"Ich will doch wachrütteln"
BERLINER REPUBLIK: „Diese Anwältin ist irre geworden“ titelte die türkische Boulevardzeitung Hürriyet im März über Sie. Sie würden verallgemeinern und die Situation der türkischen Frauen dramatisieren, lautet der Vorwurf.
SEYRAN ATES: Ich habe in einem Interview gesagt, dass Multikulti und der Karneval der Kulturen deutsche Fiktionen sind, weil viele türkische Frauen in ihren Wohnungen bleiben müssen und nicht mitmachen dürfen. Daraufhin meinten verschiedene türkischstämmige Funktionäre, ich würde biografisch und selektiv argumentieren – unter anderem Lale Akgün von der SPD. Die sollte sich was schämen. Anstatt mich mit Schlamm zu bewerfen, sollte sie hinter mir stehen!
Aber Sie äußern sich auch widersprüchlich: In ihrem Buch „Große Reise ins Feuer“ beklagen Sie das verzerrte Türkei- und Islambild der Deutschen. Zugleich beschreiben Sie türkische und kurdische Gemeinschaften in Deutschland, die sich durch Abschottung, Gewalt, Machoismus und die Unterdrückung der Frau auszeichnen.
ATES: Welcher vernünftige Mensch kommt denn auf die Idee, dass ich hundert Prozent aller Türken in Deutschland meine, wenn ich Missstände in der türkischen Gemeinschaft beschreibe? Ich will doch wachrütteln: Die Türken in Deutschland sind viel konservativer als die Türken in der Türkei. Gleichzeitig glauben viele Deutsche zu Unrecht, alle Türkinnen seien unterdrückt. Eine selbständige, allein erziehende, bisexuelle Türkin wie ich existiert bei vielen nicht.
Aber die Türken in Deutschland ändern sich doch. Laut einer Studie im Auftrag des Familienministeriums finden 87 Prozent aller Türkinnen in Deutschland arrangierte Ehen schlecht. Der überwiegende Teil von ihnen ist nach dieser Studie mit der Erziehung im Elternhaus voll zufrieden. Fallen die unmodernen Türkinnen durch ihre Kopftücher nicht einfach mehr auf?
ATES: Meine Erfahrung ist eine andere. Von den in unserer Kanzlei durchgeführten Scheidungen sind 30 bis 40 Prozent ursprünglich Zwangsehen. Wenn 87 Prozent der Mädchen Zwangsehen schlecht finden, können doch trotzdem viele von ihnen davon betroffen werden. Außerdem: Die der Umfrage zufolge vollauf zufriedenen Mädchen würden niemals ihre Familien schlecht machen. Wir lieben unsere Familien! So sind wir erzogen worden. Aber wenn Sie sich mit den Mädchen länger unterhalten, werden Sie schon andere Nuancen heraushören.
Sie sind 1969 mit sechs Jahren von Istanbul nach Berlin-Wedding gezogen. Ihre Eltern verboten ihnen, außerhalb der Schule am deutschen Leben teilzuhaben. Sie fühlten sich „eingeschlossen in einem freien Land“, während Ihre Cousinen in der Türkei mehr Freiheiten hatten. Warum waren Ihre Eltern so streng?
ATES: Weil die Jungfräulichkeit der Mädchen auf keinen Fall beschädigt werden darf und Mädchen von Anfang an lernen sollen, fremdbestimmt zu leben. Hinzu kam, dass meine Eltern vor den deutschen Ureinwohnern Angst hatten. Sie glaubten, dass die Deutschen ihre Kinder zu frei erzögen. Wir kamen ja zur Blütezeit der sexuellen Revolution. In unserer Straße hatte sich eine Kommune in einer Ladenwohnung eingenistet, Menschen lagen darin nackt auf Matratzen herum. Meine Eltern glaubten, alle Deutschen hätten außerehelichen Geschlechtsverkehr und führten offene Beziehungen. Nach wie vor blickt die Mehrheit der hier lebenden Türken und Kurden verächtlich auf die angeblich unmoralischen Deutschen ohne Werte und Rückgrat. Sie sagen: Wir sind besser als die anderen.
Der Chefredakteur der „Zeit“ hat in einem Leitartikel (41/2004) angeprangert, die Türken arbeiteten bis auf einige Regisseure, Anwälte und Unternehmer nicht hinreichend am Wohlstand mit. Zu viele von ihnen würden den Sozialstaat hemmungslos ausbeuten. Empfinden Sie das als überheblich?
ATES: Das ist doch eine gute Diskussionsgrundlage. Was haben wir denn von den wenigen Regisseuren und Anwälten? Prägen die tatsächlich die türkische Community? Und wenn wir Jugendliche mit sozialen Leistungen ruhig stellen, nutzen sie das nicht auch aus? Sehen sie die Sozialhilfekarriere nicht als ihren Beruf an, weil sie glauben, auf dem normalen Arbeitsmarkt keine Aussichten zu haben?
Aber die Gastarbeiter waren nun mal niedrig qualifiziert ...
ATES:... und damit die ersten, die der industrielle Niedergang traf. Ja, wir können natürlich nur dann hinreichend mitarbeiten, wenn wir akademische Berufe erreichen können. Aber ist in diesem Land überhaupt gewollt, dass die Gastarbeiterkinder sozial aufsteigen? Mein Weg war zumindest nicht leicht, auch nicht der von Regisseur Fatih Akin und anderen. Wir sind immer Exoten, immer die Türken. Ich werde als türkische Rechtsanwältin von der Mehrheit stigmatisiert.
Wie können wir denn ausländische Kinder in akademische Berufe führen?
ATES: Die mehrheitlich nichtdeutschen Schulklassen müssen aufgelöst werden. In keiner Klasse dürfen mehr als zehn Prozent Schülerinnen und Schüler mit mangelnden Deutschkenntnissen sitzen. Notfalls müssen die Kinder mit Bussen in andere Stadtgebiete gebracht werden. Außerdem bin ich für die Kindergartenpflicht. Dafür würden Sie bei den meisten Familien Zuspruch erhalten – solange das nichts kostet. Die meisten türkischen und kurdischen Eltern würden doch alles tun, damit ihre Kinder eine bessere Bildung bekommen als sie selbst. Denn diese Generation hat sich aus eigener Kraft etwas aufgebaut. Das ist deren Mentalität. Türken haben einen großen Respekt vor Bildung. Das wissen die meisten Deutschen nur nicht. Die Türken und Kurden können ihren Kindern aber nicht wie deutsche Eltern bei den Hausaufgaben helfen, weil sie eben bildungsfern sind. Deshalb brauchen diese Familien mehr Unterstützung bei der Bildung ihrer Kinder. Integration kostet Geld.
Welche weiteren integrationspolitischen Maßnahmen schlagen Sie vor?
ATES: Die Schulpflicht muss durchgesetzt werden: In Deutschland gibt es gemischten Unterricht, basta! Zeigen Sie mir ein türkisches Mädchen, das in der Türkei vom Sport-, Schwimm- oder Biologieunterricht ausgeschlossen ist! Zudem fordere ich, dass Zwangsheirat ein eigener Straftatbestand wird. Wichtig wäre auch eine Politik der Anerkennung: Wenn Kanzler Schröder nur einmal „Merhaba, hos geldiniz“ sagen würde, „Guten Tag, seien Sie herzlich willkommen“ – die Türken würden dahin schmelzen. Jeder deutsche Arzt hat mindestens zwanzig Prozent mehr Patienten, wenn er das sagt. Der SPD würde das sehr gut tun.
Angeblich hat die dritte Generation ein neues Selbstbewusstsein entwickelt und findet es „cool“, Ausländer zu sein. Dieses Lebensgefühl drückt sich unter anderem in der Musik aus. Glauben Sie, dass die dritte Generation dadurch erfolgreicher wird als die ersten beiden?
ATES: Für mich ist die dritte Generation überhaupt nicht selbstbewusst, sondern eine verlorene Generation, insbesondere die Jungs. Sie finden sich als Ausländer cool, weil sie nichts anderes haben, worauf sie stolz sein können. Die erste Generation wollte hier nur arbeiten und sich nicht integrieren. Die zweite Generation hat einen Kampf um Identität geführt und dabei die Ursprungskultur, die Werte und Traditionen noch eins zu eins von den Eltern mitbekommen. Die dritte Generation hat all das nur auf eine vermengte, nicht authentische Art erfahren. Für mich sind zum Beispiel Respekt und Achtung vor anderen Menschen Grundpfeiler der türkischen Kultur. Davon sehe ich in der dritten Generation sehr wenig. Dazu kommt: Die dritte Generation hat häufig von ihren Eltern erklärt bekommen, dass sie in Deutschland unerwünscht sei. So bleibt ihnen nur der Machoismus. Weil sie kaum Anerkennung finden, ist es eben cool, Mädchen zu unterdrücken. Wenn sie den Bräutigam der Schwester bestimmen können, dann haben sie Macht.
Sie schreiben, der zentrale Unterschied zwischen der deutschen und der türkischen Kultur sei die Gewalt. Während Ihrer Kindheit durfte Sie sogar Ihr älterer Bruder schlagen. Woher kommt die Gewaltbereitschaft in der türkischen Kultur?
ATES: Zunächst einmal: Die Frauenhäuser in Deutschland sind nicht für türkische Frauen errichtet worden. Im Mittelalter wäre ich in Deutschland als Hexe verbrannt worden, 1984 bin ich eben von einem Türken niedergeschossen worden. Ich will damit sagen, dass Kulturen sich entwickeln. Der muslimische Kulturkreis hat die französische Revolution und die Aufklärung nicht gehabt, deshalb ist dort keine zivile Gesellschaft entstanden. Einige türkische Männer begründen Gewalt an Frauen religiös: Schläge kommen aus dem Paradies. Andere handeln nach dem türkischen Spruch: Wer seine Tochter nicht schlägt, schlägt später sein Knie – vor Ärger. Es ist aber für Migranten typisch, in der Diaspora gewalttätiger zu werden, um den Kindern die Grenzen klarzumachen. Nach dem Ehrenmord an Hatun Sürücü haben türkischstämmige Schüler gesagt: Selbst schuld, sie hat gelebt wie eine Deutsche.
Sie spielten auf den politisch motivierten Mordanschlag an, den ein Türke in einem Beratungszentrum für türkische Frauen auf Sie verübte. Dabei muss man sofort an den niederländischen Künstler Theo van Gogh denken.
ATES:Wir hatten Holland schon in Deutschland. Es hat nur niemand hingeschaut. Auch dass ein türkischer Lehrer Anfang der achtziger Jahre in Berlin am Kottbusser Tor getötet wurde, wissen nur die wenigsten. Die Medien und die Politik haben das ignoriert, weil es bisher keinen Deutschen traf.
Das fehlende Zeitalter der Aufklärung ist das eine. Die Soziologin Necla Kelek aber führt die Gewaltbereitschaft auf den Islam selbst zurück, der „Unterwerfung“ bedeute, das Kollektiv über das Individuum stelle und zur Frage von Leben und Tod voller Widersprüche stecke. Der Ethnologe Werner Schiffauer hingegen glaubt, der Islam erlaube „Brücken zur Mehrheitsgesellschaft“, gerade in der Gewaltfrage.
ATES: Niemand kann sagen: Das Problem ist ausschließlich der Islam. Wir müssen prüfen, welche Ausrichtung gewaltbereit ist und welche nicht. Der Islam ist wie jede andere Weltreligion, und keine Weltreligion ist von sich aus emanzipatorisch. Auch das Christentum wäre bei einer konservativen Auslegung nicht demokratiefreundlich, da die Kirche herrschen soll, zumindest die katholische. Ich will den Islam aber nicht verharmlosen. In den Schriften des Propheten, den Hadithen, steht zum Beispiel, Frauen seien ohne Glauben und Verstand und hätten sich dem Mann unterzuordnen. Man muss aber auseinanderhalten: Was ist der gelebte Islam, der kulturelle Islam, der traditionelle Islam, und was ist die Islamwissenschaft.
Ein Vorwurf an türkisch-muslimische Vereinigungen lautet, diese Organisationen würden destruktive Identitätspolitik machen, anstatt an einem reformierten Euro-Islam zu arbeiten. Wollen die wirklich den Scharia-Staat?
ATES: Wenn man in diese Verbände hineinhorcht, wird man häufig die Auffassung hören, es gebe Gesetze für die Deutschen und Gesetze für uns. Wenn man das weiter strickt, dann geht das in Richtung Scharia. In Kanada wird darüber nachgedacht, in bestimmten Gebieten islamisches Recht einzuführen. Warum sollten solche Forderungen hier nicht kommen? Nur sind die Organisationen untereinander sehr zerstritten.
Und wie stehen die weltlichen Organisationen dazu?
ATES: Man kann in die türkische Community zumindest nicht hineingehen, ohne religiously correct zu sein. Die türkischen Organisationen müssen deshalb zu einem offenen Diskurs aufgefordert werden – ohne Samthandschuhe. Viele von denen haben grundlos Vorschusslorbeeren bekommen. Die müssen sich zum Beispiel die Frage gefallen lassen, ob sie ihre Community nicht ihrerseits mit Samthandschuhen anfassen.
Sie erwähnten die 23-jährige Hatun Sürücü aus Berlin-Tempelhof, die im Februar dieses Jahres das sechste Opfer eines „Ehrenmordes“ in der Bundeshauptstadt in nur vier Monaten wurde. Merkwürdig, dass sie das erste Opfer ist, dass bekannt wurde. Merkwürdig aber auch, dass ein Proteststurm in der türkischen Community anscheinend ausblieb und zur Mahnwache nur 200 Menschen erschienen. Dabei stammen angeblich die meisten Täter und Opfer aus einem kleinen, kurdisch dominierten Territorium in Ost-Anatolien.
ATES: Die kurdische Gemeinschaft hält noch stärker an Traditionen fest als die türkische. Es gibt daher Kreise in der türkischen Community, die Zwangsheiraten und Ehrenmorde als reines Kurdenproblem darstellen. Das stimmt nicht. Dann müsste die türkische Community ja erst recht protestieren. Die Mehrheit der Türken und Kurden lehnt Ehrenmorde ab. Aber wo zeigt sich diese Mehrheit? Die türkischen und kurdischen Vereinigungen sollten sich über ihr Frauenbild und ihren Standpunkt zum Thema „Ehre“ Gedanken machen.
Wie sollen wir diesen Organisationen begegnen? Das Zauberwort heißt meistens „Dialog“. Wer soll denn mit wem sprechen?
ATES: Alle miteinander. Aber ich kritisiere, dass viele Deutsche von Multikulti sprechen ohne Multikulti zu leben, ohne Türken zu kennen, ohne je ein Ramadan-Fest mitgefeiert zu haben. Und viele Ausländer wissen gar nicht, in was für einer Kultur sie hier leben. Dialog bedeutet für mich, voneinander zu erfahren und zu schauen: Was sind gemeinsame Werte und was unterscheidet uns?
Sie berichten in Ihrem Buch von täglichen Diskriminierungen und Rassismus. Sind wir Deutschen wirklich so schlimm?
ATES: Ich lebe weiterhin in diesem Land und bin mit sehr vielem glücklich. Aber der Umgang mit den Ausländern ist schlecht gelaufen: Die Kohl-Regierung hat Einwanderung 16 Jahre lang geleugnet und anschließend brauchten wir vier Jahre, um ein Zuwanderungsgesetz hinzubekommen. Aber wenn die deutsche Gesellschaft eine Sache erkannt hat, dann ist sie bereit aktiv zu werden, in den Dialog zu treten, zu verändern. Auch kann man diesem Land positiv zuschreiben, dass es aufgrund eines Ereignisses aufgewacht ist, das nicht im eigenen Land, sondern in den Niederlanden stattgefunden hat. Der europäische Blick ist ganz wichtig. Ich sage immer: Schaut nach Frankreich, so schlimm kann es werden. Dort finden Massenvergewaltigungen an falsch gekleideten muslimischen Mädchen statt. Der durchschnittliche Deutsche hört uns Migrantinnen inzwischen mehr zu.
Welche Wendepunkte gab es in der deutschen Integrationsdebatte?
ATES: Der Mord an van Gogh, der Spiegel-Titel „Allahs rechtlose Töchter“ und die Anhäufung der Ehrenmorde.
Sie sind im Herbst 2004 in die SPD eingetreten, obwohl Sie früher einmal Mitglied der Grünen waren. Warum?
ATES: Meine Themen sind Familien- und Frauenpolitik. In der SPD gab es immer große und starke Frauen. Ich schätze zum Beispiel Renate Schmidt sehr. Ich bezeichne mich als konservative Feministin. Die Grünen tun mir als Multikulti-Anhänger noch zu stark Buße für die deutsche Vergangenheit. Zum Glück wandeln die sich aber auch.
Frau Ates, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!