"Ich bin mit der Gesamtsituation unzufrieden!"

Was sich die Montagsdemonstranten so alles überlegt haben

Berlin Alexanderplatz. Wie an vielen anderen Orten Ostdeutschlands geht man auch in Berlins Osten montags wieder aus dem Haus: Die Montagsdemos sind en vogue. Eigentlich nicht wirklich unser Feld. Aber wir fragen uns: „Was bewegt diese Menschen eigentlich?“ Also stürzen wir uns ins Spektakel.

Eine halbe Stunde vor Demobeginn stehen auf dem Alex ein paar verstreute Gestalten herum. Die Organisatoren des Berliner Montagsdemonstrationswesens haben sich zerstritten, jetzt gibt es zwei konkurrierende Züge. In der Presse liest man wechselseitige Vorwürfe, wie sie anno Tobak unter den westdeutschen K-Gruppen üblich waren. Fast klagend singen ein paar Frauen von der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) auf der Plattform eines Robben-und-Wientjes-Transporters „Keiner schiebt uns weg“. Die Grillwalker zeigen sich solidarisch. „Aktion! Bratwurst 1 Euro“, steht auf ihren Leibchen. Die herumschweifenden Würstchenverkäufer erfreuen sich fast so großer Beliebtheit wie die marxistisch-leninistischen Bänkelsängerinnen. Kurz darauf startet der einige Hundert Menschen starke Demozug in Richtung Stresemannstraße, wo die grausame Arbeiterverräterpartei SPD ihr Hauptquartier und ihre Folterkeller hat. Wir wenden uns der zweiten Demo zu, die 300 Meter weiter startiet. Hinter ihr stehen unter anderem Attac, die PDS, die IG Metall und die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft. Hier merkt man gleich, dass ein ganz anderer Schlag von Organisatoren am Werk ist.

Zu coolem deutschen Hiphop und Punk tanzen sich durchaus hübsche Attacmädels schon mal in Rage gegen Sozialabbau, Globalisierung und den ganzen Scheiß. Der stets gut organisierte Linksruck ist mit seinem Schröder-muss-weg-Stakkato recht erfolgreich. Die ökologische Linke wünscht sich „Marx statt Hartz“. Aber auch obskure Einzeltäter, die für 20 Cent selbstgemachte Flugblätter mit dem Claim „Freizeit statt Arbeit“ feilbieten, finden ihre Abnehmer. Den Kollegen von der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft sind als geeignete Ausdrucksmittel der Arbeiterbewegung wie üblich Trillerpfeifen eingefallen, die sie der größeren Überzeugungskraft halber gleich sackweise herbeigekarrt haben.

Ein Westberliner ganz in Ballonseide gibt vorab ein Interview für N24: „Ich komme zwar aus Westberlin, aber ich bin für Kommunismus. Das hat zwar noch nie funktioniert, aber das sollte sein“. Monika (50), ebenfalls „aus Westberlin“, weiß: „Wir werden richtig abgezockt.“ Eine neue Regierung müsse sich bilden, „und zwar ganz links“. Franziska (22), westdeutsche Studentin an der FU erläutert bündig: „Einige werden immer reicher, die Mehrheit immer ärmer, und solange das so ist, bin ich gegen Hartz IV.“ Aha.

„Wir graben wie ‘45 den Notcent ein“

Eine Einpeitscherin von der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft brüllt: „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns sozial abbaut.“ Aber selbst nach der vierten Wiederholung stimmt keiner in den Kampfruf ein. „Ich hör’ Euch nicht“, schreit die Einpeitscherin. Dann gibt sie auf. Derweil trägt ein hagerer MitvierzIger mit Schnauzbart und Stonewashed-Jeansjacke ein Schild vorbei, auf dem steht: „Ihr Hartz-Spione könnt kommen – Wir graben wie 45 den Notcent ein!“ Welche Kränkung mag wohl groß genug gewesen sein, um den Mann zu seinem Vergleich mit dem Untergang des Nazireichs zu veranlassen?

 

Am Hackeschen Markt sehen wir Achim, den haben wir schon mal auf Partys getroffen, da fällt das Ansprechen leicht. Sofort fühlt er sich ertappt und scherzt: „Ihr erstellt wohl schwarze Listen!“ Aber i wo denn! Bloß zwei Fragen an den 26-jährigen Studenten aus Gütersloh haben wir: „Wogegen genau protestierst Du?“ Und: „Glaubst Du, Du weißt gut über die Hartz-IV-Gesetze Bescheid?“ Achims Antwort überrascht uns. Zunächst betont er, er sei vor allem hier, „um aufzupassen, dass sich keine Nazis rankleben“. Im Übrigen vermutet er unvermittelt, „dass der Kinderschutzbund ja auch mit demonstriert“. Aber so genau wisse er das nicht. Dann erklärt Achim uns: „Im Prinzip bin ich für Sozialbündnisse. Wir müssen eine soziale Bewegung schaffen. Sie sollten sich mit den Studenten solidarisieren – und wir mit ihnen.“

„Hartz IV hilft nicht den Armen in der 3. Welt“

Achim geht es also irgendwie mehr so ums Prinzip. Untermalt wird unsere Unterhaltung durch Radau vom Attac-Wagen, von dem aus der beliebte Sprechchor „Wer hat uns verraten...“ erschallt. Leider kennen die jungen Globalisierungskritiker der Hauptstadt nicht den historisch korrekten Schluss des Schlachtrufes: „Wer verrät uns nie? Sankt!! Pau!! Li!!

Carsten (26) ist eigentlich nur „spontan aus Lust und Laune auf die Demo gekommen“. Was ihn denn thematisch am meisten interessiere, möchten wir gerne wissen. Carsten führt aus: „Die Schulden anderer Länder, die die USA ihnen nicht erlassen. Sie tun nichts gegen Arbeitslosigkeit!“ Die Ostberliner Gymnasiasten Jakob und Theo (beide 17), in Parkas, mit langen fettigen Haaren, wissen es da schon etwas genauer: „Hartz IV ist ein Geschenk an die Wirtschaft, mit dem die Angst in Deutschland steigen soll, damit die Arbeitnehmer in Deutschland erpressbar sind. Bestes Beispiel ist der Kündigungsschutz. Dadurch kann kein Aufschwung kommen. Konjunkturaufschwung kann im Kapitalis-mus nur über Krieg oder Kolonien kommen.“ Aber wie würden sie die Sache denn angehen, fragen wir. Jakob gerät ins Grübeln. „Eigentlich ist es ja richtig“, sagt er dann, aber es hilft nicht den Armen in der Dritten Welt.“ Das allerdings hat bislang nicht einmal Wolfgang Clement behauptet.

Am Rosenthaler Platz verlassen wir den Demozug und machen „auf einen Döner“ beim Türken Rast. Auch hier gibt es ein „Sommerangebot“: 0,3 Liter vom Fass für einen Euro. „Eine Stunde Arbeit unter Hartz IV“, geht uns durch den Kopf. Also setzen wir uns auf die Bierzeltgarnitur vor dem Restaurant Yildiz direkt am Rosenthaler und lassen es uns schmecken.

Sofort lernen wir Reinhard und Reinhard kennen. Reinhard I ist Rentner aus Hohenschönhausen. Er leidet an Arthrose und kämpft „für die anderen, die noch keine Rente kriegen“. Ob er nicht glaube, dass die ostdeutschen Rentner eigentlich die Gewinner der Einheit seien, wagen wir ihn nicht zu fragen. Reinhard II (55), ebenfalls aus Hohenschönhausen, ist studierter Bauingenieur und „Betroffener“. Er bekommt Arbeitslosenhilfe und arbeitet für die 165 Euro, die er bis jetzt dazu verdienen darf, als Wachmann im Pergamonmuseum, „bei D., dem alten Ausbeuter“. Dass er in Zukunft mehr hinzu verdienen darf, weiß er, gut findet er die Reform trotzdem nicht. Wenig überraschend bekennen sich beide Reinhards zur PDS. Reinhard I erklärt uns auch, warum: „ Der Sozialismus bei uns war `ne tolle Sache, aber leider hat uns ja der RIAS die Menschen versaut.“

„Die Milliarden sind doch bei den Sportlern“

Bauingenieur Reinhard II guckt etwas unzufrieden. Er vermutet, dass uns diese Erklärung noch nicht vollends überzeugen wird. Reinhard I fährt fort: „Es stand im Kurier: 70 Prozent der Ostdeutschen glauben, dass der Sozialismus die richtige Sache ist.“ Warum denn dann nicht 70 Prozent der Leute die PDS wählen, fragen wir nach. Jetzt schaltet sich Reinhard II ein: „Na ja“, sagt er, „der Kapitalismus ist ja verlockend für die Leute, aber sie werden doch nur betrogen.“ Am Sozialismus führt also kein Weg vorbei. Beruhigenderweise weiß Reinhard I auch schon, wie die gerechte Ordnung zu finanzieren ist: „Die ganzen Milliarden sind doch bei den Sportlern, die ins Ausland gehen.“ Unsere letzten Zweifel sind zerstreut. Deutschland taumelt seiner glückhaften Zukunft entgegen.

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