Wie die Energiewende scheitert - oder nicht
Erst ganz allmählich dämmert den Deutschen, worauf sie sich da eingelassen haben im vorigen Jahr, als sie Hals über Kopf dem Ruf nach der Energiewende folgten. Frohgemut und im Bewusstsein eigener Rechtschaffenheit, aber blauäugig und ahnungslos hinsichtlich der Konsequenzen reagierte unser Land auf die Katastrophe von Fukushima. Selten ist eine grundlegende politische Entscheidung von einer so breiten Mehrheit unterstützt worden wie der Atomausstieg II. Inzwischen ist klar: Wenn sich so viele Bürger nebst ihren politischen Repräsentanten in dieser Sache so einig waren, dann zumeist deshalb, weil sie keinerlei Vorstellung von der Dimension des Umbruchs besaßen, den sie in Gang setzten. Ein ganzes Land war sich sicher, mit dem Atomausstieg den Schlussstrich unter ein leidiges Unterkapitel seiner Geschichte zu ziehen – und wandte sich erleichtert den Üblichkeiten des Lebens zu: „So, das hätten wir.“
Noch gar nichts haben wir! Unseren (unvermeidlichen und richtigen) Ausstieg aus der Atomenergie werden wir ökonomisch und gesellschaftlich nur dann verdauen, wenn wir ihn mit aller Konsequenz als Einstieg ins regenerative Zeitalter begreifen. Klimawandel und Ressourcenverknappung verbieten es, im verstärkten Rückgriff auf fossile Energie mehr als eine unbefriedigende Zwischenlösung zu sehen. Wie also weiter? Wir könnten kollektiven Verzicht üben, sicherlich, die Energiewende systematisch als „Wende zum Weniger“ buchstabieren; aber das hätte – sozial höchst asymmetrisch verteilte – Arbeitsplatz- und Wohlstandsverluste sowie schwerste gesellschaftliche Verwerfungen zur Folge. Fortschritt sieht anders aus. Folglich muss unsere Energie – weiterhin in großen Mengen, jederzeit verlässlich und zu bezahlbaren Preisen – aus erneuerbaren Quellen gewonnen werden können. Davon sind wir noch weit entfernt. Und dahin gelangen wir nur mit sehr viel innovativer Technologie, Industrie und Geld. Also kann Deutschland die Energiewende überhaupt nur als hochmodernes Industrieland und weiterhin erfolgreiche Wirtschaftsmacht hinbekommen; andererseits wird die Bundesrepublik im 21. Jahrhundert nur dann mit Erfolg Industrieland und Wirtschaftsmacht bleiben, wenn uns dies mit regenerativen Mitteln gelingt. Nicht weniger als dieses verknotete Paradox müssen wir auflösen.
Die Beiträge aus Wissenschaft, Publizistik, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in unserem Schwerpunkt bilden einen Weckruf: Die Energiewende muss eine Gesellschaftswende sein. Dieses Umbauprojekt wird unser Land über „vier Jahrzehnte“ (Claudia Kemfert) beschäftigen und umprägen. Ob zum Guten oder Schlechten, hängt davon ab, wie wir die Sache betreiben: so fokussiert, diskursiv und europäisch, wie es nötig ist – oder so halbherzig, dilatorisch und widerwillig wie bislang unter lustloser Führung einer einsilbigen Kanzlerin. Der Zwischenstand ist ernüchternd: „Die Bundesregierung unterschätzt die Dimension und Komplexität der Energiewende“, schreibt Heinrich Hiesinger, der Chef von ThyssenKrupp. „Ein Jahr nach dem panischen Ausstieg aus der Atomkraft wirkt die deutsche Energiepolitik wenig durchdacht und strategisch, sondern vor allem: dilettantisch“, meint die Publizistin Jeanne Rubner. Höchste Zeit für den Neustart. Gute Ideen dazu finden Sie in diesem Heft.