Hans Mayer verbeugt sich vor Willy Brandt
"Es gibt keine Politik "an sich". Sie betrifft immer lebende und leidende Menschen."
Hans Mayer
Der letzte Text eines Autors kann durchaus als ein Vermächtnis gelten. In vielen seiner Werke hatte sich der große Literaturwissenschaftler und -historiker Hans Mayer schon mit dem langjährigen SPD-Vorsitzenden Willy Brandt beschäftigt - beinahe schicksalhaft erscheint da, dass seine Erinnerungen an Brandt unmittelbar vor Mayers Tod im Mai erschienen sind. Hans Mayer, geboren 1907, einer der letzten bedeutenden Zeugen des gasamten zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts, erinnert sich an den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler auch als den nur sechs Jahre jüngeren Zeitgenossen. Und es sind überraschend viele Gemeinsamkeiten, die diese beiden Deutschen verbinden. Beide nämlich wurden trotz aller Achtung, die ihnen entgegen gebracht wurde, in den verschiedenen deutschen Staaten immer wieder zu Außenseitern gemacht.
Wer hätte etwa vermutet, dass zur gleichen Zeit, als sich der Lübecker Abiturient der eben von der Weimarer SPD abgespaltenen Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands anschloss, der Bürgersohn und promovierte Jurist Hans Mayer Vorsitzender eben dieser Partei in Köln wurde? Die Erinnerung an viele gemeinsame Freunde und Weggefährten aus dieser Zeit machen das Buch zu einer Zeitreise in die Geschichte des demokratischen Sozialismus in Deutschland. Hans Mayers kleines Buch ist kein Geschichtswerk (daran ändern auch einige sachliche Fehler nichts, die ein aufmerksamer Lektor ohne weiteres hätte korrigieren können). Es ist eine bewegende Hommage an Willy Brandt: Er "war eine der großen Persönlichkeiten des deutschen öffentlichen Lebens".
All jenen, die bis 1945 brav mit marschiert waren und ausgerechnet Brandt immer wieder scheinheilig für seine Flucht vor Folter und Mord aus dem Deutschland Hitlers kritisierten, schreibt Mayer ins Stammbuch: "Er hat sich um das Vaterland wohlverdient gemacht". Auch die Bedeutung Brandts für den Aufbruch der Demokratie in Osteuropa und der DDR stellt der "gesamtdeutsche Sozialist" Hans Mayer noch einmal heraus. Was sich 1989 und 1990 in Europa ereignete, hatte mit Brandts Kniefall im ehemaligen Warschauer Ghetto begonnen.
Hans Mayer: Erinnerungen an Willy Brandt, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2001, 80 Seiten, 24 Mark