Im akademischen Prekariat

Wer sich heute für eine Laufbahn in der universitären Wissenschaft entscheidet, riskiert den Abstieg aus der bürgerlichen Existenz. Wenn Deutschland im 21. Jahrhundert mithalten will, brauchen wir dringend einen neuen wissenschaftspolitischen Aufbruch

Weil sich die deutsche Politik in diesem Jahr primär mit der Eindämmung der globalen Finanzkrise beschäftigte, trat die Bildungs- und Wissenschaftspolitik in den Hintergrund der politischen Aufmerksamkeit. Wissenschaftler gehörten – mit Ausnahme der Nationalökonomen – seit dem vergangenen Herbst nicht zu den bevorzugten Gesprächspartnern der Massenmedien. Währenddessen betrieb die politische Klasse in selten gekannter Einigkeit deficit spending – zur Konsolidierung der Finanzindustrie, zur vermeintlichen Rettung von Betrieben oder für populistische Maßnahmen wie der so genannten Abwrackprämie. Als die Universitäten dies kaum noch zu hoffen gewagt hatten, entschloss sich die Große Koalition kurz vor Ende der Legislaturperiode doch noch, auch in die Zukunft der deutschen Wissenschaft zu investieren.


Dies ist natürlich sehr zu begrüßen. Mit den zusätzlichen Milliarden für die „Exzellenzinitiative“ können die Hochschulen zentrale Vorhaben vorantreiben. Die Mittel tragen dazu bei, dass sich der Abstand zu den amerikanischen Universitäten nicht noch weiter vergrößert. Jedoch bleiben die strukturellen Probleme der Hochschulen unangetastet. Das Finanzpaket darf nicht davon ablenken, dass in der nächsten Legislaturperiode weitere grundlegende Reformen notwendig sind und die Veränderungen des vergangenen Jahrzehnts noch einmal kritisch überprüft werden müssen.


An dieser Stelle können nicht sämtliche Felder der Wissenschaftspolitik besprochen werden (der Bologna-Prozess allein wäre sicher ein eigenes Heft der Berliner Republik wert). Mir geht es hier allein um die unverändert problematische Position von Nachwuchswissenschaftlern an den deutschen Hochschulen. Besonders jene Reformen, die Ende der neunziger Jahre eingeleitet wurden, zeitigen ambivalente bis miserable Ergebnisse.


Sicher ist der Mehltau verschwunden, der sich in den langen Jahren der Kanzlerschaft Helmut Kohls über die Hochschulen gelegt hatte. Unter Rot-Grün hat die Bundespolitik das Interesse an der Wissenschaft wiederentdeckt. Die Verantwortlichen haben verstanden, dass sich auf diesem Gebiet nicht weniger als die Zukunftsfähigkeit Deutschlands entscheidet, und schon dieser Wandel ist positiv zu bewerten. Dennoch hat der Beruf des Wissenschaftlers – auch wegen der Reformen – für junge Menschen stark an Attraktivität eingebüßt, Schlagwörter wie „Bildungsrepublik“ oder „Wissenschaftsstandort“ hin oder her. Dies gilt sowohl im Vergleich zu einer Karriere in der Wirtschaft oder im höheren Staatsdienst als auch – mit besonders dramatischen Folgen – im internationalen Vergleich mit Universitäten in den Vereinigten Staaten und in westeuropäischen Nachbarstaaten. Deutschlands junge Wissenschaftler leiden ganz besonders unter drei Defiziten des hiesigen Systems: dem späten Zeitpunkt einer festen Beschäftigung, der intransparenten Praxis der Stellenvergabe und der deutlichen Gehaltskürzungen infolge des im Jahr 2002 beschlossenen W-Tarifs für wissenschaftlich Beschäftigte.

Bevormundet und unterbezahlt

Während der Bologna-Prozess trotz seiner offensichtlichen Unzulänglichkeiten mit Verve vorangetrieben wird, gibt es keine nennenswerten Initiativen zur dringend notwendigen Verbesserung der Situation des wissenschaftlichen „Nachwuchses“ (ein seit jeher euphemistischer Terminus, der auch auf Hochqualifizierte jenseits des 40. Lebensjahres angewandt wird). Die wirtschaftliche Lage und die Perspektiven dieser Berufsgruppe haben sich kontinuierlich verschlechtert. Unter Bevormundung, Planungsunsicherheit und Unterbezahlung leiden primär junge Wissenschaftler und deren Angehörige – sofern diese sich unter den hier skizzierten Bedingungen überhaupt zur Familiengründung entschließen. Die bestehenden Verhältnisse bedrohen mittelfristig die nationale und internationale Konkurrenzfähigkeit des deutschen Hochschulsystems, die doch durch die Exzellenzinitiative befördert werden soll, sowie das akademische Niveau in Deutschland insgesamt.


Deshalb zieht es die besten Köpfe weiter in die Wirtschaft oder ins Ausland, wo Dienstwagen oder andere Privilegien bereitstehen. Junge Wissenschaftler opfern ihre Leidenschaft für die Forschung auf dem Altar materieller Bedürfnisse, vor allem in den technischen Fächern und in den Naturwissenschaften. In den Sozial- und Geisteswissenschaften, wo der Wechsel in die Wirtschaft schwieriger ist, sind es die Lebens- und Arbeitsbedingungen an angelsächsischen Universitäten, die deutsche Forscher zu Hunderten anziehen.


Die meisten meiner Kollegen werden dabei keineswegs von einer Abneigung gegenüber ihrer Heimat getrieben.
Vielmehr locken sie die langfristigen Perspektiven und die Befreiung aus dem Paternalismus des deutschen Systems gen Westen. Im Unterschied zur Bundesrepublik existiert in den Vereinigten Staaten und in England ein transparentes und leistungsorientiertes System, das hervorragenden Forschern früh die Sicherheit einer permanenten Beschäftigung und die Möglichkeit zum weiteren Aufstieg bietet.


Es ist die Aufgabe der Wissenschaftspolitik, hier rasch für Chancengleichheit zu sorgen. Deutsche Uni-versitäten und Institute brauchen den tenure track nach der Promotion als Karriereoption für junge Forscher – und zwar möglichst sofort. Dies würde übrigens nicht nur deutschen Forschern eine Perspektive bieten, sondern auch deutsche Stellen auf dem internationalen Markt attraktiver machen – und so die notwenige Internationalisierung der Hochschulen vorantreiben. Mittels junger Professorinnen und Professoren würde zudem die Lehre für die Studierenden verbessert.


Neben der Umstrukturierung der Berufungspraxis an deutschen Hochschulen gilt es, die Besoldung nach dem W-Tarif zu verändern. Ein Land, in dem ein Juniorprofessor, der gewöhnlich eine außerordentliche Arbeitsleistung erbringt und viel Verantwortung trägt, weniger verdient als ein Lehrer, verspielt das Recht, sich als internationaler Wissenschaftsstandort zu bezeichnen. Der W-Tarif bedeutet den Abstieg des Hochschullehrers aus der bürgerlichen Existenz. Er zerstört nicht nur das materielle, sondern auch das kulturelle Kapital des deutschen Professors. Kaum ein kluger Kopf wird in Zukunft bereit sein, 20 Jahre wissenschaftlicher Qualifikation zu investieren, um dann – im Fall einer Berufung auf eine W-2 Professur – schlechter dazustehen als ein Studienrat. Dass es besonders in den Geisteswissenschaften international anerkannte deutsche Forscher gibt, die trotz ausgewiesener Meriten keine feste Anstellung erhalten, sei hier nur am Rande erwähnt.

Zweitklassige Wissenschaft reicht nicht

Diese Verhältnisse sind ein wissenschaftspolitischer Skandal, und noch skandalöser ist es, dass sie den Verantwortlichen keineswegs schlaflose Nächte zu bereiten scheinen. Die Republik darf sich aber nicht mit einer zweitklassigen Wissenschaft begnügen. Im Gegenteil: Die Öffentlichkeit muss begreifen, dass Deutschland nicht primär in Altautos, sondern in Forschung investieren sollte.


Von der Exzellenzinitiative haben bisher vor allem arrivierte Forscher profitiert. Dies war wichtig, um in Deutschland weiter Forschung auf Spitzenniveau zu ermöglichen. Doch nun sollten dringend auch die Berufsperspektiven des Nachwuchses verbessert werden. In seinem berühmten Vortrag über „Wissenschaft als Beruf“ hat Max Weber bereits im Krisenjahr 1919 bedauert, für Studierende in Deutschland sei es ein „Hasard“, eine wissenschaftliche Karriere zu verfolgen. Schon damals verwies er auf die besseren Bedingungen, die angelsächsische Universitäten ihrem Nachwuchs bieten. Genau 90 Jahre später ist es an der Zeit, dass sich das Risiko einer Forscherlaufbahn in Deutschland wieder auszahlt. Das selbst geschaffene Problem eines akademischen Prekariats muss angegangen werden.

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