Ihr Programm war ihre Vergangenheit
„Die Fahne hinausführen!“ ist im demokratischen Polen zum geflügelten Wort geworden. Der Spruch geht auf den letzten Kongress der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) im Januar 1990 zurück, auf dem ihr Ende verkündet und mit der Verabschiedung der Parteifahne besiegelt wurde. Der Nachfolgerin der PVAP war zunächst kein schlechtes Schicksal beschert: Die Sozialdemokraten kehrten schon im Jahr 1993 für vier Jahre an die Macht zurück, stellten von 1995 bis 2005 mit Aleksander Kwasniewski den Staatspräsidenten und fuhren im Jahr 2001 bei der Parlamentswahl mit 41 Prozent der Stimmen ein Rekordergebnis ein. Doch zehn Jahre später wird erneut nach der Fahne gefragt. „Ist sie schwer?“, erkundigte sich vor kurzem ein besorgter Journalist bei dem neuen Fraktionsvorsitzenden des Sojusz Lewicy Demokratycznej (SLD – Allianz der Demokratischen Linken) in Anspielung darauf, dass dieser die Parteifahne womöglich bald nach historischem Vorbild auf den Schultern in Richtung Ausgang tragen muss.
Acht Prozent für den Hoffnungsträger
Denn die Parlamentswahl vom 9. Oktober 2011, bei der die Partei des inzwischen zurückgetretenen einstigen Hoffnungsträgers Grzegorz Napieralski gerade noch acht Prozent der Stimmen erhielt, markiert mehr als ein Popularitätsloch. Erstmals in der zwanzigjährigen Geschichte der Dritten Republik stellt der SLD die kleinste Parlamentsfraktion im Sejm. Dabei wurde die Partei sogar von einer neuen Gruppierung überholt, die sich ebenfalls linke Parolen auf die Fahnen schreibt: Die anti-klerikale Bewegung von Janusz Palikot, einem ehemaligen Unternehmer und politischen Weggefährten des liberalen Premierministers Donald Tusk, bekam aus dem Stand rund zehn Prozent der Stimmen. Der Alleinvertretungsanspruch des SLD für das linke Spektrum in Polen erlitt einen schweren Schlag. Mehr noch: Die bange Frage steht im Raum, ob diese Partei überhaupt noch gebraucht wird.
Programmatisch debattiert wurde nie
Die Existenzkrise hat sich der SLD selbst eingebrockt, und nach den Wahlen scheint sie sich sogar weiter zu vertiefen. Als die Sozialdemokraten nach 1990 die Nachfolge der kommunistischen Partei antraten, hatten sie bei allen Schwierigkeiten zumindest in einer Hinsicht leichtes Spiel: Um ein genuines sozialdemokratisches Programm brauchte sie sich nicht zu kümmern – ihr Programm war ihre Vergangenheit. In den neunziger Jahren verlief die wichtigste politische Trennlinie in Polen zwischen denjenigen, die der Volksrepublik nachtrauerten und den Anhängern der Solidarnosc-Bewegung. Die einen wählten die sich nun als Sozialdemokraten bezeichnenden Linken, die anderen wurden zu Anhängern des rechten politischen Spektrums, das alle Parteien aus dem ehemaligen Solidarnosc-Lager umfasste.
Diese Zweiteilung zwischen ehemaligen Kommunisten und den Erben der Solidarnosc-Bewegung war viel wichtiger als der klassische westeuropäische Gegensatz zwischen links und rechts, der auf unterschiedlichen ökonomischen und gesellschaftspolitischen Konzepten fußt. Aus diesem Grund hatten die polnischen Sozialdemokraten keinerlei Hemmungen, eine harte Sozialpolitik, die Intervention im Irak oder sogar einen Flat-Tax zu befürworten (die allerdings nicht eingeführt wurde). Mehr noch: Programmatisch debattiert wurde eigentlich nie, stattdessen drehte sich das Parteileben um Machtkämpfe und Postenverteilung. Eine entsprechende Personal- und schlechte Nachwuchspolitik ergänzt dieses Bild.
Das unrühmliche Ende der linken Regierung im Jahr 2005 nach einer Reihe von Korruptionsaffären, aber auch die veränderte politische Konstellation im selben Jahr, waren die fatalen Konsequenzen dieses fahrlässigen Verhaltens: Der Schwerpunkt der polnischen Politik verlagerte sich auf den Kampf zwischen der nationalkonservativen Kaczynski-Partei Prawo i Sprawiedliwosc (PiS) und der liberalkonservativen Bürgerplattform von Donald Tusk. Die Sozialdemokraten standen am Spielfeldrand und durften nicht mehr mitspielen – politisch marginalisiert, ohne ein alternatives Programm und ohne charismatische Führungsfiguren. Auch der Generationenwechsel an der Spitze – Grzegorz Napieralski ist Jahrgang 1974 – konnte dieses Manko nicht überdecken. Warum auch sollte ein junger Apparatschik besser sein als ein alter? Die letzten Jahre, in denen die Partei eine Erholungskur dringend nötig hatte, waren verlorene.
Politik mit der zweiten Leber
Im Wahlkampf 2011 sorgte der SLD mit aus der Luft gegriffenen Forderungen und einer Reihe von peinlichen Konflikten um Listenplätze für Aufmerksamkeit. Der Parteiführer zeigte sich in den Fernsehdebatten als weitgehend inkompetent, seine Partei insgesamt als unglaubwürdig. Während Palikot den SLD mit anti-klerikalen Parolen links überholte, konnte sich Donald Tusks Platforma Obywatelska (PO) mit ihrem durch Überläufer vom SLD gestärkten linken Flügel der potenziellen SLD-Wählerschaft als seriöse Alternative präsentieren. Das Ergebnis ist bekannt.
Ob die gegenwärtige Krise als Chance für eine Erneuerung genutzt wird, ist fraglich. Der neue Chef der Parlamentsfraktion und die zugleich einflussreichste Figur in der Partei ist Leszek Miller. Der 65-jährige frühere PVAP-Funktionär war von 2001 bis 2005 Premierminister. Derzeit bereisen seine Mitarbeiter die Provinz, um die parteiinternen Machtstrukturen auf der lokalen Eben zu festigen. Eine Reise „mit einer zweiten Leber“ wird sie von Insidern genannt. „Man muss hinfahren, ein paar Gläser trinken und mit den Leuten reden. Und es wird gut sein. Aber ein paar Gläser zu trinken bedeutet nicht, ein Gespräch darüber zu führen, wie Polen sein soll, sondern über Personalien und taktische Manöver“, kritisierte kürzlich der angesehene Ökonom und frühere SLD-Finanzminister Marek Borowski diese Strategie.
Wie sehen die Alternativen aus?
Wohin die neue-alte Sozialdemokratie nach dem Wahldesaster geführt wird, bleibt ungewiss. Auch die für Dezember vorgesehene Wahl des neuen Parteivorsitzenden wird die Weichen kaum neu stellen können. Das Personaltableau ist dürftig, die Besten wurden bereits vor der Wahl von der Bürgerplattform PO abgeworben, die Jüngeren sind zwar frisch, aber vollkommen unerfahren. Der aussichtsreichste Kandidat für den Chefposten scheint tatsächlich Leszek Miller zu sein. Er selbst will „das Wirtschaftswachstum fördern und sich um die soziale Solidarität kümmern“. Dies ist ein recht vages Versprechen in einer Situation, in der Polens Wirtschaft einknickt und das Land schwierigen Zeiten entgegenblickt. Kurz nach der Parlamentswahl forderte Leszek Miller Premierminister Donald Tusk auf, möglichst schnell der Eurozone beizutreten. Ein legitimes Anliegen, das jedoch kaum vereinbar ist mit anderen deklarierten Prioritäten des SLD wie der Anhebung des Mindestlohns und höheren Sozialausgaben.
Vielleicht hat der sich abzeichnende Niedergang der Sozialdemokraten auch positive Seiten. Die in den Institutionen stark vertretene und finanzkräftige Partei war in den vergangenen Jahren zunehmend von einem Pfeiler zum Hindernis auf dem Weg zu einer modernen polnischen Linken geworden. Sollte sie nun in der Bedeutungslosigkeit versinken, wäre es umso wichtiger, über Alternativen nachzudenken. Dass Janusz Palikot seine Bewegung zur „neuen Linken“ umbauen kann, darf bezweifelt werden. Er ist weltanschaulich linksradikal, aber wirtschaftspolitisch durchaus liberal. In erster Linie versammelte er Protestwähler um sich, die die etablierten Parteien aus sehr unterschiedlichen Gründen nicht wählen wollten.
Gleichwohl wird man an seiner Partei bei einer Neustrukturierung des linken politischen Spektrums in Polen kaum vorbeikommen. Die politische Linke verteilt sich derzeit auf drei Parteien: die Bürgerplattform, den SLD und auf die Palikot-Bewegung. Dadurch ist das große linke Potenzial von geschätzten 25 Prozent der Wähler lahm gelegt. Ein großer Teil der Linksgesinnten, die etwa im Umfeld der intellektuellen Bewegung „Krytyka Polityczna“ zu verorten sind, fühlt sich von ihnen gar nicht repräsentiert. Ist die Gründung einer neuen Partei der Ausweg aus der Misere? Oder muss eine breite Allianz der linken Gruppierungen aufgebaut werden? Fest steht nur: Die polnische Linke hat einen langen Marsch vor sich. Mit dem Aufstieg Palikots und der Spaltung der Kaczynski-Partei hat sich im polnischen Parteisystem eine neue Dynamik entwickelt. Diese Dynamik müssen jetzt diejenigen nutzen, die sich als moderne Linke begreifen. Dann kann in ein paar Jahren vielleicht eine neue Fahne gehisst werden. «