Schlimmer als die Ostseepipeline
Die Energiewende droht dem Image Deutschlands in Europa ähnlich zu schaden wie der Fiskalpakt und die von Angela Merkel durchgepaukten Sparprogramme für die EU-Schuldnerstaaten. Dies soll kein Urteil über die Sinnhaftigkeit des Atomausstiegs und den Ausbau der erneuerbaren Energieträger sein. Es gibt viele Gründe dafür, dieses Experiment trotz aller Risiken zu wagen – vom Klimaschutz bis zum Wirtschaftsstandort Deutschland. Aber wer meint, die Energiewende sei allein im nationalstaatlichen Rahmen durchführbar, der täuscht sich sehr.
Zwar ist Deutschland in den vergangenen Monaten nicht zum Stromimporteur geworden, wie es Skeptiker prophezeit hatten. Das Land musste aber – wie auch in Normalzeiten durchaus üblich – hin und wieder Strom aus Frankreich oder Tschechien beziehen. Mangels eigener Stromtrassen für Ökostrom aus dem Norden musste dieser über polnische oder tschechische Netze nach Süddeutschland geleitet werden. Und da die Überproduktion von Ökostrom die deutschen Netze zu sehr belastete, wurde dieser zeitweilig nach Polen geschickt, was für Irritationen sorgte. Auch die Ausrichtung der europäischen Energie- und Klimapolitik ist für das Gelingen der Energiewende nicht unwichtig. Kurz: Es gibt für die Deutschen Anlass genug, über den energiepolitischen Tellerrand ihres eigenen Landes zu schauen.
Tut man das, erblickt man zunächst eine heraufziehende Konfrontation mit einem Partner im Osten, mit dem bilaterale Konflikte schon der Vergangenheit anzugehören schienen: Polen ist in den vergangenen Jahren zu einem verlässlichen Partner der deutschen Europapolitik avanciert, wie nicht zuletzt die viel beachtete Rede des Außenministers Radoslav Sikorski in Berlin im November 2011 zeigte. „Ich fürchte mich weniger vor Deutschlands Macht, sondern beginne mich mehr vor Deutschlands Untätigkeit zu fürchten“, hatte Sikorski gesagt – und den in Europa vereinsamten Deutschen damit ein attraktives Angebot zu enger Partnerschaft gemacht.
Doch der Dissens in der Klima- und Energiepolitik könnte dieser Harmonie bald ein Ende setzen. Das polnische Veto gegen die EU-Klimapolitik im Februar 2012 war dafür ein wesentlich stärkeres Anzeichen als die Bürgerproteste in Brandenburg gegen die geplanten Atomkraftwerke in Polen. Die EU-Klimapolitik ist ein Konfliktfeld mit größerem Sprengpotenzial für die deutsch-polnischen Beziehungen, als es vor wenigen Jahren die berüchtigte Ostsee-Pipeline besaß. Damals ging es vor allem um den polnischen Wunsch nach Energiesicherheit, den man in Deutschland oft als Russland-Phobie missverstand. Ein Appell an die polnische Vernunft wird bei Themen wie Kohlendioxid-Emissionen, Schiefergasförderung oder Atomeinstieg noch schwerer werden. Denn dabei stehen nicht primär bestimmte Risikowahrnehmungen im Vordergrund, sondern handfeste Wirtschaftsinteressen.
Während sich die Beschleuniger und Bremser der Energiewende in Deutschland immer häufiger gegenseitig an den Kragen gehen, herrscht in Polen ziemlich einhellig die Meinung, Berlin wolle die Kosten seines teuren Experiments Energiewende auf die Schultern der europäischen Partner verteilen. Diesem Zweck, so die polnische Lesart, sollen hochgeschraubte EU-Klimaziele ebenso dienen wie die Mitfinanzierung der erneuerbaren Energien aus den europäischen Fonds. Diese gilt – wie in Warschau zu hören ist – als harter Brocken in den EU-Haushaltsverhandlungen.
Weit verbreitet ist die Meinung: Auf diese Weise soll die europäische Klimapolitik zum Vehikel der deutschen Wirtschaftspolitik werden. Nachdem Berlin mit dem Fiskalpakt die Südländer umgekrempelt habe und mit der Ausgestaltung der Economic Governance in der Eurozone keine Abstriche am deutschen Exportmodell hinnehmen wolle, solle nun dem Osten das deutsche – diesmal grüne – Rezept verschrieben und aufgezwungen werden. Tatsächlich würde das beschleunigte „Greening“ der europäischen Wirtschaft neue Absatzmärkte für die gepäppelte Umwelttechnikbranche in Deutschland mit sich bringen, die bis 2020 mehr als eine Million neue Arbeitsplätze schaffen und die alten Industriezweige wie Auto- und Maschinenbau überflügeln soll.
So ärgerlich diese Argumente für manchen Befürworter der Energiewende sein mögen – es wäre falsch, sie als klimaskeptisches oder antideutsches Geschwätz von gestern abzutun. Gewiss: Was heute aus Warschau zu vernehmen ist, mutet oft haarsträubend an. Etwa wenn ein wichtiger umweltpolitischer Berater bezweifelt, dass Kohlendioxid-Emissionen überhaupt gesenkt werden müssten. Oder wenn das polnische Veto gegen die „Energy Roadmap 2050“ allein mit dem Verweis auf die großen eigenen Kohlevorräte begründet wird. Aber beide Länder haben nun einmal wirtschaftspolitisch vollkommen unterschiedliche Ausgangspositionen. Während die Klimapolitik und der Umstieg auf die Erneuerbaren in Deutschland plausibel als rentable Zukunftsinvestitionen verkauft werden können, machen die für Polen errechneten Zahlen auf Regierungsexperten wie Öffentlichkeit einen eher beklemmenden Eindruck.
Unterschiedliche Studien kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Strompreise mindestens verdoppeln würden, wenn Polen die europäischen Klimaziele tatsächlich erreichte. In diesem Fall würde ein durchschnittlicher polnischer Haushalt mehr als 15 Prozent seines Budgets für Energie ausgeben. Heute wird mehr als 90 Prozent des polnischen Stroms aus Kohle erzeugt, dem billigsten Energieträger. Schon um die bestehenden Beschlüsse der EU zu erfüllen, wären in der polnischen Energiewirtschaft bis 2030 Investitionen in Höhe von über 100 Milliarden Euro nötig. Zum großen Teil ist dies der Preis der Vernachlässigungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten: Seit 1990 wurde in Polen kein größeres neues Kraftwerk gebaut. Rund 70 Prozent der Blöcke sind älter als 30 Jahre, 40 Prozent älter als 40 Jahre, und 15 Prozent sind mehr als 50 Jahre alt. Zwar hat Polen die Emissionen von Kohlendioxid seit 1990 erheblich reduziert – von 453 Millionen auf 377 Millionen Tonnen im Jahr 2009. Gleichwohl bleibt bei der Energieeffizienz noch viel zu tun.
Eine Gesellschaft mit anderen Erinnerungen
Wäre es nicht sinnvoll, gerade wegen der sowieso bevorstehenden und unvermeidbaren Investitionen einen großen Wurf zu wagen und auf grüne Modernisierung zu setzen? Es ist bedauerlich und für die gesellschaftliche Stimmung schädlich, dass sich nur eine kleine Minderheit in Polen mit solchen Alternativen ernsthaft auseinandersetzt – und dafür auch noch als naive beziehungsweise gefährliche Versammlung von „Gutmenschen“ abgestempelt wird. Das Klima-Bündnis Koalicja Klimatyczna, ein unabhängiger Verbund ökologischer Organisationen, hat eine Studie in Auftrag gegeben, um die Potenziale einer Transformation hin zu einer Low-Emissions-Economy auszuloten.
Das Fazit der Studie: Ein solches Projekt wäre machbar. Aber selbst im optimistischen Szenario würden sich die Kosten auf etwa 1,5 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts für die nächsten 20 Jahre belaufen. So enttäuschend es klingen mag: Eine postsozialistische Gesellschaft, die sich in einem ökonomischen Aufholprozess befindet und den ökologischen Bewusstseinswandel der siebziger und achtziger Jahre verpasst hat, ist nicht bereit, diese Kosten zu tragen. Als die Regierung Donald Tusk dem Klimapaket der EU im Jahr 2008 zustimmte, war für viele Polen die rote Linie bereits überschritten. Für eine Verschärfung der Klimaziele hatte die Regierung schlicht kein Mandat.
So setzt die polnische Regierung auf andere energiepolitische Hoffnungsträger als Deutschland. Der Bau zweier Atomkraftwerke soll es Polen ermöglichen, die bestehenden Klimaziele der EU zu erreichen. Die Entdeckung großer Schiefergasvorkommen hat die Vision eines Gas-Eldorados beflügelt, das Polen langfristig zu einem Gasexporteur machen könnte. Die Verwirklichung beider Projekte ist noch nicht gesichert: Atom-Investoren stehen momentan nicht gerade Schlange, und das Schiefergasvolumen ist kleiner als zunächst vermutet (wobei sich die Förderung wohl nach wie vor lohnt). Auf der anderen Seite fördert Polen die erneuerbaren Energien nur halbherzig: Sie machen im Energiemix des Landes derzeit nur sechs Prozent aus.
Was die Eliten beider Länder jetzt leisten müssen
Eine grundsätzliche gesellschaftliche Debatte über die nachhaltige Entwicklung und ökologische Modernisierung der Wirtschaft steht Polen erst noch bevor. Die deutsche Energiewende wird dabei genau beobachtet und kann in dieser Diskussion eine wichtige Rolle spielen – ob mit ihrem Gelingen oder mit ihrem Scheitern. Außerdem machen die Ressourcenknappheit, steigende Energiepreise und die wachsende Rolle der Klimapolitik eine stärkere Integration der europäischen Energiepolitik notwendig.
Heute liegt die Entscheidung über den Energiemix nach wie vor in der Souveränität der Mitgliedsstaaten. Anders hätte Deutschland seinen ambitionierten Weg der Energiewende übrigens gar nicht einschlagen können, weil darüber in der EU kein Konsens herrscht. Auf diesem Weg werden die Unterschiede und Spannungen zwischen Polen und Deutschland immer stärker in den Vordergrund treten. Diese Unterschiede und Spannungen politisch aufzufangen, statt sich in moralische Auseinandersetzungen zwischen „scheinheiligen Weltverbesserern“ und „rücksichtslosen Weltverschmutzern“ zu verwickeln und dabei die gute Zusammenarbeit zwischen Berlin und Warschau aufs Spiel zu setzen – das ist die Aufgabe, der sich die Eliten beider Länder jetzt stellen müssen.