Homo technocraticus
Dass Schiller nahezu in Vergessenheit geraten war, liegt gewiss nicht an einer geringen oder im Nachhinein vielleicht überschätzten politischen Rolle. Entscheidend war vielmehr die unrühmliche Art des Abgangs. Der seiner Partei, der SPD, ohnehin nicht in Herzenswärme verbundene Professor auf dem Ministerstuhl wurde am Ende, nachdem er jeglichen Rückhalt im Kabinett und bei den Genossen verloren hatte, von seinen noch verbliebenen Unterstützern sang- und klanglos fallengelassen und in die politische Heimatlosigkeit gedrängt. Schillers Absturz war so tief, dass es ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Erst nach einigen Jahren fasste er – auch dank einer neuen Frau – wieder Mut. Noch später, 1980, sollte er sich dann mit der Sozialdemokratie wieder versöhnen (übrigens unter maßgeblichem Zutun von Oskar Lafontaine, der Schillers Wiederaufnahme in einen saarländischen Ortsverein organisierte). Die glanzvolle Karriere eines elder statesman, die seinem einstigen Rivalen Helmut Schmidt nach dessen Sturz vom Kanzlerthron beschieden war, blieb Schiller jedoch versagt.
Lütjens hervorragend recherchierte und (auch in ihrer wohltuenden Schnörkellosigkeit) glänzend geschriebene Darstellung des akademischen und politischen Werdegangs Schillers gelingt das, was eine gute Biografie auszeichnet. Sie gibt einerseits einen Einblick in die Persönlichkeitsstruktur eines schwierigen, durch übermäßige Eitelkeit sich immer wieder selbst im Weg stehenden Charakters, zeichnet also ein Bild des Menschen Karl Schiller, und vermag andererseits das politische, gesellschaftliche und mentalitätsgeschichtliche Umfeld auszuleuchten, in dem Schiller zum Superminister aufsteigen konnte und das auch seinen Abstieg begleitete.
In den Mittelpunkt rückt dabei das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Schiller wird von Lütjen als Exponent des technokratischen Denkens geschildert, das seit den fünfziger Jahren en vogue war, seinen Höhepunkt ausgangs der sechziger Jahre erreichte, und kurz darauf – Anfang der siebziger Jahre – den Zenit bereits überschritten hatte. „Was Schiller in seinen Reden und Aufsätzen Mitte der fünziger Jahre ankündigte, war nicht weniger als das Heraufziehen eines neuen Zeitalters, eines Zeitalters der Vernunft und Rationalität. Und Künder und Aufklärer dieser neuen Zeit sollte vor allem der Ökonom sein.“
Bezeichnend für Schillers Rationalismus war, dass er praktisch ohne ethisches Fundament auskam. Entsprechend nüchtern und sachlich tönten Schillers Reden, die eher an ein wissenschaftliches Kolloquium erinnerten als an politischen Meinungskampf. Schiller bekannte sich zum freiheitlichen (oder wie er ungenauer und missverständlicher später genannt worden ist: „demokratischen“) Sozialismus, dessen Quintessenz er freilich nicht in der Eigentumsfrage oder einer möglichst umfassenden sozialen Umverteilung sah, sondern in einem entprivilegierten Aufstiegssystem. Dass Schiller selbst die glanzvolle wissenschaftliche und politische Karriere von seinem Elternhaus nicht unbedingt in die Wiege gelegt worden war, spiegelte sich hierin wider. „Soziale Gerechtigkeit bedeutete daher für Schiller, lange vor den Apologeten des Dritten Weges, vor allem Chancengerechtigkeit.“
Genossen, lasst die Tassen im Schrank!
Schillers Ideologieresistenz bewahrte den nachmaligen Wirtschaftsminister davor, seine Vorstellungen von der Planbarkeit gesellschaftlicher Prozesse über das Feld der Ökonomie hinaus auf sämtliche sozialen Lebensbereiche auszudehnen. Seine flehentliche, zum geflügelten Wort gewordene Bitte an die eigenen Genossen, die „Tassen im Schrank zu lassen“, die sich auf die von einem SPD-Parteitag 1971 mehrheitlich beschlossene Forderung nach einer deutlichen Anhebung der Spitzensteuersätze (für Personen und Körperschaften) bezog und in der unsäglichen Ankündigung kulminierte, man wolle die Belastbarkeitsgrenzen der Wirtschaft testen, markierte dabei eine Konfliktlinie, die in der Sozialdemokratie bis heute durchträgt.
Angesichts der Strahlkraft der Ost- und Deutschlandpolitik Willy Brandts ist heute fast in Vergessenheit geraten, dass die Bundestagswahlen 1969 keine „Brandt-Wahlen“ waren (so wie 1972), sondern „Schiller-Wahlen“. Torben Lütjen bezeichnet dies als die eigentliche Rätselfrage des Buches. Wie konnte es sein, dass ein kalter Technokrat wie Schiller, dem jedes Pathos und jede Emotionalität abging, im Wahlkampfsommer seine Zuhörer so in den Bann zog, dass er zum entscheidenden Faktor des Wahlsieges wurde? Was aus heutiger Sicht kaum vorstellbar ist – dass Schiller seine Wahlkampfreden mit komplizierten Themen wie der D-Mark-Aufwertung bestritt – war eigentlich schon damals ein Unding. Es sorgte jedoch dafür, dass die Wähler der SPD zum ersten Mal in der Bundesrepublik eine größere wirtschaftspolitische Kompetenz attestierten als den Unionsparteien.
Als die Welt noch machbar schien
Lütjen erklärt das Rätsel mit dem seinerzeit noch ungebrochenen Vertrauen in die wissenschaftliche Expertise. „All die kühnen Hoffnungen und Visionen der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, dass sie die Zukunft planen und gestalten können, jener Machbarkeitsglauben, der mit Zeitverzögerung auch die Politik erreicht hatte, spiegelte sich auch in Karl Schillers grandiosem Erfolg bei der Bundestagswahl wider – nur dieses Mal nicht in sozialwissenschaftlichen Expertendiskursen, sondern als psychologisches Massenphänomen.“ Mit den zunehmend hervortretenden Nebenfolgen des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts – von der Energiekrise über die ökologischen Gefahren bis hin zu neuen gesellschaftlichen Spaltungen – ist es für die Parteien seither immer schwieriger geworden, dieses Grundvertrauen in die eigene politische Gestaltungsmacht aufrechtzuerhalten. Zumindest für die SPD hat sich aber an der von Schiller eindrucksvoll untermauerten Gültigkeit der These nichts geändert, dass sie bei Wahlen nur erfolgreich sein (das heißt vor der Union liegen) kann, wenn sie diese sowohl in der gesellschaftspolitischen Modernität als auch in der Wirtschaftskompetenz überflügelt.
Parallelen zur heutigen Situation drängen sich natürlich auch auf, wenn man an Schillers unwürdige Abrechnung mit der eigenen Partei denkt, die durch seinen egozentrischen, ja narzisstischen Charakter ebenso vorgezeichnet war wie sein vorangegangenes Scheitern. Die Verbindung des technokratischen Denkens mit diesem Charakter machten Schiller zum Gegenbild des homo politicus, der – wo es notwendig war – zurückweichen und taktische Haken schlagen konnte, selbst wenn die Vernunft dabei fürs Erste auf der Strecke blieb.
Weil Schiller in der Sache fast immer Recht behielt, wurde er umso mehr zu einer tragischen Figur. Statt nach seinem Rücktritt souveräne Zurückhaltung zu üben und in jener Pose der Überparteilichkeit zu verharren, die er in der SPD selbst zelebriert hatte, ergriff er im Bundestagswahlkampf 1972 ungeniert die Partei der Gegenseite und zerstörte dadurch erst recht die ihm noch verbliebene Reputation. (Ein Rachefeldzug gegen die SPD, wie ihn sein Nachnachfolger Lafontaine führen sollte, wurde allerdings nicht daraus.)
Zur Tragik des Abgangs gehört – neben der Scheidung von seiner ihm an Geltungsdrang nicht nachstehenden Frau – zugleich, dass Schiller ein gut dotierter Posten in der Wirtschaft oder der Rückweg in die Universität verwehrt blieb. Seine schwierige Persönlichkeit und die politischen Umstände verhinderten, dass dem „Superminister Willy Brandts“ der Nachruhm zuteil wurde, der ihm als wirtschaftspolitischem Modernisierer zweifellos gebührte. Dass ihm Torben Lütjen jetzt ein Stück dieses Nachruhms posthum gesichert hat, ist ein nicht gering zu schätzendes Verdienst der vorliegenden Biografie.