Hohepriester und nützliche Idioten
Wer sich selbst als „Pirat“ bezeichnet, verrät viel über sein Welt- und Selbstbild. Die in Hollywoodfilmen romantisch verbrämten Räuberbanden waren in Wirklichkeit Barbaren. Also: Wer kapert hier wen oder was? Und was macht die Piratenpartei so attraktiv? Sicher nicht nur die Verdrossenheit über die Altparteien. Die Popularität rührt auch daher, dass die Piraten erst gar nicht behaupten, ein schlüssiges Programm zu haben, Fakten und politische Zusammenhänge zu kennen. Die Medien tun ihr Übriges und erheben die fehlende politische Erfahrung zur Attitüde. Keine Verantwortung zu tragen wird zum sympathischen Parteiprogramm. Die Piraten sind eben Kinder und Ausdruck ihrer Zeit.
Das Paradies ist das Internet
Das Paradies-Versprechen der Piratenpartei ist das vollkommen freie Internet, das allen Menschen umfassende Bildung und den totalen Einblick in politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Prozesse ermöglicht. Eine Verheißung, die auch modernen Hacker-Unternehmern wie dem Wikileaks-Gründer Julian Assange bei den Jungen, bei linken Gruppen und Globalisierungsgegnern Bewunderung und Sympathien entgegenbringt. Jedem Anarchisten muss das Herz höher schlagen: Denkt man die Texte der Piraten weiter, müssten nicht nur Urheberechte, Patente und das Recht auf geistiges Eigentum fallen, sondern auch harte Drogen und das Schwarzfahren legalisiert werden. Die Weltrevolution durch die Rächer der Unwissenden, die Befreiung der Unmündigen aus der Unmündigkeit scheint nicht mehr weit.
Das Telefon hat Hitler nicht verhindert
Wer die Technik nicht versteht, sollte nach Meinung der Piraten erst gar nicht politisch darüber urteilen. Wer sich für Netzsperren einsetzt, wird von der Szene, aus der die Piraten hervorgingen, schnell als „Zensursula“ gemobbt und über Wikipedia verunglimpft. Der zentrale Glaubenssatz dabei: „Das Internet kennt keine Grenzen.“ In Wahrheit bestimmen wie bei jeder Erfindung aber Menschen, ob die Technik einer humanen Entwicklung der Zivilisation nützt oder schadet. Das Internet ist wie jede andere Technik: weder gut noch böse, weder links noch rechts, sondern beliebig.
Die Internetindustrie verdient Milliarden mit Patenten und Lizenzen, mit dem Handel persönlicher Daten und mit Werbung. Für ein seriöses Netz, für eine effiziente Selbstregulierung und die Durchsetzung internationaler Regeln müssten die Profiteure des Internet einen hohen Preis zahlen. Der Chef des Verbands der Internetwirtschaft ECO schätzt, dass allein die gesetzliche Sperrung so genannter Kinderporno-Seiten in Deutschland mehr als 100 Millionen Euro im Jahr kosten würde. Da kommen die Piraten für das total freie Internet gerade recht.
Und ob das Internet, wie bei den nordafrikanischen Aufständen, der subversiven Kommunikation und damit dem Kampf für Demokratie dient, ist längst nicht ausgemacht. Zwar sind das verfügbare Wissen und mehr Transparenz von Politik und Wirtschaft wichtige Voraussetzungen für Emanzipation. Aber die Erfindung des Telefons hat weder Stalin noch Hitler verhindert. Die Nutzer entscheiden, wie und für welche Interessen sie eine Kommunikationstechnik einsetzen.
Aus diesen Gründen müssen sich die Piraten bewusst werden, welche soziale Verantwortung sie übernehmen, wenn sie allen nationalen und internationalen Versuchen widersprechen, das Internet demokratisch legitimierten Regeln und Sicherheitskontrollen zu unterwerfen, etwa der Sperrung von kriminellen Homepages oder der Verbrechensbekämpfung via Vorratsdatenspeicherung. Jeder demokratisch legitimierte Regulierungsversuch gilt ihnen als Einfallstor für verfassungsfeindliche staatliche Zensur. Würde dieser Maßstab auch bei allen nicht-virtuellen Medien angelegt, müssten viele Jugendschutz- und Strafgesetze sofort abgeschafft werden. Es ist erstaunlich, dass diese fundamentalistische Gehirnwäsche, wie man sie bei den Debatten um das „Zugangserschwerungsgesetz“ der Großen Koalition 2009 beobachten konnte, in Politik und Öffentlichkeit offenbar prima funktioniert.
Surfer müssen schwimmen können
Nach den Wahlen 2009 hat die schwarz-gelbe Regierung zunächst verfassungswidrig den Vollzug des von einer Bundestagsmehrheit beschlossenen und ordnungsgemäß in Kraft getretenen Gesetzes gestoppt. Anschließend schaffte sie das Gesetz unter dem Druck der Industrie und ihrer eigenen jungen „Fachleute“ ganz ab. Während Frankreich und Großbritannien neue Zugangserschwernisse für kriminelle Inhalte einführten, entspricht der neue Gesetzentwurf der Koalition den Forderungen der Internetindustrie. Klar ist: Technische Mittel wie das „Löschen und Sperren“ von kriminellen Seiten reichen für den Verbraucher- und Kinderschutz allein nicht aus. Kritische Medienkompetenz muss fächerübergreifend in den Schulen vermittelt werden und Eltern müssen den Medienkonsum ihrer Kinder verantwortlich begleiten. Wer surfen will, sollte vorher schwimmen lernen.
Auch die Piraten müssen sich dem Missbrauch der Technik stellen: Datenklau, illegales Glückspiel, Cyber-Mobbing, sexistische Werbung, der „Kinderpornografiemarkt“ – dies alles findet im internationalen Windschatten der Cyber-Freiheit statt. Die Partei sollte helfen, diese Machenschaften zu unterbinden und sich für den Verbraucher-, Daten- und Kinderschutz im Netz einsetzen. Ein Beispiel ist der von Datenschützern geforderte Datenbrief, der Anbieter verpflichtet, alle Nutzer regelmäßig über ihre gespeicherten persönlichen Daten zu informieren. Dass versierte Kriminelle Internetsperren leicht umgehen können, ist kein überzeugendes Gegenargument, denn vor Gericht käme niemand mehr mit der Entschuldigung durch, er sei zufällig auf pädokriminelle Seiten gelangt.
Womöglich ungewollt treten die Piraten stattdessen für das Recht der Stärkeren ein und machen sich zum Helfer technisch versierter Krimineller. Allerdings sollten wir uns alle selbst an die Nase packen, wenn wir nicht Opfer von Cyber-Kriegen und organisierter Internetkriminalität werden wollen. Gebraucht wird eine demokratische Avantgarde, die für die Belange der Konsumenten eintritt, für Freiheit in sozialer Verantwortung, für gleiches Recht auf Bildung und Information, außerdem für den Kinder- und Jugendschutz im Internet. Bei aller Notwendigkeit, Behörden zu kritisieren, sollten die Piraten unserer Staatsgewalt dabei helfen. Um das zu erreichen, ist aktive Einmischung und ein aufklärender gesellschaftlicher Diskurs gefragt. Hohe Priester, die uns das Paradies der Freiheit versprechen und nützliche Idioten, die mangels eigener Ideen dazu wohlfeilen Beifall klatschen, brauchen wir hingegen nicht. «