Herrschaft des Volkes in 101 Häppchen
Die 101 wichtigsten Fragen zum Thema Demokratie verspricht der Historiker Paul Nolte auf gerade einmal 150 Seiten zu beantworten. Das entspricht ziemlich genau anderthalb Seiten pro Frage. Für wenige Fragen reicht Nolte eine Seite, nur für die erste nutzt er ganze zwei. Die ersten beiden Fragen „Lust auf Demokratie?“ und „Oder Demokratiefrust?“ sollen zugleich die Einleitung ersetzen. Die folgenden 99 Fragen sind – ebenfalls äußerst akkurat – auf elf Kapitel mit Titeln wie „Demokratie in Deutschland“ oder „Hat die Demokratie eine Zukunft?“ verteilt.
Wann war noch gleich dieser »Vormärz«?
Der Verzicht auf eine richtige Einleitung lässt offen, an wen sich das Buch richtet. Im Klappentext heißt es, der Band vermittle elementares Wissen in klar verständlicher Form. Mit dem Begriff „Vormärz“ muss der Leser aber schon etwas anfangen können, denn erläutert wird er leider nicht – wie manches andere, das nicht unbedingt zur Allgemeinbildung zählt. Zudem ist der Band laut Klappentext „auf dem Stand der Forschung“ und „lädt auch zum eigenen Nachdenken ein“. Auf anderthalb Seiten pro Frage ist beides freilich nicht immer einlösbar, oft bricht ein Artikel just da ab, wo es interessant wird. Literaturhinweise gibt es auch nur allgemein auf den letzten anderthalb (!) Seiten. All dies ist freilich weniger Nolte anzulasten als dem Konzept der Buchreihe.
Natürlich ist es leicht, Noltes 101-Fragen-Kanon zu bekritteln. Statt „Gibt es einen Trend zur direkten Demokratie?“ wäre etwa die deutlich spannendere Frage gewesen, ob wir davon mehr brauchen. Das ein oder andere fehlt, etwa die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ des Grundgesetzes, der Komplex „Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin“ oder die Glaubwürdigkeit von Wahlversprechen. Mit dem Benennen von Fragen, die dafür hätten „rausfliegen“ können, tut man sich aber schwer. Gut, die Frage „Wie definierte Abraham Lincoln die Demokratie?“, stellt sich niemand, der die Antwort nicht bereits kennt, und Lincolns Definition ließe sich bequem noch in der recht kurzen Beantwortung der -Frage 3 „Was heißt überhaupt Demokratie?“ unterbringen. Zudem erscheinen einige der Beiträge wie gestückelte größere Fragen. Dies gilt vor allem für die Fragen 65 bis 69: „Ist Demokratie nur ein Prinzip der Politik?“, „Kann man die ganze Gesellschaft demokratisieren?“, „Was ist Wirtschaftsdemokratie?“, „Muss auch die Familie demokratisch organisiert sein?“. Hieraus resultieren ein paar Wiederholungen. Deren sonstige Seltenheit beim Lesen der 101 formal ja voneinander unabhängigen Artikel nötigt aber Respekt ab, und die Lincoln-Frage ist tatsächlich die einzig „konstruierte“.
Nolte hat also grosso modo die richtigen Fragen gefunden. Gibt er aber auch die richtigen Antworten? Mit einer Ausnahme („Sind Parteien lästig oder unverzichtbar?“) gehen die Antworten schon einmal nicht an der Frage vorbei. Bei einigen Fragen wäre schlicht ein bisschen Empirie schön gewesen: „Muss man sich für Politik interessieren?“ – Wie viele Menschen tun das überhaupt? „Sind Wahlkämpfe überflüssige Geldverschwendung?“ und „Muss man noch wählen, wenn Umfragen das Ergebnis schon kennen?“ – Wie viele Wähler entscheiden sich heute erst im Laufe der heißen Wahlkampfphase oder nur wenige Tage vor der Wahl? Bei der Frage nach dem Lobbyismus hätte Nolte auf Ressourcen- und Zugangsunterschiede von Unternehmenslobbyisten und NGOs sowie auf deren Ansatzpunkte (Ministerien, Bundestag, EU) eingehen können. Und auch zur These von der friedfertigen Demokratie gibt es Zahlenmaterial.
Auch der Name Berlusconi fällt nicht
Einige Antworten erscheinen in umfassenderem Sinne unvollständig: Bei der Frage, ob demokratische Staaten eine Verfassung brauchen, fehlt der Hinweis auf deren Abänderbarkeit. Bei der Frage, ob Demokratie auf Volkssouveränität beruht, wird die Parlamentssouveränität in Großbritannien erwähnt, nicht aber die radikale Volkssouveränität in der Schweiz, gegenüber der sich die formale Volkssouveränität in Deutschland durch die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 III als Verfassungssouveränität entpuppt (Heidrun Abromeit). Insofern ist es falsch, den Rechtsstaat nur in einem Synergieverhältnis zur Demokratie zu sehen (Frage 37), vielmehr steht er zu ihr auch in einem Spannungsverhältnis. Und die Frage nach der Bestellung der Verfassungsrichter wird damit zu einer wahrscheinlich wichtigeren Gewaltenteilungsfrage als die Kompatibilität von Regierungsamt und Parlamentsmandat (Frage 6) in parlamentarischen Systemen. Diese wiederum – vielleicht das schwerste Versäumnis – werden an keiner Stelle sauber von präsidentiellen Systemen abgegrenzt. Stattdessen wird das französische System als präsidentiell bezeichnet (Frage 47), obwohl es sich um ein semipräsidentielles handelt, was für viele Politikwissenschaftler nur eine missverständlich benannte Unterform des parlamentarischen Systems darstellt. Von der angesprochenen „Ewigkeitsklausel“ ist unter anderem auch der Föderalismus geschützt – eine Bedingung der Alliierten, deren Einfluss auf die Staatsordnung der Bundesrepublik insofern keineswegs „begrenzt“ war. Dass das Grundgesetz „keine Kopie der amerikanischen Verfassung“ wurde, ist als Beleg hierfür ohnedies untauglich (Frage 46).
Bei der Abwägung zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl (Frage 17) geht Nolte nicht auf den bei letzterer höheren Einfluss der Wähler auf die Regierungsbildung ein. Welcher faktische Einfluss der Richtlinienkompetenz in der Koalitionsdemokratie überhaupt zukommen kann, diskutiert er leider nicht; das politikwissenschaftliche Konzept der Kanzlerdemokratie (Karlheinz Niclauß) ist ihm entweder unbekannt oder weniger wichtig als die Etymologie der Amtsbezeichnung des deutschen Regierungschefs (Frage 47). Die Erläuterung der Rechts-links-Unterscheidung (Frage 13) sollte durch den Verweis auf die beiden Politikdimensionen sozioökonomisch (Staat – Markt) und soziokulturell (liberal – traditionell) ergänzt werden. Beim Problem der Transformation der Demokratie in eine Gerontokratie bleiben die unterschiedlichen Wahlbeteiligungsraten der verschiedenen Altersgruppen unerwähnt (Frage 94). Bei der Frage, ob die Massenmedien der Demokratie schaden, wird weder auf den gestiegenen Sensationshunger der Medien im Internetzeitalter noch auf die „Kolonisierung der Politik“ durch die Medienlogik (Thomas Meyer) eingegangen. Auch der Name Silvio Berlusconi fällt hier nicht. Der Souveränitätsverlust der Nationalstaaten durch die Globalisierung ist nicht nur für die Postdemokratie (Frage 95) wichtig, sondern auch für die Frage, ob der Kapitalismus der Feind der Demokratie ist (Frage 84).
Lincoln und die Sklaverei
Zudem haben sich einige kleinere Fehler eingeschlichen: So fehlt dem Bundesrat der parlamentarische Charakter anderer zweiter Kammern nicht wegen seiner Natur als eigenständiges Verfassungsorgan, sondern aufgrund des imperativen Mandats (Frage 15). Ebenfalls stimmt es nicht, dass die Wähler bei den Landtagswahlen in den meisten Bundesländern nur über eine einzige Stimme verfügen (Frage 17); dies trifft heute nur noch auf Baden-Württemberg und das Saarland zu. In Bremen und Hamburg haben die Wähler seit neuestem sogar fünf beziehungsweise zehn Stimmen. Und für Abraham Lincoln war die Abschaffung der Sklaverei eher Mittel zum Zweck des Unionszusammenhalts statt gleichwertiges Kriegsziel.
Gesättigt, aber nicht inspiriert
Eben jener Lincoln soll einmal gesagt haben: „Übermäßiges Lob ist wie zehn Stück Zucker im Kaffee, niemand kann das schlucken.“ Paul Noltes Anderthalbseiten-Demokratiehäppchen sind ohne Frage bekömmlicher Elementar-Input. Aber kein übermäßiges Lob: Die Qualität des Zubereiteten bleibt hinter dem, was die mit 101 Kostbarkeiten gespickte Speisekarte verhieß, nun doch etwas zurück. Man geht gesättigt, hatte aber weder den dernier cri aus der Forschungsküche auf dem Teller, noch ist man sonderlich inspiriert für eigene Gedankenkreationen. Etwas mehr „Fleisch“ – wenigstens zwei Seiten pro Frage – wäre wünschenswert gewesen, um der Vielfalt des Themas Demokratie gerecht zu werden.
Paul Nolte, Demokratie: Die 101 wichtigsten Fragen, München: C. H. Beck Verlag 2015, 160 Seiten, 10,95 Euro