Guter Kapitalismus, schlechter Kapitalismus

Warum Fairness und Verhältnismäßigkeit die unverzichtbaren Grundsteine jeder nachhaltigen und lebenswerten neuen Ordnung sind.

Europas Parteien der linken Mitte sind verstört, in der Defensive und auf der Flucht vor der Wirklichkeit. Zwei Dinge, meinen sie, müssten die Wähler in den vergangenen Jahren doch eigentlich gelernt haben: dass der Finanzkapitalismus nicht nur sich selbst gefährdet, sondern auch Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt; und dass der Staat des Bürgers Freund ist. Daran ist richtig, dass es um die Beliebtheit der Banker gar nicht gut steht. Aber die liberale Linke hat aus der neuen Lage keinen Nutzen gezogen. Stattdessen werden jetzt überall Regierungen, Schulden und Defizite als Schuldige ausgemacht. Sozialdemokraten mögen Retter in der Not gewesen sein – Dank dafür wird ihnen nicht zuteil.

Britischen Meinungsumfragen zufolge glaubt die Mehrheit der Bürger, verantwortlich für die Übel der Gegenwart seien Sozialbetrüger, Einwanderer und der Staat. Erst mit weitem Abstand folgen die Banker. Anderswo in Europa sieht es ähnlich aus. In einem derartig rauen Klima eine Basis für neues linksliberales Engagement aufzubauen, ist nicht einfach. In der Tat ist man sich nicht einmal in der linken Mitte selbst so richtig darüber im Klaren, wie solch ein Aktivismus denn aussehen sollte. Was ist überhaupt Sozialismus? Und was Sozialdemokratie? Was würde eine gute Wirtschaft und eine gute Gesellschaft ausmachen? An welche in der Gesellschaft verankerten Werte ließe sich anknüpfen? Bietet die politische Linke in irgendeinem europäischen Land eine überzeugende Antwort?

Offenbar nicht. In diesem Vakuum gedeihen garstige nationalistische Bewegungen, während auf der linken Seite des politischen Spektrums die Grünen eines der wenigen dynamischen Elemente bilden. Gerade die traditionelle Sozialdemokratie muss ihre Arbeit sehr viel besser machen, nicht zuletzt im Interesse der arbeitenden Menschen, die sie zu vertreten beansprucht.

Ich behaupte, den Anfang muss die linke Mitte machen, indem sie geradeaus denkt. Diese Aufgabe wiederum beginnt damit, Klarheit über das eigene Verhältnis zum Kapitalismus zu gewinnen. Die parlamentarischen linken Parteien in Europa werden niemals die Produktionsmittel vergesellschaften – und sie sollten das auch gar nicht wollen. Es gibt für solche Impulse weder eine soziale noch eine intellektuelle Grundlage. Und selbst wenn es sie gäbe, wären die Lehren des 20. Jahrhunderts eindeutig: Vergesellschaftung funktioniert nicht. Sie ist wirtschaftlich ineffizient und leistet dem Autoritarismus Vorschub. Das bedeutet ganz und gar nicht, dass es keine Rolle für öffentliches Eigentum oder öffentliches Handeln gäbe. Aber dieses Handeln steht in einem völlig anderen Kontext: dem in der europäischen Aufklärung wurzelnden Kampf für einen guten Kapitalismus und eine offene Gesellschaft.

Die europäische Sozialdemokratie ist Abkömmling und Hüterin der Aufklärung in einer fortdauernd kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft. Hingegen ist sie gerade kein Stoßtrupp der europäischen Arbeiterklasse, der ständig darauf drängt, die Kommandohöhen der Wirtschaft zu erobern oder die wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen zu transformieren. Diese Unterscheidung ist ein fundamentaler gedanklicher Schritt – mit grundlegenden Folgen. Denn genau hier verläuft die Trennlinie zwischen Sozialisten und Sozialdemokraten. Sozialdemokraten streben nicht an, den Kapitalismus in etwas völlig anderes zu transformieren; Sozialdemokraten wollen das Beste aus dem Kapitalismus herausholen.

Die erste Gruppe von Gegnern der Sozialdemokratie besteht natürlich aus jenen Überkapitalisten, die behaupten, dass wirtschaftliche Dynamik dann entstehe, wenn der Kapitalismus seine atavistischen Raubtierinstinkte ausleben könne. Überhaupt zwischen gutem und schlechtem Kapitalismus zu unterscheiden, ist nach dieser Logik ein fundamentaler Kategorienfehler. Interessanterweise stimmen Überkapitalisten und traditionelle Sozialisten in diesem einen (und einzigen) Punkt überein: An der Natur des Kapitalismus sei nun einmal nichts zu ändern.

Doch beide liegen falsch. Es gibt den guten und den schlechten Kapitalismus. Es gibt den Kapitalismus, der produktive Unternehmer angemessen belohnt. Das sind Unternehmer, die etablierte Platzhirsche herausfordern und kalkulierte Risiken mit dem Neuen eingehen. So erschaffen sie genau diejenige Art von Treiben, Bewegung und Energie, die sogar Marx als weltverwandelnde Kraft anerkannte. Es gibt den Kapitalismus, der begreift, dass Unternehmen soziale Schöpfungen sind. Es gibt den Kapitalismus, der versteht, dass es das Erlebnis geteilter Ziele ist, das Männer und Frauen langfristig dazu bewegt, etwas zu erfinden, zu erneuern und auf dem Markt anzubieten. Gemeinsam etwas Tolles schaffen und damit Geld verdienen – das ist guter Kapitalismus. Um jeden Preis Vermögenswerte ausquetschen, um nur ja einen Schnitt zu machen – das ist schlechter Kapitalismus.

Dem schlechten Kapitalismus sind die Menschen egal

Der gute Kapitalismus ist nicht naturgegeben. Er ist eine soziale Konstruktion, entstanden im Laufe der Zeit und durch eine Vielzahl politischer Entscheidungen. Er ist nicht unabhängig von der Welt des Sozialen und des Politischen, sondern in diese Welt eingebettet. Er ist darauf angewiesen, dass Regierungen Märkte offen halten, damit eingesessene Marktteilnehmer vor neue Herausforderungen gestellt werden. Zugleich hängt der gute Kapitalismus davon ab, dass der Staat in physische Anlagen, in Wissen und in soziales Vermögen investiert – in Wissenschaft und in Straßen, in starke Familien, in soziale Mobilität und eine unabhängige Rechtsprechung. Öffentliche Macht mit demokratischem Mandat stellt die Regeln dafür auf, wie die Verpflichtungen aussehen, die mit unternehmerischem Eigentum einhergehen, wie sich Finanzmarkt und Wirtschaft zueinander verhalten und wie ganz normalen Menschen dabei geholfen wird, die Risiken des Lebens zu überstehen: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter und Behinderung. All dies zusammen erschafft einen guten Kapitalismus – und eine gute Gesellschaft, in der solch ein Kapitalismus gedeihen kann. Vor allem stützt sich der gute Kapitalismus auf ein System von Werten: auf Fairness, auf Verhältnismäßigkeit und auf gegenseitigen Respekt.

Der schlechte Kapitalismus ist das Gegenteil: ein Universum aufgeblähter Platzhirsche und politisch festgezurrter Märkte, in dem produktive Unternehmer an den Rand gedrängt werden und öffentliche Investitionen zu kurz kommen. Dem schlechten Kapitalismus sind die Lebensverhältnisse und Lebensrisiken der Menschen egal. Die Vereinigten Staaten, behaupte ich, stehen heute kurz davor, sich von einem Land, in dem im Großen und Ganzen der gute Kapitalismus gesiegt hatte, in ein Land zu verwandeln, in dem der schlechte Kapitalismus triumphiert. Die Zukunft des 21. Jahrhunderts wird davon abhängen, ob dieses großartige Land die innere Kraft findet, sich den egoistischen Platzhirschen und ihren Armeen von Lobbyisten zu widersetzen, die die amerikanische Wirtschaft erstarren lassen.

In Europa wird derselbe Kampf auf andere Weise geführt. Zwar ist die europäische Wirtschaft ungeniert kapitalistisch, dennoch fehlt es hier an politischen Kräften, die sich offen für einen guten Kapitalismus einsetzen. Zwei Muster sind typisch: Entweder gerät die politische Linke gegenüber der Rechten kampflos ins Hintertreffen, indem sie dem Kapitalismus bloß mit Misstrauen und Widerstand begegnet, ohne zugleich etwas an seine Stelle zu setzen. Oder die politische Linke sieht sich so sehr genötigt, ihre eigene Wirtschaftsfreundlichkeit unter Beweis zu stellen und jede grundsätzliche Kritik an der gegenwärtigen wirtschaftlichen Ordnung einzustellen, dass sie die Verbindung zu ihrer politischen Basis verliert. Ohne politischen Sachwalter ihrer Interessen drohen die Arbeiterschichten dann zur leichten Beute von Nationalisten und Rechtsextremisten zu werden.

Gerade Sozialdemokraten müssen begreifen, was ein ordentlich betriebener guter Kapitalismus zu leisten im Stande ist. Und sie müssen zeigen, dass es – paradoxerweise – überhaupt nur progressive Politik vermag, diejenige politische Spannung aufrechtzuerhalten, die aus dem Kapitalismus das Gute herausholt. Während sich die Rechte jeglichem Kapitalismus wahllos andient, besteht der sozialdemokratische Auftrag darin, den Kapitalismus beständig an sein aufklärerisches Erbe zurückzubinden und ihn so in den Dienst der Wünsche und Bedürfnisse der einfachen Leute zu stellen. Dies bedeutet aber nicht, dass jeder einzelne Aspekt des europäischen Sozialmodells auf Biegen und Brechen verteidigt werden sollte; guter Kapitalismus verlangt Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Offenheit – und zwar auch von den Insidern des Arbeitsmarktes. Das betrifft besonders Gewerkschaften, deren Ansprüche und Privilegien es kreativen Newcomern nicht weniger schwer machen, mächtige Platzhirsche herauszufordern als kapitalistische Monopolisten.

Denn der Kapitalismus vollführt einen Balanceakt. Sein Erfolg hängt ab von seiner Fähigkeit, produktives Unternehmertum zu entfesseln, das dann wiederum Wissen bereitstellt, mit dem die Produktivität und das Wohlbefinden der Menschheit vorangebracht werden. Dabei ist der Kapitalismus stets zwei Gefahren ausgesetzt: Er droht von Eliten gekapert zu werden, die manipulierte Gewinne einfahren wollen, um so ihren privilegierten Status zu behaupten. Und er kann zu reinem Gangstertum, zu Ausbeutung und Spekulation verkommen. Verantwortlich für solche Fehlentwicklungen können Banker, Infokapitalisten und Monopolisten sein – aber auch mächtige Gewerkschaften. Das Paradoxe ist, dass nur die Rückbindung an das Prinzip der Fairness den Kapitalismus bei seinem Drahtseilakt vor dem Absturz bewahren kann. Genau hier liegt die grundlegende und unverzichtbare Aufgabe der Sozialdemokratie.

Das Leben – ein Lotteriespiel?

Angesichts des globalen Geschehens der vergangenen Jahre wirkt es vielleicht exzentrisch oder gar närrisch, Fairness als den schlechthin unverzichtbaren Wert eines guten Kapitalismus zu betonen. Die politische Rechte erwidert, nur ein Heiliger oder ein Naivling könne so weltfremd sein, nach Fairness im Kapitalismus zu rufen. Gewiss doch heiße Kapitalismus survival of the fittest, sagen sie, und natürlich sei das „unfair“. Na und? So sei nun einmal das Leben: ein Lotteriespiel. Intelligenz, Talent, Schönheit, familiärer Hintergrund – das alles werde eben nach dem Prinzip Zufall verteilt. Einigen werde das Glück in die Wiege gelegt, anderen nicht. Fairness in Wirtschaft und Gesellschaft zu fordern, das stehe schlicht im Widerspruch zu der Art und Weise, in der die Natur ihre Karten verteilt: „Fairness? Komm schon! Das ist doch bloß linkes Wolkenkuckucksheim.“

Aber Ungerechtigkeit ist kein von der Lotterie des Lebens unabänderlich ausgeworfenes Faktum. Sie ist auch nichts, was wir um der wirtschaftlichen Effizienz willen hinnehmen müssen. Ungerechtigkeit kann bekämpft und verringert werden. Das große säkulare – und natürlich religiöse – Denken war immer von der Annahme geleitet, dass guten Menschen ein gutes Schicksal widerfahren sollte – und schlechten Menschen ein schlechtes. Und dies solle in verhältnismäßiger und unparteiischer Weise geschehen. Die Menschen wissen, dass es einen Zusammenhang zwischen Absichten und Handlungen gibt. Und sie wollen, dass gute Absichten und gute Ergebnisse belohnt, schlechte hingegen bestraft werden. Wir glauben leidenschaftlich daran, dass man seinen „gerechten Lohn“ im Verhältnis dazu erhalten soll, was man an Gutem oder Schlechtem geleistet hat. In diesem Sinne verstandene Fairness muss das Wertesystem sein, das die liberale Linke beseelt und mit Leben erfüllt.

Die Grundlage der Moral liegt schlechthin darin, dass alle ihren „gerechten Lohn“ bekommen. Ein Kapitalismus, der voranzuschreiten versucht, als ob diese Instinkte ganz unwichtig wären, läuft sehr schnell in die Irre – ebenso wie jeder Sozialismus zur utopischen Unmöglichkeit verkommt, der keinen Sinn für individuelle Verantwortung sowie den mächtigen Wunsch der Menschen nach gerechtem Lohn und gerechter Strafe besitzt. Wir können individuelles Verhalten nicht als Ergebnis von Kräften und Strukturen entschuldigen, die sich jedem Einfluss des Einzelnen entziehen. Sozialdemokraten sollten sorgfältig zwischen verdientem und unverdientem Reichtum unterscheiden. Sie sollten auch zwischen redlichen und unredlichen Arbeitern unterscheiden sowie zwischen verdienter und unverdienter Armut. Auf diesen Punkt wies in seiner Kritik des Gothaer Programms bereits Karl Marx hin. Allzu sehr pflegen viele Linke die Vorstellung, an Misserfolg und Scheitern sei immer „der Kapitalismus“ schuld und niemals individuelle Trägheit, niemals Betrug oder fehlende Selbstdisziplin.

Ein Gefühl elementarer Ungerechtigkeit

Trotzdem bleibt richtig: Ohne Fairness wird der Kapitalismus toxisch. Er bringt Einkommen und Vermögen hervor, die zu den wirtschaftlichen und sozialen Beiträgen ihrer Bezieher in absurdem Missverhältnis stehen. Jenseits des privilegierten Kreises der so Bevorteilten kann kein Mensch begreifen, warum die Gesellschaft ihre Erträge so unfair verteilt. Die Menschen beginnen zu fragen, ob die Wahl bestimmter Berufswege – etwa in der Landwirtschaft, in der Lehre, in Medizin oder Wissenschaft – irgendeinen Sinn ergibt, wenn die Gesellschaft sie so kümmerlich entlohnt, während in der Finanzwelt zugleich so enorm viel verdient wird. Wie ein Virus breitet sich diese Selbstbefragung angesichts solcher Ungerechtigkeit aus. Fast überall in Europa ist der Aufstieg von politischen Gruppierungen zu beobachten – die English Defence League, die Wahren Finnen, die italienische Lega Nord, die niederländische Partij voor de Vrijheid oder die dänische Folkeparti –, die in unterschiedlichem Maße den Argwohn gegen Ausländer zu ihrem Markenzeichen machen. Der Erfolg dieser Parteien kann nicht damit erklärt werden, dass Europa plötzlich fremdenfeindlicher oder gar rassistischer geworden wäre. Entscheidend ist, dass in den gesellschaftlichen Blutkreislauf ein Gefühl elementarer Ungerechtigkeit eingedrungen ist.

In Europa gibt es keine starken Parteien und Glaubensüberzeugungen einer linken Mitte, die den Verdruss am gegenwärtigen Funktionieren des Kapitalismus zum Ausdruck bringen könnten. Es gibt sie deshalb nicht, weil die linke Mitte keine Sprache besitzt, um zwischen dem guten und dem schlechten Kapitalismus zu unterscheiden. Stattdessen richtet sich öffentliche Wut gegen den fremden „Anderen“: gegen den Muslim, gegen den europäischen oder den nichtweißen Einwanderer. Sie alle haben nicht in den kollektiven Topf eingezahlt. Es dürfte sich zwar um eine Legende handeln, aber Einwanderer werden heute so dargestellt, als wären sie sogar bevorzugte Bezieher von Wohnraum, Bildungs- und Gesundheitsleistungen, ohne einen eigenen Beitrag geleistet zu haben. De facto werden sie als Sozialbetrüger angesehen. Vertrauen löst sich auf, der Verdacht regiert – und es breitet sich eine Atmosphäre aus, in der die wirtschaftlichen und die sozialen Beziehungen gleichermaßen zerfressen werden.

Jeder Vorstellung von einem guten Kapitalismus und einer guten Gesellschaft muss eine gemeinsame Vorstellung von Fairness zugrunde liegen. Derzeit gibt es diese nicht. Die Reichen erklären, ihr Reichtum sei gerecht. Europas Reiche glauben zunehmend, dass sie der Gesellschaft, der Regierung und den öffentlichen Institutionen wenig bis gar nichts schulden. Sie akzeptieren keine Begrenzungen und keine Verhältnismäßigkeit. Als Vergleichsmaßstab lassen sie nur andere Reiche gelten – eine Attitüde, die perfekt in der Selbstgerechtigkeit zum Ausdruck kommt, mit der viele Banker jüngst ihre übermäßigen und unverhältnismäßigen Boni gerechtfertigt haben. Sie drohen allen Ernstes sogar damit, Großbritannien oder Europa zu verlassen, sollten ihre Boni reduziert werden!

Der fundamentale Wert der Verhältnismäßigkeit

In solch einem Klima nimmt die Bereitschaft ab, für wohltätige Zwecke zu spenden, Steuerhinterziehung greift um sich, und die Vergütung von Managern steigt exponenziell. Alle drei Entwicklungen werden mit der Doktrin gerechtfertigt, dass es die Reichen nun einmal verdient hätten, reich zu sein. Derweil haben sich aus der Sicht der Reichen und aggressiver rechter Medien die Armen ihre Notlage selbst zuzuschreiben – sie hätten ja schließlich einen anderen Lebensweg einschlagen können. Die Armen könnten arbeiten, sparen und ein bisschen Eigeninitiative an den Tag legen. Warum also sollte man sie mit staatlichen Leistungen verhätscheln?

Angesichts solcher Einstellungen lösen Reformen des Bankwesens und geringere Boni, wenn auch von großer Bedeutung für die Stabilität des Systems, nur einen Teil des Problems. Die Banken hätten nicht so handeln können, wie sie gehandelt haben, wenn die Kultur und Praxis unserer Unternehmen keine tieferliegenden Defekte aufweisen würde. Bevor irgendwelche Reformen wirklich wirksam werden können, muss zuerst das moralische Gebäude in Frage gestellt werden, mit dem die Business-Eliten ihren Widerstand gegen Veränderungen rechtfertigen. Der Grundsatz, dass Menschen bekommen sollen, was ihnen gebührt, ist ein entscheidender Bestandteil der europäischen Kultur und muss bekräftigt werden. Die meisten Europäer sind keine in der Wolle gefärbten Apostel der Gleichheit. Aber ebenso wenig glauben wir, dass die Würde eines Menschen in seinem Reichtum zum Ausdruck kommt. Wir glauben, dass Wohlstand verdient werden muss und dass der Lohn dabei in einem angemessenen Verhältnis zur erbrachten Leistung zu stehen hat. Die Verhältnismäßigkeit ist ein fundamentaler Wert. Dass die Finanz-und Wirtschaftseliten diesen Wert so eklatant missachten, beschwört eine wütende populistische Gegenbewegung herauf. Diese speist sich nicht, wie leichtfertig behauptet wird, aus Neid, sondern sie nährt sich aus einem tief sitzenden menschlichen Instinkt.

Zur Definition von Fairness gehört nicht nur das Prinzip, dass Leistung und Gegenleistung verhältnismäßig zu sein haben. Sie muss auch Überlegungen zur Rolle des Glücks einbeziehen, das ja offensichtlich von großer Bedeutung für jedes individuelle Schicksal ist. Jeder begreift die Bedeutung von Glück und Pech. Es gibt diejenige Art von Glück, zu der wir durch unsere Anstrengung und unseren Fleiß selbst beigetragen haben („option luck“); wenn die Menschen hart für ihr Glück gearbeitet haben, dann sind ihr Erfolg und der damit einhergehende Wohlstand fair. Einer der Gründe dafür, dass Unterschiede von Einkommen und Wohlstand in den Vereinigten Staaten stärker toleriert werden als in Europa ist der dort verbreitete – wenngleich irrtümliche – Glaube, die amerikanische Gesellschaft sei hinreichend offen. Die Reichen in den USA seien typischerweise deshalb reich, weil sie ihren Reichtum erarbeitet hätten. Die Europäer hingegen sind skeptischer. Sie leben in einem älteren Erdteil, in dem Reichtum häufig bereits mit der Geburt erworben wird. Der europäischen Kultur ist stärker bewusst, dass glückliche oder weniger glückliche Umstände der Herkunft einen enormen Einfluss darauf haben, ob jemand reich ist oder arm. Es handelt sich dabei um diejenige Form von purem Glück oder purem Unglück („brute luck“), die wir uns gerade nicht durch unser eigenes Handeln „verdient“ haben. Weder können wir die Reichen dafür loben, dass sie die richtigen Eltern gehabt haben, noch können wir den Armen die Schuld an ihren Eltern zuweisen.

Pures Glück und pures Pech

Die Kategorien des „puren“ Glücks und Pechs sind viel besser geeignet, kollektive Eingriffe zu legitimieren als das Ideal der Gleichheit, auf das sich Linke üblicherweise berufen, wenn sie beispielsweise den Sinn von Sozialversicherungen oder Erbschaftssteuern begründen wollen. Niemand ist im Ernst davon überzeugt, dass völlige Gleichheit „verdient“ ist; weder belohnt sie Anstrengung noch bestraft sie Drückeberger – das ist genau der Punkt, auf den bereits Marx hinwies. Anders verhält es sich mit purem Glück und purem Pech: Beides ist eindeutig Teil der conditio humana, und ebenso eindeutig gehört es zur sozialen Dimension unserer Existenz, dass wir gemeinsam handeln, um die Auswirkungen von purem Glück oder purem Pech abzumildern. Und plötzlich lautet das zentrale Argument für öffentliche Gesundheits- oder Sozialleistungen ganz anders: Diese Leistungen sind nicht „sozialistisch“, sie sind nicht „liberal“ oder „links“, sondern sie haben viel tiefer reichende Wurzeln. Es geht um die Verringerung von purem Pech.

Beispielsweise kann niemand von uns den Charakter der eigenen Genome kennen – geschweige denn etwas daran ändern, selbst wenn wir darüber Bescheid wüssten. Ob unser Körper zu schweren Krankheiten neigt – vom Krebs bis hin zur Demenz –, das ist eine Frage von purem Glück oder Pech. Natürlich sollte sich die Gesellschaft darauf verständigen, auf der Grundlage von Gegenseitigkeit jedes einzelne ihrer Mitglieder gegen das pure Pech von Krankheit zu versichern, ebenso gegen die Risiken von Arbeitslosigkeit, Berufsunfähigkeit und Alter. Meine eigene Überzeugung ist, dass diese Leistungen Anrechte sind. Aber um sie vor den Angriffen der politischen Rechten zu schützen, dass zu viele Menschen den Leistungsbezug als „Lebensstil“ betrieben oder dass öffentliche Gesundheitsleistungen „sozialistisch“ seien, halte ich es für eminent wichtig, einen klaren Zusammenhang zwischen Beiträgen und Leistungen sicherzustellen: Wir zahlen für unsere Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung; wir beziehen diese Leistungen deswegen, weil wir einen wohlerworbenen Anspruch auf sie haben – und nicht, weil uns nach staatlicher Durchleuchtung und amtlichem Ermessen unsere Bedürftigkeit bescheinigt worden wäre.

In ähnlicher Weise verändert sich der Streit um die Steuern in dem Augenblick völlig, in dem auf die Kategorie des Glücks Bezug genommen wird. Die Erbschaftssteuer zum Beispiel ist eben keine „Todessteuer“ oder „Besteuerung des Sterbens“; sie ist eine „Wir-alle-haben-teil-an-deinem-Glück“-Steuer. Mit dem Prinzip der Fairness lassen sich auch die Konflikte rund um die Einwanderung besänftigen. Ganz normale Menschen aus der Arbeiterschicht halten überhaupt nichts davon, wenn eben erst angekommenen Einwanderern sofort die gesamte Bandbreite der Sozialleistungen gewährt wird, ohne dass sie einen eigenen Beitrag geleistet haben. Hier werden elementare Prinzipien der Fairness verletzt. Einwanderer sollten sich das Anrecht auf Sozialleistungen im Laufe der Zeit verdienen können; auf die vollständigen sozialen Bürgerrechte haben Menschen – völlig ungeachtet ihrer Religion oder ethnischen Herkunft – nur dann einen Anspruch, wenn sie sich diesen Anspruch tätig erworben haben. Diese säkularisierte Argumentation entledigt die Debatte der rassistischen Untertöne.

Weil es Linken um die Verringerung der Auswirkungen von purem Glück oder purem Pech geht, ist ihnen vor allem an sozialer Mobilität gelegen. Wir setzen uns deshalb für eine effektive und kluge Wohnungspolitik ein, für gute Bildung und Ausbildung, weil den Benachteiligten ein Leben ermöglicht werden soll, das sie selbst als lebenswert empfinden. Die Wege zu diesem Ziel können nichtstaatlich und dezentral organisiert sein – in Form von Wohnungsgenossenschaften, freien Schulen et cetera –, aber die Aufgabe muss stets als ein Akt der sozialen Mobilisierung begriffen werden.

Das Prinzip Fairness in der Wirtschaft

Das Prinzip der Fairness – Leistung und Gegenleistung, Verhältnismäßigkeit, Glück und Pech – muss nicht nur für den sozialen Bereich gelten, sondern auch in der Wirtschaft. In sozialer Hinsicht geht es darum, zur Verringerung von Risiken ein Netz von sozialen Institutionen zu schaffen und aufrechtzuerhalten, das auf gegenseitigen Zahlungen und Leistungen basiert. In der Sphäre der Ökonomie ist Ähnliches nötig. Die zentrale Schwäche der Argumente für die reine Marktwirtschaft, so wie sie vor allem in den USA von der Rechten vorgetragen werden, liegt in ihrer völligen Blindheit für die Realität des Risikos und der Unvorhersehbarkeit der Zukunft. Die Genialität des Kapitalismus besteht darin, dass er im ständigen Prozess des Experimentierens immer wieder Neues zu verarbeiten vermag. Die Fortschritte in Wissenschaft und Technologie verwandelt er in neue Formen der Produktion. Aber dies ist notwendigerweise ein hochgradig riskanter Prozess. Unternehmer können nie wissen, ob ihre Ideen oder Unternehmen tatsächlich funktionieren werden. Sie leben mit dem Risiko und dem Wissen, dass ihre harte Arbeit und ihre Innovationskraft möglicherweise nicht gebührend belohnt werden.

Europäischen Ökonomen quer durch das gesamte politische Spektrum – Hayek, Schumpeter, Keynes, Knight – war stets klar, dass dem Kapitalismus existenzielle Unsicherheit innewohnt, die Instabilität und Ungerechtigkeit zur Folge hat. Demgegenüber wird in der amerikanischen ökonomischen Theorie traditionell versucht, den Faktor der Ungewissheit auszublenden. So werden etwa die Erwartungen der Marktteilnehmer als rational erachtet, und den Märkten schreibt man zu, sie würden sich auf mechanistische Weise immer wieder optimal reorganisieren. Märkte werden mithin als nahezu perfekt vergöttert – eine absurde Deutung, die selbst marktwirtschaftlich gesonnene europäische Theoretiker wie Hayek niemals vertreten hätten. Keynes verstand Hayeks Pointe sehr genau: Der Kern des Kapitalismus liegt in dessen brillantem Prozess von Entdeckung und Erprobung. Er erwiderte allerdings: Wenn Märkte – gerade deshalb – instabil sind und von tief greifenden Unsicherheiten heimgesucht werden, dann muss als Gegenmacht notwendigerweise ein demokratischer Staat auf den Plan treten, um die besten Seiten des Kapitalismus zur Geltung zu bringen.
Das spricht nicht nur für eine aktive Fiskal- und Geldpolitik – besonders im Gefolge der Kreditklemme –, sondern auch dafür, dass der Staat Unternehmer und unternehmerischen Geist aktiv fördert. Nur der Staat kann das Risiko mindern, mit dem es kapitalistische Unternehmen im Kapitalismus zu tun haben. Unternehmertum gedeiht dort am besten, wo es in ein Netz von risikomindernden Institutionen eingewoben ist – ein Ökosystem von Innovation und Investitionen gewissermaßen. Der Staat muss sicherstellen, dass dieses Ökosystem existiert, dass es gut funktioniert und durch finanzielle Förderung am Laufen gehalten wird.

Manches Notwendige – ob Risikokapital oder die Absicherung von besonders riskanten Verträgen – mögen Märkte spontan hervorbringen. Aber nicht viel. Universitäten und Forschungsinstitute, die neues Wissen schaffen; Institute des Technologietransfers; Wissenschaftsparks; Banken und Finanzinstitute, die neue Vorhaben unterstützen; Institutionen, die Erwerbstätige mit zeitgemäßen Fähigkeiten ausstatten; weit in die Zukunft hinein geltende Preisgarantien, die wichtige Investitionen in die heutige Infrastruktur ökonomisch sinnvoll machen – das sind alles notwendige Eingriffe in die angeblich natürlichen Prozesse des Kapitalismus. Sie ermöglichen es Unternehmen, besser mit Risiken umzugehen und dadurch Wohlstand und Arbeitsplätze zu schaffen.

Ein guter Kapitalismus hat damit zwei wichtige Eigenschaften. Er ist zum einen ein System, in dem die Erträge von Eigentümern und Managern in einem proportionalen Verhältnis zu eingegangenen Risiken stehen (und eben kein System des „winner takes all“). Zum anderen weist der gute Kapitalismus politisch und sozial konstruierte Institutionen auf, die das Risiko so mindern helfen, dass größere Risiken überhaupt eingegangen werden können. Die Behauptung der Rechten ist schlicht Quatsch, erfolgreiches Unternehmertum habe vor allem mit Individualismus, unbeschränkten Eigentumsrechten, niedrigen Steuern und geringer Regulierung zu tun. Tatsächlich entsteht erfolgreiches Unternehmertum im guten Kapitalismus – nämlich dort, wo Risiken verringert und geteilt werden und Eigentümer nicht nur auf ihre Rechte pochen, sondern auch wechselseitige Verantwortung anerkennen.

Risiken und Dynamik werden weiter wachsen

In dem Maße, wie die wissensintensive Wirtschaft zunehmend die ökonomische Aktivität dominiert, wachsen die Risiken und die Dynamik weiter. Die sozialen Institutionen müssen sich verändern, um diesem Wandel gerecht zu werden. Die Rechte liegt richtig, wenn sie argumentiert, dass übermäßige Verankerung von Arbeitnehmerrechten wie etwa großzügige Abfindungen noch mehr Risiken für Unternehmen schaffen. Aber die von rechter Seite vorgeschlagene Lösung, Arbeitnehmerrechte zu beschneiden oder ganz abzuschaffen, ist zu grobschlächtig. So würden die Risiken nur auf normale Arbeitnehmer übertragen. Stattdessen muss das Verbundnetz aus Arbeit, Ausbildung und sozialer Sicherheit nach dem Prinzip der „Flexicurity“ neu ausgestaltet werden. Bisherige Arbeitnehmerrechte, die Neueinstellungen und die Expansion von Beschäftigung behindern, müssen möglicherweise eingeschränkt werden. Das geht aber nur, wenn sie auf dreierlei Weise ersetzt werden: Erstens muss das Arbeitslosengeld so weit erhöht werden, dass Arbeitnehmer im Übergang zwischen Arbeitsplätzen keine herben Einkommensverluste erleiden. Zweitens sollte für Abfindungen vorgesehenes Geld dafür ausgegeben werden, alle Arbeitnehmer kontinuierlich weiterzubilden. Drittens schließlich müssen Regierungen – so wie Roosevelts „Works Progress Administration“ in der Ära des New Deal – notfalls als Arbeitgeber der letzten Instanz einspringen. Sozialdemokratische Fairness verlangt dies und nicht weniger: eine gute Gesellschaft, in der guter Kapitalismus gedeihen kann. Das Prinzip der Flexicurity ist eine faire Möglichkeit, neue Risiken zu verteilen und zu mildern sowie das pure Pech in Schach zu halten, das die schnelllebige wissensintensive Wirtschaft unweigerlich mit sich bringt.

Und es gibt eine letzte Dimension der Fairness, vielleicht die wichtigste überhaupt. Den Menschen liegt ganz enorm an fairen Verfahren. Sie wollen eine Stimme haben, sie wollen teilnehmen und sich auf die Unparteilichkeit von Entscheidungen verlassen können – nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch am Arbeitsplatz. Natürlich sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entscheidende Prozeduren der Fairness – dasselbe gilt jedoch für die effektive Vertretung von Arbeitnehmerrechten. Ob ein politisches und mediales System als fair und legitim gelten kann, bemisst sich zum einen darin, in welchem Umfang das gesamte Spektrum von Meinungen zum Ausdruck gebracht werden kann; zum anderen darin, ob Newcomer in der Wirtschaft, im sozialen Leben und in der Politik die Möglichkeit haben, das alteingesessene Personal herauszufordern.

Das politische Projekt der Fairness


Nur wenige westliche Demokratien entsprechen heute diesem Ideal – und das Ergebnis ist die Austrocknung von Wirtschaft und Politik. Zu viel Konzernmacht bleibt unangefochten, sowohl von der Politik als auch am Arbeitsplatz. Einer der besten Aspekte des europäischen Modells ist deshalb das System der betrieblichen Mitbestimmung, das Unternehmen zumindest zu Information und Konsultation verpflichtet. Zugleich gilt, dass die Politik in dem Maße allzu vorhersehbar geworden ist, wie sich Politiker darauf beschränken, das Gleichgewicht zwischen eingesessenen Interessengruppen zu bewahren, statt an Werten orientierte neue Ziele zu formulieren und aktive Führung zu übernehmen. Die politische Linke trägt daran genauso viel Schuld wie die Rechte – und vielleicht sogar noch mehr. Aber um es besser zu machen, braucht sie sowohl einen moralischen Anker als auch ein politisches Projekt.

Die hier vorgeschlagene Definition von Fairness ist radikal. Sie dreht sich eher um Gerechtigkeit als um Gleichheit; aber sie ist deshalb nicht weniger anspruchsvoll. Sie wendet sich den wirtschaftlichen und moralischen Fragen zu, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten ignoriert worden sind: den dramatischen Unterschieden von Reichtum und Macht sowie dem blinden Glauben an Individualismus und Markt. Es geht bei der Idee der Fairness um ein Wertesystem, das die liberale soziale Demokratie untermauert. Dieses Wertesystem ist liberal, weil es anerkennt, dass individuelles Verhalten belohnt (oder bestraft) werden sollte. Aber es ist zugleich sozialdemokratisch, weil soziale und kollektive Macht genutzt werden soll, um die Wirkung des puren Glücks oder Pechs zu dämpfen. Ich behaupte, dass dieses Wertesystem der Fairness den Weg weist, auf dem sich die linke Mitte in Europa selbst neu erfinden und öffentliche Zustimmung erzielen kann. Um es zu wiederholen: Fairness ist der unverzichtbare Wert, der den guten Kapitalismus und die gute Gesellschaft untermauert. Dieser Wert wird der Grundstein jeder nachhaltigen neuen Ordnung sein. «

Aus dem Englischen von Tobias Dürr

zurück zur Person