Illusion der Äquidistanz

EDITORIAL

In jüngster Zeit ist verschiedentlich die Rede davon gewesen, Deutschland solle im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und Russland eine Position der „Äquidistanz“ einnehmen. Auch Sozialdemokraten haben diese Auffassung vertreten – was sie nicht von vornherein plausibel macht. Tatsächlich ist die Vorstellung von einer „goldenen Mitte“ für Deutschland zwischen der autoritären Großmacht im Osten und dem langjährigen transatlantischen Partner nicht ausgegoren. Gewiss, unter Präsident George W. Bush erscheinen die Vereinigten Staaten nicht mehr wie einst als strahlende Heimstatt der Freiheit; und angesichts seiner enormen Gas- und Ölreserven hat andererseits Russland für Deutschland handfest an Bedeutung gewonnen. Dennoch: Als Leitlinie für die internationale Selbstpositionierung der Bundesrepublik im 21. Jahrhundert taugt die Vorstellung von der Äquidistanz keinesfalls, wie die Schwerpunktbeiträge in dieser Ausgabe der Berliner Republik verdeutlichen.

 

Jörg Himmelreich, Osteuropaexperte des German Marshall Fund mit Sitz in Berlin, benennt in seinem historischen Abriss des deutsch-russischen Verhältnisses das zentrale Argument: „Für die Sowjetunion und Russland war Deutschland bisher immer ein Vehikel, um russische Interessen in die europäische und transatlantische Diskussion einzuführen und um europäische und transatlantische Partner auseinanderzudividieren. Ziel war es, Deutschland vom Westen zu entfremden.“ Otfried Nassauer, Leiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit, bringt mehr Verständnis für die außen- und sicherheitspolitischen Positionen der russischen Eliten auf. Warum Moskau etwa im Hinblick auf konventionelle Waffen in Europa, die Zukunft des Kosovo oder die amerikanischen Raketenabwehrpläne so agiert, wie es agiert, demonstriert Nassauers Analyse anschaulich. Im Kern jedoch bestätigt sie – sozusagen aus umgekehrter Perspektive – Himmelreichs These punktgenau. Unter Wladimir Putin, schreibt Nassauer, habe Russland den Europäern (und damit vor allem Deutschland) unmissverständlich die Frage aufgezwungen, „ob der Westen wichtige Entscheidungen für die Zukunft der europäischen Sicherheit mit oder gegen Moskau treffen will. ... Riskiert Europa im Zweifel die Entfremdung Russlands, um Streit mit Washington zu vermeiden?“

 

Eine eindeutige Antwort steht aus. Völlig klar ist, dass die Vermeidung von „Streit mit Washington“ jedenfalls nicht das einzige Motiv sein darf, russische Unzufriedenheit in Kauf zu nehmen. Zu Recht weist Marianne Heuwagen, Leiterin des deutschen Büros von Human Rights Watch, vehement darauf hin, worum es für Deutschland und Europa – schon um der Selbstachtung willen – im Verhältnis zu Russland noch gehen muss: „Dem Kreml liegt das Verhältnis zu Europa ebenso am Herzen wie sein Ansehen in der Welt. Man muss Putin eindringlich vor Augen führen, dass seine Politik und sein Prestige auch an der Einhaltung der Menschenrechte gemessen werden.“ Im Spannungsverhältnis zwischen Wert- und Westbindung einerseits sowie dem Wunsch nach Energiesicherheit andererseits hat Deutschland den archimedischen Punkt offensichtlich noch nicht gefunden. In der „Äquidistanz“ liegt er ganz sicher nicht.

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