Rot-Grün, übernehmen Sie?

Wie wahrscheinlich sind eigentlich vorgezogene Neuwahlen? Und würden Sozialdemokraten und Grüne sie wirklich gewinnen?

Kurz nach der Bundestagswahl 2009 mutmaßte manch renommierter Politikwissenschaftler, angesichts des Debakels der SPD und der andauernden Gespaltenheit des linken Lagers stehe nun eine lange schwarz-gelbe Ära bevor. Ein Jahr später ist von derlei bürgerlichen Blütenträumen wenig übrig: Nordrhein-Westfalen ging trotz bundespolitischem Schongang von der Fahne, damit ist auch die schwarz-gelbe Bundesratsmehrheit dahin; scharenweise verlassen altgediente CDU-Ministerpräsidenten die politische Bühne; und in den Umfragen sind CDU/CSU und FDP brutal abgestürzt. Wenn in diesen Tagen gewählt würde, müssten die Liberalen sogar um das Überwinden der Fünf-Prozent-Hürde bangen. Mehr noch: Durch die ständigen koalitionsinternen Streitereien hat das schwarz-gelbe Bündnis seinen „Nimbus einer bieder berechenbaren, staatstragenden Koalition“ (Die Zeit) wohl unwiederbringlich eingebüßt. Selbst innerhalb der Anhängerschaft von CDU/CSU und FDP halten nicht einmal mehr 60 Prozent der Befragten Schwarz-Gelb für ein gutes Koalitionsmodell. Nur zwei Fünftel rechnen damit, dass die bürgerliche Koalition die Legislaturperiode bis 2013 durchhält. Erwärmen könnten sich für dieses Szenario gerade einmal 23 Prozent – für vorzeitige Neuwahlen sprechen sich doppelt so viele aus.

Rot-Grün, übernehmen Sie? Meinungsforscher prognostizieren SPD und Grünen derzeit sogar ohne die Linkspartei eine Mehrheit im Deutschen Bundestag. Dennoch muss der verständliche Enthusiasmus von Anhängern der linken Mitte relativiert werden. Denn der einzige Weg zu vorgezogenen Neuwahlen auf Bundesebene führt nach wie vor über die verlorene Vertrauensfrage. In der Geschichte der Bundesrepublik wurde diese Frage bisher erst fünfmal gestellt. In zwei Fällen handelte es sich um „echte“ Vertrauensfragen, bei denen der Kanzler versucht, die Regierungsmehrheit erneut hinter sich zu versammeln (Helmut Schmidt 1982 und Gerhard Schröder 2001). Wenn ein Bundeskanzler die Vertrauensfrage tatsächlich gewinnen wollte, hat er es auch geschafft. Bei Angela Merkel dürfte das nicht anders sein, schließlich stehen die Mandate der Bundestagsabgeordneten auf dem Spiel.


Die drei Bundeskanzler, die eine Vertrauensfrage verloren, hatten genau dies beabsichtigt. Willy Brandt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder (2005) stellten ihre Niederlage sicher, indem sie mit Abgeordneten der Regierungsmehrheit „unechtes“ Stimmverhalten verabredeten. Anschließend konnten sie dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestags vorschlagen. Es lohnt sich, ihre Motive kurz Revue passieren zu lassen: Willy Brandts knappe Mehrheit von nur sechs Mandaten war aufgezehrt, nachdem Abgeordnete von SPD und FDP aufgrund der neuen Ostpolitik zur Union übergelaufen waren. Die heutige Situation ist damit nicht vergleichbar. Sicherlich könnten Koalitionsabgeordnete in der einen oder anderen Frage entgegen der Fraktionslinie abstimmen. Aber Merkels Mehrheit ist mit 21 Stimmen vergleichsweise komfortabel. Außerdem liebäugeln die Frustrierten innerhalb der Koalitionsfraktionen gerade nicht mit den Positionen der Oppositionsparteien. Im Gegenteil kritisieren sie eine zu starke Annäherung an die Opposition, etwa in der Atompolitik. Auch ist Merkels Situation nicht mit der von Helmut Kohl 1982/83 vergleichbar. Weder steht ein Koalitionswechsel an, der legitimiert werden müsste, noch erscheint angesichts der demoskopischen Baisse die Gelegenheit günstig, die parlamentarische Mehrheit zu vergrößern.

Nimmt die SPD auf dem Beifahrersitz Platz?


Am ehesten noch könnten sich die Dinge entwickeln wie unter Gerhard Schröder 2005: Der Verlust der eigenen Mehrheit im Bundesrat ist bereits erfolgt und hat jegliche Hoffnung auf ein „Durchregieren“ begraben. Eine Serie empfindlicher Niederlagen bei Landtagswahlen könnte ab März 2011 folgen. Besonders bitter und sinnfällig für Schwarz-Gelb wäre natürlich der Verlust der bürgerlichen Hochburg Baden-Württemberg. Doch um im Ländle den ersten sozialdemokratischen Ministerpräsidenten zu stellen, müsste die SPD alles auf eine Karte setzen und der Linkspartei eine klare Absage erteilen (eine Strategie, die auch in Nordrhein-Westfalen die entscheidenden Stimmen hätte bewirken können).

Anders als Schwarz-Gelb im Jahr 2010 steuerte Rot-Grün vor fünf Jahren allerdings auf die totale Handlungsunfähigkeit zu: Eine weitere verlorene Landtagswahl hätte die Opposition im Bundesrat qua Zweidrittelmehrheit in die Lage versetzt, auch nicht zustimmungspflichtige Gesetze zurückzuweisen. Die Möglichkeit, dass Schwarz-Gelb in eine solche Bredouille geraten könnte, ist eher hypothetisch und würde nicht nur Wahlsiege für Rot- Grün-(Rot) erfordern, sondern auch anschließende Erfolge bei der Koalitionsbildung, wofür in Sachsen-Anhalt und Berlin die Bereitschaft der SPD nötig werden könnte, in der Regierung auf dem „Beifahrersitz“ Platz zu nehmen.

Wundenlecken hilft der SPD nicht weiter

Gerhard Schröders Entscheidung von 2005 basierte auf drei weiteren Argumenten: Erstens wollte er mit dem drakonischen Disziplinierungsinstrument des Wahlkampfes eine Selbstzerfleischung seiner Partei verhindern. Merkel muss eine solche kaum fürchten: Weder die Abwicklung der Leipziger Reformagenda noch die „Sozialdemokratisierung“ in der Großen Koalition, weder die Modernisierung der Familienpolitik noch das Verschieben von Steuersenkungen auf Sankt Nimmerlein haben in CDU und CSU zu mehr als lautem Murren geführt. Selbstzerfleischung bleibt eine sozialdemokratische Disziplin.

Zweitens trieb Schröder die Furcht vor einem irreversiblen Absacken der Koalitionsparteien in der öffentlichen Gunst. Dagegen dürfte die FDP ihren Tiefpunkt heute schon annähernd erreicht haben. Sollte sie jedoch die Umfragewerte der Union noch weiter mit herunterziehen, bis deutlich unter die absolute Volksparteien-Schamgrenze von 30 Prozent, könnten sich die Christdemokraten gezwungen sehen, die Reißleine zu ziehen – notfalls auch gegen Merkels Willen.

Drittens hegte Schröder die Hoffnung, die Opposition auf dem falschen Fuß zu erwischen. Wie wir heute wissen, konnte er mit seinem Neuwahlcoup das Wahlbündnis aus WASG und PDS nicht verhindern, ja beschleunigte deren Annäherung vielleicht sogar entscheidend. Dennoch wäre das Aufkommen einer nichtextremistischen Kraft rechts der Union sicherlich auch für Merkel der Neuwahlgrund Nummer eins. Was die Überrumpelbarkeit der Hauptoppositionspartei angeht, klärte die CDU/CSU die Frage nach der Kanzlerkandidatur 2005 zwar binnen einer Woche. Programmatisch-strategisch geriet die Union aber in Zeitnot, sah sich allzu oft zum Improvisieren gezwungen und traf unter Druck suboptimale Entscheidungen, die ihren Niederschlag schließlich in einem dürftigen Wahlergebnis fanden. Das eilends von einer abgeschotteten Vierertruppe zusammengeschusterte Programm setzte reihenweise programmatische Festlegungen aus der Oppositionszeit außer Kraft und lieferte der SPD ordentlich Stoff für ihren berühmten „Kugel-Spot“.

Genau deshalb ist im Jahr 2010 auch Rot-Grün gut beraten, die Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl in drei Jahren zu nutzen. Wohlgemerkt: Diese könnte unter gewissen Voraussetzungen durchaus auch früher stattfinden. Gerade viele Sozialdemokraten glauben, sich nach dem desaströsen Ergebnis vom September 2009 Zeit nehmen zu können und zu müssen, um ihre Wunden  zu lecken aus elf Jahren Regierungsteilhabe und praktizierter Realpolitik. Dabei ist zweifelhaft, ob der SPD eine Rolle rückwärts bei Hartz IV und der Rente mit 67 tatsächlich weiterhilft, oder ob die noch vorhandene Energie nicht besser für die Suche nach tauglichen Antworten auf die heute drängenden Fragen verwandt werden sollte. Auch die Koalitionsfrage ist durch eine demoskopische Momentaufnahme, die eine knappe rot-grüne Mehrheit verheißt, schließlich nicht abschließend beantwortet.

Beschäftigt sich die SPD weiter mit sich selbst, könnten die Umfragewerte auch schnell wieder sinken, zumal die Deutschen ihre Bundesregierung vor dem Urnengang traditionell in einem deutlich milderen Licht wahrnehmen als im Laufe der Legislaturperiode. Die aktuelle Stärke von Rot-Grün ist vorwiegend geliehen und stellt so gesehen bloß die Kehrseite der eklatanten Schwäche von Schwarz-Gelb dar. Wie Frank Decker jüngst in der Berliner Republik argumentierte, kann die nordrhein-westfälische Landtagswahl als Warnung verstanden werden, dass eine eigene rot-grüne Mehrheit selbst unter außergewöhnlich guten Rahmenbedingungen kaum mehr erreichbar ist. Die allgemeine Begeisterung hält sich also auch für Rot-Grün in Grenzen. Unverständlich ist dies nicht, schließlich hatte Schwarz-Gelb volle elf Jahre lang gebraucht, um die Glaubwürdigkeits-Akkus neu aufzuladen. Die Regenerationsphase von Rot-Grün dauert erst fünf Jahre an. «

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