Hartz IV und Drittes Wirtschaftswunder
Noch vor vier Jahren war die öffentliche Debatte in Deutschland von einer allgemeinen Niedergangsstimmung bestimmt: Die Konjunktur lahmte, die Arbeitslosigkeit war nicht in den Griff zu bekommen, das Wirtschaftswachstum ließ auf sich warten. Viele glaubten, dass die Reformpolitik der Bundesregierung die Lage nun noch verschlimmern werde. Jene Mittelschichten, die sich gegen den sozialen Abstieg umfassend abgesichert gewähnt hatten, sahen sich auf einmal mit existenziellen Risiken und der Erosion des hart erarbeiteten Lebensstandards konfrontiert.
In erstaunlich kurzer Zeit hat sich der Grundton der öffentlichen Debatte um 180 Grad gedreht. Außenminister Frank-Walter Steinmeier spricht heute von einem „dritten Wirtschaftswunder“, deutsche Unternehmen fahren im In- und Ausland satte Gewinne ein, die Börsenbarometer erreichen neue Höchststände, und auch die Löhne der Arbeitnehmer sind in der letzten Tarifrunde deutlich gestiegen.
Dennoch ist das „Hartz IV-Deutschland“ noch präsent. Denn der Aufschwung geht an jenen vorüber, die auf dem Arbeitsmarkt schon vor den Reformen eine prekäre Stellung hatten, sei es aufgrund niedriger beruflicher oder schulischer Qualifikationen, sozialer Probleme oder anderer Benachteiligungen. Mehr noch – das „Hartz IV-Deutschland“ und das „Weltmeister-Deutschland“ entwickeln sich zu zwei Parallelwelten, wobei der Aufstieg immer schwieriger wird und der Abstieg nicht mehr ausgeschlossen werden kann.
Sicher, die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Regierung haben nicht nur Verlierer produziert. Viele Erwerbsfähige, die früher Sozialhilfe bezogen und heute an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik teilnehmen, haben heute bessere Eingliederungschancen, und sogar ihre materielle Situation hat sich oft erheblich verbessert. Auf der anderen Seite mehren sich die Anzeichen dafür, dass es einen „harten Kern“ von Geringqualifizierten gibt, denen der Einstieg in qualifizierte Beschäftigung immer schwerer fällt. Dem neuesten OECD-Bildungsbericht zufolge ist die Arbeitslosenrate für Personen mit niedrigen Schulabschlüssen nur noch in Polen, Tschechien und in der Slowakei höher als in Deutschland. Alexander Reinberg und Markus Hummel vom Nürnberger „Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung“ haben gezeigt, dass die Arbeitslosenquoten für die Geringqualifizierten ohne Berufsabschluss in den alten Ländern inzwischen bei über 20 Prozent, in den neuen Ländern sogar bei über 50 Prozent liegen. Außerdem ist das Arbeitslosigkeitsrisiko für Geringqualifizierte seit 1975 viel stärker angestiegen als für Menschen mit höheren Abschlüssen.
Unternehmen unter Rationalisierungsdruck
Falsch ist die Annahme, der Aufschwung gehe an bestimmten Schichten einfach nur vorbei. Nein, das Weltmeister-Deutschland ist funktional auf das Hartz IV-Deutschland angewiesen. Die Instandhaltung des Kerns der deutschen Wettbewerbsfähigkeit und die zunehmend prekären Lebensumstände der vom Aufschwung ausgeschlossenen Bevölkerungsschichten sind zwei Seiten derselben Medaille. Dies soll anhand folgender Punkte verdeutlicht werden:
Erstens hat der schärfere internationale Wettbewerb deutsche Unternehmen unter Rationalisierungsdruck gesetzt. Starke Betriebsräte und ein ausgebauter Kündigungsschutz haben jedoch vermieden, dass deutsche Unternehmen zur Restrukturierung in gleichem Umfang auf Entlassungen setzen konnten wie etwa amerikanische Firmen. Weil sich die Kernbelegschaften deutscher Unternehmen in einer vergleichsweise geschützten Position befinden, haben Rationalisierungsmaßnahmen vor allem Menschen in den Randbereichen des Arbeitsmarktes getroffen, beziehungsweise junge Menschen, die ihre Arbeitskraft auf dem Markt erstmals anbieten.
So erklären sich etwa die anhaltende Lehrstellenkrise und die Schwierigkeiten der „Generation Praktikum“ beim Übergang vom Studium in den Beruf. Auf dem Ausbildungsstellenmarkt ist die Lage inzwischen so angespannt, dass nur knapp die Hälfte der bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Bewerber tatsächlich eine Stelle bekommt. Der Rest wird in mehr oder weniger sinnvolle Qualifizierungs- und Berufsvorbereitungsmaßnahmen gesteckt. Jugendliche mit Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss haben so gut wie überhaupt keine Chance mehr, direkt einen Ausbildungsplatz zu bekommen.
Frühverrentung auf Kosten der Sozialkassen
Der „Altersübergangsreport“ des „Instituts Arbeit und Qualifikation“ an der Universität Duisburg-Essen kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass auch die Übergänge von Beschäftigung in den Ruhestand schwieriger werden. Seit den neunziger Jahren ist der Anteil derjenigen, die von regulärer, sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in Rente münden, stetig gesunken, nämlich von 31,2 Prozent (1996) auf 24,6 Prozent (2006). Gleichzeitig nahm der Anteil der offen oder verdeckt arbeitslosen Älteren zu. Das heißt: Wenn ältere Beschäftigte einmal vom Arbeitsmarkt-Insider des Weltmeister-Deutschland zum Outsider geworden sind, haben sie es besonders schwer, wieder eine Beschäftigung zu finden.
Zweitens nahm auch auf Seiten der öffentlichen Haushalte der Druck immer weiter zu, Kosten zu sparen. In den achtziger und neunziger Jahren konnten Unternehmen – im mehr oder weniger expliziten Konsens mit Gewerkschaften und der Politik – aufgrund der großzügigen Frühverrentung von Kernarbeitskräften Anpassungskosten auf die öffentlichen Sozialkassen abschieben. So stieg die Zahl der Frühverrentungen aufgrund von vorangehender Arbeitslosigkeit im Rahmen der so genannten „58er-Regelung“ von etwa 10.000 Anfang der siebziger Jahre auf heute mehr als 140.000 an.
Diese Politik ist irgendwann an die Grenzen ihrer fiskalpolitischen Machbarkeit gestoßen: Bei den Hartz IV-Reform ging es dem Staat daher auch um das Einsparen von Sozialkosten. Die sozialen Einschnitte sind aber ungleich verteilt, sie treffen besonders diejenigen hart, die sich schon zuvor in einer prekären Arbeitsmarktlage befanden. Der Beschäftigungsschutz für hoch qualifizierte Facharbeiter hingegen ist im Wesentlichen gleich geblieben, und kurze Phasen der Such-Arbeitslosigkeit können mit dem Arbeitslosengeld I wie zuvor recht glimpflich überstanden werden. Die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II betrifft vor allem die Menschen, die länger arbeitslos sind, also bereits vorher Schwierigkeiten hatten, im Weltmeister-Deutschland unterzukommen.
Am stärksten wächst die Zeitarbeit
Zwar hat der Wirtschaftsaufschwung zu neuen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen geführt. Die eigentliche Dynamik des Arbeitsmarktes der vergangenen zehn Jahre ist jedoch in den wenig geschützten Randbereichen zu finden: So hat sich die Zahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, der so genannten Minijobs, seit den neunziger Jahren auf etwa 6,5 Millionen verdoppelt. Zudem zeigt eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung, dass sich befristete Beschäftigungsverhältnisse immer weiter ausbreiten. Betroffen sind davon besonders Jüngere und Berufsanfänger: Im Vergleich zu den neunziger Jahren hat sich der Anteil der befristeten Beschäftigungsverhältnisse bei den Unter-30-Jährigen verdoppelt.
Der größte Zuwachs ist allerdings auf dem Gebiet der Zeitarbeit zu beobachten. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit hat sich die Zahl der Leiharbeitsverhältnisse innerhalb von zehn Jahren mehr als verdreifacht. Ein konkretes Beispiel ist das BMW-Werk in Leipzig, wo bereits ein Drittel der Mitarbeiter von Zeitarbeitsfirmen entsandt werden und für einen geringeren Lohn dieselbe Arbeit erledigen wie ihre Kollegen. Und dies vor allem deshalb, weil ihnen zuvor der Übergang in die wohlbehütete Kernbelegschaft nicht gelang. Folglich geht es hier nicht um einen allgemeinen, sondern um einen selektiven Sozialabbau, der die Outsider härter trifft als die Insider. Der Grund dafür ist die politische Logik des Export-Weltmeisters Deutschland.
Gewerkschaften in ihrer eigenen Welt
Weil sie graduell an Macht verloren haben, vertreten die Gewerkschaften offensiver als früher die Interessen ihrer Kernmitgliedschaft, auf gesamtgesellschaftliche Belange nehmen sie hingegen weniger Rücksicht. Der Tarifstreit bei der Bahn ist dafür das jüngste Beispiel. Der gewerkschaftliche Machtverlust führt aber auch dazu, dass die Betriebsräte relativ gesehen stärker werden, und diese sind noch stärker an der Befriedigung der Interessen „ihrer“ Mitglieder – vornehmlich den Arbeitsmarkt-Insidern – interessiert.
Vor allem große Unternehmen sind im Aufsichtsrat auf die Einigung mit Betriebsräten und Arbeitnehmervertretern angewiesen und daher an einem Konsens mit den Gewerkschaften interessiert. Hinzu kommt, dass ein Großteil der deutschen Unternehmen hochwertige Qualitätsprodukte wie Autos, chemische Erzeugnisse oder Maschinen herstellt. Diese Produktionsform beruht auf inkrementeller Innovation, die wiederum auf langfristig angelegten Beschäftigungsverhältnissen und stabilen sozialen Beziehungen aufbaut.
An dieser Stelle liegt der Kern des politischen Gefüges: Trotz anders lautender Rhetorik ihrer Vertreter sind deutsche Unternehmen nicht per se an Deregulierung und Flexibilisierung interessiert. Ihre Wettbewerbsfähigkeit hängt ganz wesentlich von kooperativen Beziehungen mit ihrer Belegschaft ab, denn nur dann ist diese dazu bereit und in der Lage, sich langfristig an das Unternehmen zu binden – und das notwendige Know-how für die Produktion von hochqualitativen Gütern zu akkumulieren.
Diese Konstellation, der Kern des „Modells Deutschland“, hat vor der Globalisierung und dem Konsolidierungsdruck gut funktioniert. Doch aufgrund des strukturellen Wandels von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft ist die Reichweite dieses Modells zurückgegangen. Gleichzeitig konnte der Wohlfahrtsstaat immer weniger als Auffangbecken dienen. Die Folgen sind eine Polarisierung der Arbeitsgesellschaft in Insider und Outsider und ein Anstieg der allgemeinen Verunsicherung. Da die strukturellen Ungleichheiten ohne grundlegende Reformen bestehen bleiben, wird der gegenwärtige Wirtschaftsaufschwung nicht alle Probleme lösen. Welche Lösungsmöglichkeiten bieten sich an?
Zurück auf Los ist keine Lösung
Erstens ist eine grundlegende Reform des Bildungssystems unabdingbar. Das gegliederte Schulsystem legt schon früh den Grundstein für spätere Hartz IV-Karrieren. Internationale Vergleichsstudien haben wiederholt ergeben: Das deutsche Bildungssystem konserviert soziale Ungleichheit viel stärker als die Bildungssysteme in anderen Ländern. Ferner hat der lange Schatten des dualen Ausbildungssystems in Deutschland zu einer niedrigen Studierendenquote geführt. Auf dem Weg in die Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft ist das ein gehöriges Defizit.
Zweitens müssen die strukturellen Ungleichgewichte zwischen Arbeitsmarkt-Insidern und Outsidern beseitigt werden. Ein unreflektiertes Rückgängigmachen des bisher erreichten Reformstandes, wie es nicht nur Vertreter der Linkspartei fordern, kann dabei nicht die Lösung sein. Dies würde die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Doch die Anpassungskosten müssen gleichmäßiger verteilt werden. Gleichzeitig muss sichergestellt sein, dass der Verlust eines Arbeitsplatzes nicht zu sozialem Abstieg führt.
Die Lösung für diese Aufgabenstellung ist das viel bewunderte und diskutierte Flexicurity-Modell à la Dänemark, das einen flexiblen Arbeitsmarkt mit einer großzügigen Arbeitslosenversicherung kombiniert. Dass dieses Modell in Deutschland bislang nicht verwirklicht wurde, liegt an der politischen Logik des Weltmeister-Deutschland. Schließlich würde eine allgemeine Flexibilisierung der Arbeitsmärkte auch die Insider treffen. Gesamtgesellschaftlich und langfristig betrachtet ist jedoch genau dies dringend geboten: Die politische Insider-Logik muss mutig durchbrochen werden.