Hier wartet noch Arbeit: Was die Berliner Republik in Europa sein will, ist heute völlig unklar
Wenn fünf Jahre nach dem Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin ein Besuch des libyschen Revolutionsführers Gaddafi vorstellbar geworden ist, bei dem der deutsche Kanzler mit dem hohen Staatsgast beim Rundgang durch die Flick-Collection galant über die Fortschritte deutscher Vergangenheitsbewältigung am Beispiel der nächsten Panzerlieferung an den kommenden EU-Partner Türkei parliert – am besten vor dem Bilde Martin Kippenbergers „Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz erkennen“ –, dann muss sich in der „Berliner Republik“ tatsächlich einiges verändert oder, auf neudeutsch, „normalisiert“ haben.
Vor fünf Jahren, noch zu Bonner Zeiten, hätte man sich dergleichen jedenfalls schwerlich vorstellen können. Mit dem Umzug nach Berlin scheint in der Tat das „endgültige Ende der Nachkriegszeit“ (Schröder) gekommen – ausgerufen gerade von jener Generation der Kriegskinder, die sich einst durch die Aufarbeitung der Verbrechen des „Dritten Reiches“ um die Bonner Demokratie verdient machte, jetzt aber offensiv die Gnade ihrer späten Geburt in Stellung bringt. Primäres Kennzeichen der neuen, der Berliner Politik ist es, dass sie zunehmend ohne den Bezug auf diese deutsche Vergangenheit auskommen will, die endlich vergehen möge, und stattdessen immer stärker ausschließlich auf der Basis nationaler Interessen stattfindet. Genau genommen bedingt das eine das andere: Nur die „Normalisierung“ nach innen, wie etwa die Verdrängung der aufs Engste mit dem Namen des „Wehrwirtschaftsführers“ Flick verbundenen Massenverbrechen, scheint überhaupt unverkrampftes, normales nationalstaatliches Handeln nach außen zu ermöglichen.
Nationale Alleingänge sind heute untauglich
Indem die Regierung Schröder auf ihrem „deutschen Weg“ (Schröder) seit 1999 immer mehr zum klassischen Kalkül von Nationalstaaten zurückkehrt, entfernt sie sich damit jedoch gleichzeitig auch immer stärker von der einstigen bundesrepublikanischen Ausrichtung auf post-nationalstaatliche Institutionen wie die Europäische Union und die Vereinten Nationen. Die penetrante Bewerbung um einen eigenen deutschen Sitz im Weltsicherheitsrat ist dafür nur der jüngste Beleg.
Schon die offensichtliche Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens zeigt jedoch, wie untauglich derartige nationale Alleingänge heute sind. Die Erkenntnis ist zwar schon ein halbes Jahrhundert alt und dennoch scheint sie von Tag zu Tag richtiger zu werden: Der moderne Nationalstaat ist zu klein für die großen Aufgaben und zu groß für die kleinen (Daniel Bell).
Den kleinen Ableger der großen „Berliner Republik“, die gleichnamige Zeitschrift der nachwachsenden politischen Jahrgänge inner- wie außerhalb der SPD, stellt die hilf- wie haltlose Renationalisierung durch die Generation der Achtundsechziger vor eine fundamentale Frage: Wie werden wir, angesichts der Ohnmacht des Nationalstaats, hinsichtlich der „großen Aufgaben“ der Zukunft wieder politisch handlungsfähig? Im Mittelpunkt muss dabei das Projekt einer politischen Europäischen Union stehen, die mehr ist als eine bloße Zollunion, die weiß, woher sie kommt und wohin sie will. Spätestens seit sich mit der Türkei-Frage das einstige Credo stetiger „Vertiefung durch Erweiterung“ als illusionär erwiesen hat, können wir der Frage nach Identität und Finalität des europäischen Gemeinwesens nicht länger ausweichen. Bisher ist diese Debatte in der Generation der Nach-Achtundsechziger kaum angekommen, geschweige denn ernsthaft und vertieft geführt worden – weder in der Wissenschaft noch in der Politik. Hier wartet noch viel Arbeit für eine Zeitschrift wie die Berliner Republik.