Ideen verdienen Respekt
Keine Rede, kein Leitartikel, keine Talkshow, in der nicht früher oder später die Worte „Innovation“ und „Kreativität“ auftauchen. Beide Begriffe sind deshalb auf dem allerbesten Wege, zur hohlen Phrase zu werden. Ein Schicksal, das sie nicht verdient haben und dem wir uns entschieden entgegenstellen sollten. Denn im Gegensatz zum Genie, das gern als gottgegebenes Talent betrachtet wird, beruht Kreativität – das hochassoziative Denken in Wissenschaft, Kunst oder Wirtschaft – auf Erfahrung und vor allem auf Bildung. Also auf Dingen, die wir gezielt fördern können.
Kreativität ist ein hohes, ein gewaltiges Gut. Sie ist das Fundament der technischen Moderne und der einzige Weg, dieser Moderne geistig gerecht zu werden. Erst Kreativität ermöglicht es, die beschleunigte Welt zu verstehen, in der alle Ideen und Konzepte kontinuierlich neu justiert werden müssen. Nur mit Kreativität gelingt es uns, von der Welle der Veränderungen in Wissenschaft, Ökonomie und Kunst nicht hinweggespült, sondern vorangetragen zu werden. Diese Chance sollten wir nutzen.
Der Vorsprung, den Europa einst im industriellen Sektor hatte, schmilzt dahin. Wollen wir ihn zurückerobern, müssen wir nicht billiger oder schneller, sondern vor allem kreativer werden. Wir müssen endlich begreifen, dass Kreativität für die europäische Kultur und Wirtschaft nicht Etikette, sondern eine überlebenswichtige Ressource ist. Und dass die Grundvoraussetzung für eine Ökonomie der Kreativität ein wirksamer Schutz des geistigen Eigentums ist. Schon Friedrich Nietzsche wünschte sich einen Zaun um seine Gedanken, damit die Wildschweine nicht einbrächen und sein geistiges Eigentum zerstörten.
In der weltweiten Wirtschaft sind massive tektonische Verschiebungen festzustellen: Ein bedrohlicher Riss läuft durch die Eurasische Platte. So gern man noch von einem „Europa der Regionen“ träumt – in ökonomischer Hinsicht ist diese Vorstellung antiquiert. Der Weltmarkt ist eben nicht sektoral, sondern global orientiert. Dominiert wird er zunehmend von den sich rasch entfaltenden Entwicklungsländern im asiatischen Raum, nicht zuletzt durch die erzwungene Bereitschaft ganzer Arbeiterheere, für Niedrigstlöhne bis an die Erschöpfungsgrenze zu gehen. In atemberaubender Geschwindigkeit wandert aus Europa ab, was unseren Kontinent einmal groß gemacht hat: die Produktion. Nur noch ein Fünftel der deutschen Arbeitsplätze ist industrieller Natur. Asien ist dabei, Europa als Exportregion zu überholen.
Kultur als Industrie der Zukunft
Mit der Marktmacht verliert Europa auch seinen Einfluss auf Standards in der Wirtschaftsethik, im Arbeitsrecht oder im Umweltschutz. China ist das beste Beispiel für ein staatlich gelenktes Wachstum um jeden Preis. Darüber hinaus scheint sich die Demografie gegen die alte Welt zu wenden: Indien und China stellen zusammen bereits zwei Fünftel der weltweit volkswirtschaftlich relevanten Bevölkerung. Selbst globale Jugendkulturen entstehen heute im asiatischen oder im arabischen Raum, aber nicht mehr bei uns. All dies ist bekannt. Doch es ist damit um nichts weniger alarmierend.
Nicht so bekannt ist, dass Europa die richtige Antwort auf das Problem bereits gefunden hat. Sie lautet: Gestaltungsmacht werden; auf dem Weltmarkt konkurrieren, indem man nicht Preise unter-, sondern Qualität überbietet. Die Lissabon-Agenda, die die europäischen Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 verabschiedet haben, zielt auf die Etablierung eines wettbewerbsfähigen, dynamischen Wirtschaftsraums mittels gezielter Förderung der kreativen Wissensgesellschaft. Schon zuvor hatte man die Kultur als „Zukunftsindustrie“ bezeichnet, weil ihre zunehmende Fusionierung mit der Technologie bereits absehbar war – allerdings ohne erkennbare Auswirkungen.
Das lichte Gold wird emporsprudeln
Erst mit der Lissabon-Agenda erhielt die Debatte eine strategische Qualität. Besonders der Kreativwirtschaft, die den digitalen Medienmarkt bedient, kommt bei der Umstellung der europäischen Makroökonomie von Massenfertigung auf Wissenskultur eine Schlüsselrolle zu. Vom Erreichen der Lissabon-Ziele – einst blauäugig für das Jahr 2010 vorhergesagt – sind wir jedoch weit entfernt. Nun droht Europa erneut abgehängt zu werden. Die aufstrebenden Wirtschaftsmächte in Fernost haben den ökonomischen Wert des Internetmarkts nämlich durchaus erkannt. Ein markanter Vergleich mag genügen: In Großbritannien machen jährlich 5.000 Studenten einen computerwissenschaftlichen Abschluss – in Indien und China sind es 125.000. Sieht so der gezielte Einstieg in die Wissensgesellschaft aus?
Und doch, die Wende ist zu schaffen. Schließlich besitzt Europa ein Pfund, mit dem es wuchern kann. Tessa Jowell, die britische Ministerin für Kultur, Medien und Sport, brachte es 2005 auf der Londoner „Creative Economy Conference“ auf den Punkt: „Wir sollten die über Jahrhunderte erlangte Erfahrung und Inspiration, die wir fein säuberlich in unseren kulturellen Institutionen einschließen und aufbewahren, kapitalisieren, so dass sie die künftigen Kreativen inspirieren und stimulieren können.“ Das lichte Gold wird emporsprudeln, wenn wir nur die Archive und Wissensbestände anbohren: Nie konnte Ideenreichtum, der für Traditionen sensibel ist, so leicht versilbert werden.
Europa muss also keineswegs vor Schreck erstarren. Im Gegenteil, drei zentrale Faktoren der neuen Ökonomie bilden eine Jahrhundertchance für das geballte kreative Potenzial der alten Welt: die Globalisierung, die Digitalisierung und die Individualisierung. Die zuletzt genannte Tendenz benennt die interessenspezifische Diversifizierung des Marktes: Massenprodukte lassen sich künftig zwar weiterhin passabel verkaufen, sie sind aber nicht mehr allein ausschlaggebend, wie das von Chris Anderson entdeckte „Long Tail“-Phänomen zeigt: Wenn sie zu niedrigen Kosten (Digitalisierung) weltweit angeboten werden (Globalisierung), werfen Nischenprodukte (Individualisierung) zusammengenommen erstaunliche Gewinne ab. Ob Wissen, Musik, Filme, Spiele, Programme – auf dem digitalen Markt werden vor allem kreative Produkte erworben, die von Kreativarbeitern hergestellt und aufbereitet werden.
Musik ohne haptisches Gegenstück
Es kommt also darauf an, endlich einzusehen, was längst deutlich sichtbar ist: Der Leitmarkt der Zukunft ist der Kreativmarkt. Im Nachgang der digitalen Revolution steht uns noch mancher Wandel bevor: DVDs lösen den sozialen Raum Kino ab; Musik gelangt ohne haptisches Gegenstück (wie eine Schallplatte) auf den MP3-Player; Internetkommunikation ersetzt Arbeitstreffen; Nutzer können personalisierte Radio- und Fernsehprogramme empfangen. Noch nie war die Gesellschaft von Filmen, Musik und Kommunikation derart durchtränkt wie heute. Die Nachfrage nach Inhalten und die Wertigkeit der Produkte sind mit der Digitalisierung deutlich gestiegen. Auch die Produktpiraterie kann als Indikator gelten: Gestohlen wird nur, was Wert hat. An der Semantik ist auch das uns bevorstehende Web 3.0 ausgerichtet, in dem der Informationsfluss in neuer Weise Wissensstrukturen folgen soll. Die Ära der Kreativen hat begonnen.
Welche Rolle die Kultur und der Kreativsektor für Europa bereits heute spielen, machte jüngst der von der EU-Kommission veröffentlichte erste Bericht über die europäische Kulturökonomie deutlich: Der Umsatz dieser Sparte betrug im Jahre 2003 mehr als 654 Milliarden Euro; rund 5,8 Millionen Menschen waren hier im Jahr 2004 beschäftigt. Und dies ist erst der Anfang. Die detaillierte Studie mündet in einen Katalog von Empfehlungen. Unter anderem schlagen die Autoren vor, in die Lissabon-Agenda das Ziel aufzunehmen, die Investitionen in die Kreativindustrie zu erhöhen.
Wenn Kreativität in naher Zukunft eine derart zentrale Rolle spielen wird, liegt die wichtigste Maßgabe auf der Hand: Wir müssen alles tun, um diese Fähigkeit zu fördern. Das Zaubermittel heißt Bildung. Wir müssen lernen, Ideen zu haben. Wir müssen lernen, in provisorischen Modellen zu denken und konstruktiv zu sein, weil wir uns in Konstruktionen bewegen. Noch der eigensinnigste Individualismus darf nicht durch Routine abgetötet, sondern muss herausgefordert werden. Auch ganz praktisch revolutioniert die digitale Ökonomie gegenwärtig den Arbeitsmarkt: Kreative Menschen sind selbständig; sie laufen den Jobs nicht mehr hinterher, sondern ziehen Projekte an.
Warum wirksamer Ideenschutz nötig ist
Keinesfalls lässt sich die Kreativindustrie in die beiden Berufe „Kreative“ und „Industrielle“ aufspalten, wie manche Genie-Ästheten glauben. Sie sitzen dabei einem Autonomiebegriff auf, der die Kunst entwertet: Eher muss von einer Übereinstimmung beider Kategorien auf Basis der Kreativität die Rede sein. So gibt es wohl kaum noch einen professionellen Musiker, der keine Selbstökonomisierung betreibt. Zugleich ist auf der Seite der Musikproduzenten adäquates Geschick nötig, um ein kreatives Produkt erfolgreich auf dem Markt zu platzieren. Die erfolgreichsten Bücher haben nicht selten die kreativsten Verleger und Lektoren. Es handelt sich also allenfalls um eine Arbeitsteilung im Namen der Kreativität, der Kunst wie Ökonomie gleichermaßen zugrunde liegen.
Dass die hier verhandelten Produkte ihren Preis haben, versteht sich von selbst, schließlich stecken in ihnen Einfallsreichtum und Arbeit. Damit dieser Preis angemessen bleibt, sind Standards nötig, wozu in erster Linie ein wirksamer Ideenschutz gehört. Ganz ohne Aufsicht geht es nirgends. Wenn Billigspielzeug aus China giftig ist, wird es zu Recht aus dem Verkehr gezogen. Auch Gemüse und Fleisch müssen hohen Standards genügen – Zugeständnisse würden das Produkt vielleicht preiswerter machen, aber die Qualität ruinieren.
Die Wildschweine scharren mit den Hufen
Im Fall der kreativen Leistungen gibt es jedoch in weiten Teilen der Gesellschaft immer noch die obskure Auffassung, man könne sich ihrer ohne jede Vergütung bedienen. Wie das Billboard-Magazin errechnet hat, gibt es pro Monat beinahe so viele illegale Downloads, wie legale Downloads pro Jahr. Möglicherweise ist vielen Nutzern gar nicht bewusst, dass diese Diebstähle Künstler, Hersteller, das begehrte Produkt, ja den gesamten Kreativmarkt und damit letztlich die Zukunftsaussichten der europäischen Wirtschaft schädigen. Doch muss man einer „Wissensgesellschaft“ wirklich erklären, dass nicht alles, was man mit Händen nicht greifen kann, „freeware“ ist?
Bei gefälschten Textilien sehen die meisten die verheerende Dynamik hemmungsloser Produktfälscherei ein: Wenn die Produktion von Kopien die Originalproduktion überholt, kippt der Markt allmählich um. Dann fehlt die wirtschaftliche Grundlage, um das Original von morgen zu entwickeln. Doch diese Logik gilt nicht nur für Prada-Taschen und Adidas-Turnschuhe, sondern eben auch für digitale, audiovisuelle Werke. Warum bringen wir einer Handtasche mehr Respekt entgegen als einem Kinofilm, einem Popalbum oder einer Software? Zumal der Markenklau in der Modebranche nicht annähernd so epidemische Auswüchse hat wie im digitalen Bereich, weil er auf die alten Distributionskanäle angewiesen ist.
Ideen verdienen Respekt. Mangelt es an Respekt, kann die Kreative Industrie nicht gedeihen. Darunter leidet letztlich der Konsument, der nur noch einfallslose Massenware vorfindet. Deshalb ist Ideenschutz zugleich Verbraucherschutz. Der juristische Begriff für den erforderlichen Respekt lautet Copyright. Urheber- und Verwertungsrechte sind keine Kavaliersgebote, sondern grundlegende Rechte für einen ganzen Wirtschaftszweig. Die Informationsfreiheit des Individuums und der Schutz des geistigen Eigentums müssen unter digital-globalen Bedingungen neu ausbalanciert werden.
Ebenso wichtig wie die ökonomische und die juristische Dimension ist die ethische. Wir brauchen dringend eine gesamtgesellschaftliche Debatte über eine Werteordnung, in der Ideen als Werte anerkannt werden. Das gemeinsame Ziel der Werte- und Rechtsdebatte muss die Sicherung der Produktionsbedingungen für kreative Produkte sein. Nicht nur Schutz vor kopierwütigen Einzelnutzern ist gefragt, sondern auch vor unseriösen Anbietern, die entwendete Leistungen zu Geld machen und darauf bauen, dass die Geschädigten den Aufwand scheuen, juristisch dagegen vorzugehen.
Für das Pflänzchen Kreativindustrie ist nichts schädlicher als die fröhliche Missachtung des Urheberrechts. Hätten frühere Generationen ebenso rücksichtslos gehandelt, würden schon heute keine kreativen Produkte mehr existieren. Die Wildschweine, von denen Nietzsche spricht, scharren mit den Hufen. Für einen konsequenten Ideenschutz ist es höchste Zeit.