stampft er leise mit dem Fuß auf, um einen wichtigen Punkt zu bekräftigen.

Giddens genießt es zu reden. Wer Giddens und Blair, the Tony & Tony Show, zusammen auf der Bühne erlebt, hält Giddens für den professionellen Vollblutpolitiker, während Blair zu Beginn die Zuschauermenge skeptisch beäugt und beinahe etwas verunsichert wirkt. Blair ist ein hervorragender Redner, aber er braucht eine Weile, um in seine Rolle zu schlüpfen. Giddens dagegen scheint die Rednerrolle verinnerlicht zu haben. In den vergangenen sechs Jahren hieß die Bühne für Giddens London School of Economics (LSE), wo im September 2003 seine Amtszeit als Direktor endete. Die LSE, an der Giddens auch studiert hat, war für ihn in vieler Hinsicht eine einzige große Bühne; passenderweise sind hier alle großen Vorlesungsräume alte Theatersäle. Und wie beim Theater üblich, sind die Kritiker über das Stück, den Autor und die Protagonisten zutiefst zerstritten. Giddens, Blair und der Dritte Weg bilden keine Ausnahme.


Viel ist über, gegen und von Giddens geschrieben worden. Schon mit seiner umfangreichen wissenschaftlichen Arbeit war Giddens kontrovers, der Dritte Weg hat ihn in den neunziger Jahren als Reizfigur auch in die breite öffentliche Diskussion geführt. Giddens gilt als der wahrscheinlich bedeutendste Soziologe der Gegenwart; zumindest ist er der am meisten zitierte, und sein Standardwerk, mit charakteristischem Selbstbewusstsein schlicht Sociology betitelt, wird jedem Studienanfänger in die Hand gedrückt. Vielleicht erklärt das ein wenig den beinahe größenwahnsinnigen Anspruch, den Giddens in Beyond Left and Right (1994) und The Third Way (1998) erhebt: eine "neue politische Philosophie zu erschaffen", die jahrhundertealte Ideologien überwindet. Man braucht Selbstgewissheit, um einen solchen Anspruch geltend zu machen. Aber daran mangelt es Giddens eben nicht. Weil ein so überhöhter Anspruch automatisch zum Scheitern verurteilt ist, fällt es leicht, den Dritten Weg zu kritisieren. Aber wenn der Dritte Weg pauschal als schwammig und unpraktikabel gescholten wird, dann stellt sich oftmals die Frage: Sind denn Erster und Zweiter Weg immer klar und praktikabel?


Um die Ideen des Dritten Weges zu begreifen, muss man Giddens aus seinem Hintergrund und seiner Motivation heraus verstehen - und ihn vielleicht einmal live gesehen haben. Das gleiche gilt im übrigen für Giddens′ Seelenverwandten Blair, dessen chimärenhafte Personalität zahlreiche Biografen immer noch nicht entschlüsseln konnten. Giddens über den Weg zu laufen war für Studenten der LSE nicht schwer, weil er gerne über den Campus flanierte, um auf Menschen zuzugehen. Viele seiner Vorgänger verließen hingegen selten ihr Büro.


Giddens ist ehrgeizig, aber nicht eitel. Sein Selbstbewusstsein schwankt zwischen optimistischer Schwärmerei für Dinge, an die er glaubt und durch die er andere mitreißen kann, und einer gewissen provokativen Arroganz, die schnell in Übertreibungen abdriftet. Einer seiner Lieblingssprüche, um die LSE mit spitzbübischem Lächeln vorzustellen, lautete: "LSE - the place to be". Als ob es nichts anderes gäbe. Nun ist die LSE sicherlich eine der führenden sozialwissenschaftlichen Hochschulen, aber dass sie die beste sei, war dann doch eine Behauptung, die vielen Professoren an der LSE nicht behagte. Andererseits hat die enorme Aufbruchstimmung, die Giddens bei Amtsantritt an der LSE verbreitete, viele namhafte Professoren, wie etwa David Held, John Gray, Richard Sennett und jeweils halbjährlich Ulrich Beck und Saskia Sassen, überhaupt erst an diese Hochschule geholt. Giddens wirkt wie ein Magnet, der Menschen aus allen Winkeln anzieht - und angezogen wird, denn Giddens selbst sucht die Nähe zu großen Stars wie Tony Blair und Bill Clinton. Gerade Blair und Clinton bringen ihrem "Guru" Giddens jedoch auch großen Respekt entgegen. Als Giddens 1998 die renommierten Reith Lectures für die BBC in New York hielt, wartete ein gewisser Mister Bill Clinton im Publikum brav so lange, bis er endlich seine Frage an Professor Giddens stellen durfte. Trotz der Nähe zu den Mächtigen der Welt ist Giddens bisher eher down to earth geblieben. Er legt Wert darauf, mit "Tony" statt mit irgendeinem Professoren- oder Direktorentitel angesprochen zu werden; die für LSE-Direktoren übliche Erhebung in den Ritterstand hat er bisher abgelehnt. Anders als einer seiner Vorgänger, Ralf Dahrendorf, wird er wohl nicht ins House of Lords einziehen. Für jemanden, der weiß, wie man sich in Szene setzt, hat Giddens Auftritte im Fernsehen auffallend gemieden.

Der Wahnsinn des Dritten Weges hat Methode

Viele haben den Dritten Weg missverstanden, weil sie nicht erkannten, dass der Wahnsinn Methode hat. Die provozierende Überspitzung von Thesen und die kreative Integration von Ideen, die eigentlich als unvereinbar gelten, kennzeichnen mehr oder weniger alle wissenschaftlichen Arbeiten von Giddens. Das beste Beispiel ist jenes, mit dem er in der Soziologie am berühmtesten (manche meinen: am berüchtigtsten) wurde - seine Theorie der Strukturation aus dem Jahr 1979. Das Problem ist so einfach, wie es alt ist: Bestimmen wir als Akteure, wie sich die Welt verändert? Oder konditionieren übergreifende Strukturen uns als Akteure? Die Antwort war so typisch für Giddens, wie sie damals neu war: beides. Doch wie dieser Mittelweg, die gegenseitige Beeinflussung von Akteuren und Strukturen nun im Detail aussieht, das war eine der Kleinigkeiten, auf die Giddens nicht allzu viel Zeit verlor. Interessanterweise hatte Roy Bhaskar im gleichen Jahr eine sehr ähnliche Arbeit veröffentlicht, die, wie viele heute meinen, einen besseren Mittelweg skizzierte, aber so schwer verständlich war, dass sie kaum wahrgenommen wurde. Eine der großen Stärken von Giddens dagegen ist es, sehr komplexe Probleme in eleganter Form einfach darzustellen und generelle Lösungen anzubieten.


Jede Idee hat ihre bestimmte Zeit und kann entweder zu früh oder zu spät entdeckt werden. Was den Aufstieg von Giddens zu einem der größten Soziologen womöglich am meisten begünstigt hat, ist sein feines Gespür für den richtigen Zeitpunkt, sein Blick für die Lücke auf dem Markt der Ideen. Anfang der siebziger Jahre war Emile Durkheim in der angelsächsischen Soziologie praktisch nicht mehr präsent. Durch seine Übersetzungs- und Editionsarbeit hat Giddens, gegen die Strömung des Trends schwimmend, die Arbeiten von Durkheim wieder in der angelsächsischen Soziologie etabliert - und somit auch sich selbst als einer ihrer führenden Vertreter. Ein weiteres Paradebeispiel ist Giddens′ Rolle als "Begründer" der Globalisierungstheorie. Verschiedene Soziologen, allen voran Roland Robertson, begannen in den achtziger Jahren, Globalisierung als sozialwissenschaftliches Konzept zu erforschen, fanden aber relativ wenig Beachtung. Es war erst Giddens′ Buch Consequences of Modernity (1990), das eine Anzahl loser Fäden zusammenstrickte, erstmals eine griffige Definition erarbeitete und daraus ein Konzept machte, das, wie er schrieb, in das Lexikon aller Sozialwissenschaftler gehöre. Bedenkt man, dass Globalisierung das Schlagwort der neunziger Jahre wurde, kann sich Giddens über ausbleibenden Erfolg nicht beklagen. Natürlich hat er das Konzept Globalisierung nicht im Alleingang erfunden, aber er hat wie kein anderer mit seiner Mischung aus Selbstbewusstsein und Synthese die schlummernde Idee zum Leben erweckt. Wiederum: Wer den Dritten Weg verstehen will, muss Giddens verstehen. Giddens gehörte schon immer zur pragmatischen Linken in Großbritannien, die mit der ideologischen Schärfe des Marxismus traditionell wenig anfangen konnte. Aber er war politisch nie besonders aktiv, auch seine wissenschaftliche Arbeit hatte kaum praktische Relevanz. Die Idee, ein Buch über Politik "jenseits von Links und Rechts" zu schreiben, entsprang also vor allem Giddens′ Gespür für Marktnischen. Giddens war nicht der Erste, der nach 1989 erkannte, dass die Linke konservativer und die Rechte radikaler wurde; Beyond Left and Right war erneut nur die elegante Synthese und Vorwegnahme sich bereits abzeichnender Debatten.


So weit, so relativ unkontrovers. Der Dritte Weg war zu diesem Zeitpunkt also nicht das Resultat eines lang gehegten politischen Projektes, sondern das spezifische, fast zufällige Produkt des Zusammenkommens verschiedener Faktoren: Giddens interessiert sich für die Zukunft von Ideologie nach dem Abgang Margaret Thatchers; die Labour-Partei verliert 1992 selbst gegen deren schwachen Nachfolger John Major; Peter Mandelson entdeckt den charismatischen Führertyp Tony Blair und schmiedet eine Allianz mit der Sachkompetenz von Gordon Brown; 1994 stirbt unerwartet der vorsichtige Parteireformer John Smith; im Chaos wird der recht unbekannte Tony Blair gewählt, der in Windeseile radikale Parteireformen vorantreibt. Es ist eines der noch verborgenen Puzzlestücke, in Erfahrung zu bringen, wie eigentlich Blair und Giddens zueinander fanden und was Giddens antrieb, politisch aktiv zu werden. Aber beide müssen sich auf Anhieb gut verstanden haben, denn Giddens wurde zum bedeutendsten intellektuellen Ratgeber für Blair (und bald auch für Clinton). Der Guru war geboren.

Ein Kind des Thatcherismus

Der Dritte Weg ist ein Kind des Thatcherismus. Giddens′ Philosophie des Dritten Weges und Mandelsons "Blair Project" sind Reaktionen auf die Revolution der Eisernen Lady. Ohne diesen Hintergrund verliert der Dritte Weg schnell an Plausibilität und Logik. Ironischerweise begehen viele Kritiker sowie Tony & Tony selbst den gleichen Fehler, wenn sie glauben, der Dritte Weg sei eine Blaupause zur Erneuerung der Sozialdemokratie überall auf der Welt. Giddens hat seine Ideen aufgrund der eigenen Erfahrung in Großbritannien geschrieben und geht nur bedingt auf Amerika ein. Trotz einiger Verweise auf Kontinentaleuropa und seiner prinzipiell pro-europäischen Einstellung: Giddens hat wenig Ahnung von den politischen Zuständen in Deutschland oder Frankreich. Aber selbst wenn dies anders wäre, würde es nicht viel ändern, weil sich Großbritannien spätestens seit der Ära Thatcher vom Kontinent weg entwickelt hat.


Nirgends kam dieses Missverständnis besser zum Vorschein als 1998 im Schröder-Blair-Papier. Was für Giddens und Blair als selbstverständlich galt, war für Schröder in Deutschland ein beinahe radikal-neoliberales Programm. Der Unterschied ist einfach zu erklären: Um wie Blair sein zu können, müsste auch Schröder Nachfolger einer Eisernen Lady sein. Eine typische Rede von Tony Blair, selbst von Tony Giddens, würde in Deutschland viele FDP-Politiker als klassische Sozialdemokraten dastehen lassen. Das heißt aber nicht, dass Blair kein Linker wäre. Im Gegenteil: Blair, der gerade Clement Attlee als den am längsten amtierenden Labour-Premierminister in der britischen Geschichte ablöste, hat wahrscheinlich so erfolgreich "linke" Politik gemacht wie kein Politiker zuvor in Großbritannien. Aus dem Straßenverkehr aber weiß man: Was auf der Insel Links bedeutet, kann auf dem Kontinent durchaus Rechts sein.


Selbst aus deutscher linker Sicht kann sich der Erfolg von sechs Jahren Drittem Weg durchaus sehen lassen: Großbritannien unter Blair hat die niedrigste Arbeitslosigkeit und die höchste Wachstumsrate aller G7-Staaten; die Staatsschulden sind signifikant reduziert und die öffentlichen Investitionen in Bildungs- und Gesundheitswesen auf Rekordniveau erhöht worden, unter anderem finanziert durch eine nachträgliche Windfall Tax auf die immensen Gewinne der Privatisierungs-Bonanza unter den Tories; beim PISA-Bildungsvergleich aller OECD-Staaten lag Großbritannien unter den ersten Sechs; Jugendarbeitslosigkeit und Kinderarmut, unter Thatcher auf erschreckende Höhe angewachsen, sind beinahe komplett beseitigt; durch die höchste Ökosteuer in Europa erfüllt Großbritannien problemlos seine Kyoto-Norm; ausgerechnet Labour, die traditionell euroskeptischste Partei des Landes, hat normale Beziehung zu Europa wiederhergestellt; mittels der größten Verfassungsreformen seit 1832 sind viele elitäre und zentralistische Relikte beseitigt worden; Großbritannien hat erstmals juristisch kodifizierte Menschenrechte, die Antidiskriminierungs- und Arbeitnehmerrechte vorangebracht haben; erstmals wurde ein Mindestlohn eingeführt; die Einkommensschere zwischen Arm und Reich geht nicht mehr weiter auf, sondern schließt sich (außer in London) teils wieder; 40 Prozent der Staatstätigkeit hat redistributiven Charakter - keine Regierung in der britischen Geschichte hat jemals so viel von oben nach unten umverteilt.


Eine eindrucksvolle Liste, aber keine mit der Blair prahlt. Im Gegenteil, bemerkte kürzlich Guardian-Kolumnistin Polly Toynbee, eine der besten Kennerinnen von Labour: Blair scheint sich für viele Punkte dieser Liste zu schämen. Die Zahl von 40 Prozent Umverteilung zum Beispiel ist vom unabhängigen Institute of Fiscal Studies errechnet worden; Downing Street weigert sich, solche Zahlen herauszugeben. In einem BBC-Interview kurz vor der Wahl 2001 erklärte Blair unverblümt, Ungleichheit am Ende sei überhaupt kein Problem, so lange Chancengleichheit am Anfang bestehe - ein klassisch liberales Argument. Giddens ist in dieser Frage etwas traditioneller links, aber auch er sieht die Aufgabe des Staates nicht darin, materielle Ungleichheit durch Umverteilung auszugleichen. Die große Preisfrage der britischen Politik bleibt: Wen blufft Blair? Das konservative Middle England, indem er viel rechts redet und noch mehr links handelt? Oder die traditionelle Linke, die mehr rechte Kröten schlucken muss, als ihr lieb ist?

Studiengebühren für mehr Chancengleichheit

Giddens′ Arbeit als LSE-Direktor, im Prinzip als CEO eines multinationalen 100-Millionen-Pfund Unternehmens, bietet ein anderes gutes Beispiel für den Dritten Weg in der Praxis. Vor zwei Jahren war er einer der ersten Hochschulrektoren, die sich für eine Erhöhung der Studiengebühren von derzeit 1.000 auf nahezu 5.000 Pfund pro Jahr ausgesprochen hatten. Giddens befürwortet höhere Studiengebühren, gerade weil er mehr Chancengleichheit herstellen möchte. Etliche Studien, viele davon von LSE-Experten, haben gezeigt, dass finanzielle Erwägungen bei der Entscheidung von Arbeiterkindern gegen ein Studium kaum eine Rolle spielen. Stattdessen werden Studienentscheidungen typischerweise bereits im Alter von 14 Jahren getroffen und hängen vom kulturellen Einfluss der Eltern und Schulen ab; für die meisten Arbeiterkinder sind Universitäten einfach außerhalb ihrer alltäglichen Lebenswelt. Giddens hat deshalb ein einfaches, aber effektives Programm eingeführt: Jedes Jahr im Winter kommen nun 14- bis 16jährige Schüler aus dem armen Stadtteil East End für zwei Wochen an die LSE. Dort erfahren sie an Ort und Stelle, dass ein Studentenleben ziemlich cool sein kann, dass sich ein Studienabschluss später bezahlt macht und dass 40 Prozent der Studierenden nicht einmal Studiengebühren zahlen müssen. Das Programm ist so erfolgreich, dass es nun demnächst landesweit eingeführt wird. Die Logik für Giddens ist simpel: Ein subventioniertes Studium zieht kaum zusätzliche unterpriviligierte Studienanfänger an, sondern begünstigt nur unnötig die reiche Mittelschicht; also sollte man diese Subvention streichen. Es passt ins Bild, dass die Tories für eine Abschaffung der Studiengebühren plädieren, weil deren Wählerklientel, die obere Mittelschicht, nun befürchten muss, dass das Studium ihrer Kinder nicht mehr subventioniert wird.


Über Blair ist einmal gesagt worden, er sei ein Linker, der anders als andere Linke verstehe, mit Geld umzugehen. Für Giddens, als theoretischer Akademiker obendrein, gilt das ebenso. Der Hauptjob eines Hochschulrektors ist es, Geld einzutreiben, und Giddens war einer der erfolgreichsten Fundraiser, die die LSE je hatte. Genauso wie Giddens eine feine Nase für akademische Marktnischen hat, hat er einen ausgeprägt guten Geschäftssinn. Unzufrieden mit den Verlagsangeboten auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften, gründete Giddens 1985 seinen eigenen Verlag, Polity Press, der heute zu den bedeutendsten Verlegern sozialwissenschaftlicher Literatur in Großbritannien gehört - und Giddens′ Brieftasche sicher nicht dünner werden ließ. Von diesem kommerziellen Geschick hat die LSE in den vergangenen sechs Jahren enorm profitiert, die weiter global expandierte und ihre führende Stellung in den Sozialwissenschaften und auf vielen anderen Feldern festigte. Einigen war es suspekt, dass Giddens bei alledem eine solch enge Beziehung zu Blair pflegte und viele LSE-Experten direkt für die Regierung arbeiteten (so dass der Economist die LSE einmal als "Downing Street University" bezeichnete.) Aber die meisten werden übereinstimmen, dass Giddens einer der erfolgreichsten Direktoren in der Geschichte der LSE war.

Ihr wollt doch nicht deutsche Verhältnisse, oder?

Es ist ein interessanter Zufall, dass sowohl Giddens als auch Blair sowie das Projekt des Dritten Weges insgesamt nun gleichzeitig in eine neue Phase eintreten. Phase eins, die Beseitigung der schlimmsten Folgen des Thatcherismus, ist abgeschlossen. Allerdings hat Maggie Thatcher am Ende doch gewonnen, weil niemand in Großbritannien in eine Vor-Thatcher-Ära zurückkehren möchte. Gern malt Schatzkanzler Gordon Brown das Horrorszenario an die Wand: Ihr wollt doch nicht deutsche Verhältnisse, oder? Nein, niemand will das, aber zugleich sind die Zeiten für Blair vorbei, in denen er den Dritten Weg als Kontrastprogramm zu den schlimmsten Auswüchsen des Ersten und Zweiten Weges definieren konnte. Auf die Frage, was nun komme, hat jedoch auch Giddens bisher keine schlüssige Antwort gefunden. Die wahrscheinlichste ist ein eher langweiliges "Weiter so wie bisher", der langsame Fortschritt beim Versuch, die großen Fehler der großen Ideologien zu vermeiden.

Was Giddens in Zukunft tun wird, ist unklar. Angekündigt hat er, sich nicht völlig in den Ruhestand zu begeben, sondern sich einem neuen Projekt zu widmen. Woran er arbeiten wird, ist aber schwer zu erraten, weil man erahnen müsste, wo sich die nächste Lücke auf dem Markt der Ideen findet; nur beherrscht eben niemand dieses Spiel so gut wie Giddens selbst. Nachdem er 1990 über Globalisierung geschrieben hatte, überraschte Giddens 1992 die Öffentlichkeit, als er plötzlich (beeinflusst durch persönliche Erfahrungen nach seiner Scheidung) die Transformation von Intimität und Sexualität thematisierte. Ein denkbarer Gegenstand wäre natürlich der 11. September, da Blair die Zukunft des Dritten Weges in der Weltpolitik sieht. Der Premierminister hat sich auf die Fahnen geschrieben, die Welt zu verändern. In gewohnter Taktik möchte er Amerika europäischer und Europa amerikanischer machen. Wie weit ihn Giddens als Guru auf diesem Kreuzzug begleiten wird, ist eine der spannenden Fragen der Zukunft.

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