Hartz IV ist überall
Die Studie „Gesellschaft im Reformprozess“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) ist nicht etwa deshalb so interessant, weil sie die Unterschicht „entdeckt“. Beeindruckend ist vielmehr das Ergebnis, auch in der Mittelschicht hätten sich Perspektivlosigkeit und pessimistische Erwartungen ausgebreitet. Die gesellschaftlichen Veränderungen machen den Menschen in der Mitte der Gesellschaft Angst. Sie befürchten, im Alter auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Sie glauben, dass ihre Kinder es später einmal schlechter haben werden.
Parallelgesellschaften! Armut! Abstieg!
Wie das Kaninchen auf die Schlange starren wir auf die täglichen Hiobsbotschaften: Die Auswanderungswelle! Die Generation Praktikum! Die Vernachlässigung von Kindern! Die Parallelgesellschaften! Verarmung! Abstieg! Positive Gegenbeispiele gehen dabei völlig unter: Ja doch, es fehlen Lehrstellen – aber im Vergleich mit anderen Ländern schneidet Deutschland bei der Jugendarbeitslosigkeit gut ab. Ja doch, eine Rentenreform ist notwendig – aber wahr ist auch, dass die über 65-Jährigen derzeit seltener arm sind als die Jüngeren. Wahr ist sogar, dass die Altersarmut zurückgeht – eine Feststellung, die jedoch nur zu dem Einwand provoziert, in Zukunft sei aufgrund der demografischen Entwicklung mit höherer Altersarmut zu rechnen.
Rundumversorgte Apokalyptiker
Im so genannten politischen Berlin existiert unter den Leistungseliten in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft ein positiver Zusammenhang zwischen pessimistischer Grundstimmung und persönlichem Einkommen. Dem „abgehängten Prekariat“ der FES-Studie sollte die Kategorie der „rundumversorgten Apokalyptiker“ hinzugefügt werden. Je gedeckter das Tuch, je formaler der Umgangston, je älter und männlicher der Vortragende, desto unheilschwangerer der Ton im Saal. Da werden mit getragener Stimme die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts beschworen und für die nächsten fünfzig Jahre wahlweise Entvölkerung, Überschuldung oder die vollständige Polarisierung der Gesellschaft vorausgesagt. Und spätestens die chinesisch-indische Übermacht werde uns sowieso ruinieren.
Nein, der Pessimismus ist kein Privileg der Unterschicht. Er ist zum ständigen Unterton der Eliten geworden, wenn sie begründen wollen, warum einschneidende Maßnahmen nötig sind. Seit dem Beginn des Reformprozesses im März 2003 glaubt die Politik offensichtlich, der Widerstand von Lobbyisten, Interessengruppen und Bevölkerung sei nur mit dem Verweis auf die dramatische Lage zu überwinden. Horrorszenarien bestimmen den Reformdiskurs. Wen wundert’s, dass dem Volk darüber die Zuversicht vergangen ist.