I′m Just a Singer of Songs
Johnny Cash hatte an dem Projekt buchstäblich bis zur letzten Minute mitgewirkt. Am 15. Mai war seine geliebte Frau June unerwartet gestorben, ohne die er es in sein 72. Lebensjahr wohl nicht geschafft hätte. Cash blieb als Trost jetzt nur noch die Arbeit. Im Rollstuhl sitzend und nahezu erblindet, machte der an schwerer Diabetes leidende Sänger einfach weiter. Das Studio hatte man in sein Haus in Hendersonville verlegt. Morgens arbeitete Cash an dem Begleitbuch für die geplante Box, nachmittags spielte er neue Titel ein " insgesamt fünfzig Songs für ein weiteres mit Rubin geplantes Album, das als "American V" möglicherweise noch in diesem Jahr erscheint.
Johnny Cash und Rick Rubin sind eines der ungewöhnlichsten Gespanne, die man sich in der populären Musik vorstellen kann. Als sie 1993 zusammentrafen, stand der längst zur Legende gewordene Sänger ohne Plattenvertrag da. 1986 war Cash nach 28 Jahren von Columbia fallengelassen worden. Anschließend hatte er bei Mercury unterschrieben, doch brachte man ihm auch dort bald kein rechtes Interesse mehr entgegen. Nicht, dass die Platten, die Cash in den siebziger und achtziger Jahren aufgenommen hatte, sämtlich schlecht oder uninspiriert gewesen wären. Begeisterung hervorrufen konnten sie aber nicht.
Cashs Einstellung gegenüber den Plattenfirmen wurde immer zynischer. Anfang der neunziger Jahre erwog der Sänger einen dauerhaften Rückzug nach Branson, Missouri, um dort seinen beruflichen Lebensabend zu verbringen - Fans hatte er schließlich immer noch genug. Gott sei Dank kam es anders. Der Hip-Hop-Produzent Rubin, gerade mal halb so alt wie Cash, wollte den berühmten Mann unter seine Fittiche nehmen. Er glaubte, dass in Cash noch immer etwas brannte, das man hervorholen müsse. Cash war zwar misstrauisch, wusste aber, dass er im Grunde nicht viel zu verlieren hatte. Deshalb sagte er zu.
"Simple and honest" - wie ganz am Anfang
Die Idee des Produzenten war ebenso einfach wie bestechend. Cash sollte aufnehmen, was ihm gefiel und was er immer schon aufnehmen wollte: Die Gospels aus seiner Kindheit, die Lieder bekannter Kollegen und seine eigenen Songs. Darüber hinaus schlug ihm Rubin Titel von Tom Waits, Loudon Wainwright III oder Glen Danzig vor - Material von Künstlern, die Cash allenfalls dem Namen nach kannte. Cash sagte später, dass ihn das ganze an den Beginn seiner Karriere bei Sun Records erinnert habe. Zunächst sang er ganz alleine - "simple and honest", begleitet nur von der akustischen Gitarre. Anschließend experimentierte man mit verschiedenen Bands und Instrumenten, am Ende kehrte man zum spartanischen Arrangement zurück. Die Platte hieß schlicht "American Recordings" und wurde von der Musikwelt als Sensation gefeiert; sie bescherte Cash Mitte der neunziger Jahre ein triumphales Comeback.
Zwei der fünf CDs von "Unearthed" entstammen jenen Sessions des Jahres 1993, in denen Cash insgesamt über einhundert Aufnahmen einspielte. Die erste CD mit dem Titel "Who′s Gonna Cry" enthält mehr Traditionals und Cash-Originale als die "American Recordings" - das meiste davon hatte Cash schon früher bei Sun oder Columbia aufgenommen, allerdings nicht zu seiner vollen Zufriedenheit. Die vierte CD "My Mother′s Hymn Book", die chronologisch eigentlich an den Beginn gehört hätte, versammelt die Hymnen und Gospel-Songs, die Cash als kleiner Junge auf den Baumwollfeldern in Arkansas gelernt hatte; dieses Album lag ihm ganz besonders am Herzen. Die CD "Trouble in Mind" schließt mit 15 Aufnahmen aus den Unchained-Sessions an. Nachdem "American Recordings" 1995 mit einem Grammy für das beste zeitgenössische Folk-Album ausgezeichnet worden war, hatten Cash und Rubin beschlossen, dass der Nachfolger musikalisch etwas härter ausfallen müsse.
Ergebnis war die im November 1996 erschienene CD "Unchained", die mit Tom Petty and the Heartbreakers aufgenommen wurde und Cash im Folgejahr einen weiteren Grammy eintrug - diesmal für das beste Country-Album. Diese Auszeichnung erfüllte ihn mit sichtbarer Genugtuung, denn im Radio wurde die Platte kaum gespielt. Cashs und Rubins Reaktion ist legendär: Um sich bei den Discjockeys für die Unterstützung zu bedanken, schalteten sie im Branchenblatt Billboard eine Anzeige, die den Sänger mit ausgestrecktem Mittelfinger zeigt.
Die auf "Unearthed" versammelten Aufnahmen der Unchained-Sessions als bloße "Outtakes" zu bezeichnen, würde ihrer Qualität nicht gerecht. "Trouble in Mind" fällt gegenüber "Unchained" kaum ab. Unweigerlich fragt man sich beim Hören, warum es die Coverversionen von Dolly Partons "The Drifter", Roy Orbisons "Down the Line" oder Merle Haggards "The Runnin′ Kind" seinerzeit nicht bis in die Endauswahl schafften. Dasselbe gilt für die beiden Neil Young-Titel "Pocahontas" und "Heart of Gold", die Cash mit dröhnendem Bariton intoniert. Und "As Long As The Grass Shall Grow" - Johnnys Liebeserklärung an June - klingt so, als hätte er es auf der Bühne schon immer gesungen.
Kritiker und Cash-Fans werden sich auch diesmal streiten, welche der vier Nachzügler-CDs die beste sei. Mag sich unter musikalischen Gesichtspunkten dabei keine eindeutige Präferenz ergeben, so ist der emotionale Höhepunkt von "Unearthed" zweifellos das vierte Album "Redemption Songs". 1996, zur Zeit der Aufnahme von "Unchained", war Cash noch bei bester Stimme. Seit Mitte 1997 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand so rapide, dass er bald darauf mit dem Touren aufhören musste - wie sich zeigte, für immer. Die Ärzte stellten bei ihm ein Parkinson-ähnliches Leiden namens Shy Drager-Syndrom fest, was einem sicheren Todesurteil gleich kam. Da Cash Anfang 2000 immer noch lebte, musste die Diagnose falsch gewesen sein. Der Sänger litt, wie sich nun herausstellte, "nur" unter autonomer Neuropathie - einer seltenen Nervenkrankheit in Verbindung mit Diabetes.
So konnte er im November 2000 seinen dritten Geniestreich landen - das Album "American III: Solitary Man", für dessen Titelsong im Jahr darauf eine weiterer Grammy fällig war. 2002 gesellte sich dann mit "American IV: The Man Comes Around" ein kongenialer Nachfolger hinzu. Ebenfalls Grammy-prämiert, wurde dieses letzte zu Cashs Lebzeiten erschienene Album dank der beeindruckenden Video-Verfilmung des Trent Reznor Titels "Hurt" auch zu einem großen kommerziellen Erfolg und verkaufte sich binnen eines Jahres 800.000 Mal.
Lieder von Abschied und Vergänglichkeit
Die Stimmung der beiden letzten Alben ist düster. Die Mehrzahl der Lieder kreisen um Abschied und Vergänglichkeit, Sterben und Tod. Cashs Stimme klingt brüchig und deutlich gealtert, was ihrer Wirkung allerdings keinen Abbruch tut: Die Stücke werden dadurch noch eindringlicher und authentischer. Wem "American III" und "IV" nahe gegangen ist, dem dürften die aus den gleichen Sessions stammenden "Redemption Songs" endgültig Tränen in die Augen treiben. Das gilt besonders für den Titelsong, eine Bob-Marley-Interpretation; Cash singt den Song im Duett mit Joe Strummer, dem ehemaligen Sänger von "The Clash", der im Dezember 2002 noch vor Cash verstorben ist. Und es gilt auch für den Cat Stevens-Titel "Father and Son", bei dem Fiona Apple assistiert.
Schon der Auftakt gerät zu einem bewegenden Zeugnis von Cashs altersweiser Demut, wenn der Sänger bekundet: "I wouldn′t tell you what′s right or what′s wrong. I′m just a singer of songs." Bei "American IV" wurde die Kompilation von einigen Rezensenten als zu gefällig bemängelt, was die jetzt erhältlichen Outtakes durchaus bestätigen. So ist etwa das Traditional "Cindy", eine Duettaufnahme mit Nick Cave, besser als der auf "American IV" verwendete Hank Williams-Song "I′m So Lonesome I Could Cry". Und das in einer Kirche aufgenommene "You′ll Never Walk Alone", bei dem Cash allein von einer Orgel begleitet wird, klingt eindrucksvoller als "Danny Boy". Ein weiteres Highlight auf der Box ist die Alternativversion von "The Man Comes Around", die zurückgenommener klingt als das Original und in ihrem Boom-Chicka-Boom-Rhythmus an den klassischen Johnny Cash-Sound erinnert.
Kritiker haben an den "American"-Alben vor allem die Authentizität gerühmt. Wo Cash das Material bekannter Kollegen interpretiert, da verleibt er sich die Songs regelrecht ein, ja er macht sie zu seinen eigenen. Die ausgemusterten Stücke zeigen, dass ihm die Aneignung nicht immer gelungen ist - so etwa bei George Jones Country-Standard "He Stopped Loving Her Today" oder Jimmy Rodgers "T For Texas". Insofern ist "Unearthed" auch ein faszinierendes Dokument von work in progress. Die auf den Aufnahmen belassenen Einspielzähler und anschließenden Kommentierungen machen das Experimentelle sichtbar. "Didn′t quite work", sagt Cash an einer Stelle. Und an anderer Stelle, als ein Studiomusiker andeutet, der Take könnte etwas zu kurz geraten sein, entgegnet der Alte trocken: "If I feel like my song is sung, I don′t care if it′s short."
Lieferschwierigkeiten in den USA
Der Erscheinungszeitpunkt der Box - drei Monate nach Cashs Tod legt den Gedanken nahe, es handele sich um die bei solchen Anlässen übliche Masche der Plattenfirma, mit Neuauflagen oder Restesammlungen eine schnelle Mark zu verdienen. Nichts könnte im Falle von "Unearthed" falscher sein. Dass Cash und Rubin ihrer Retrospektive aus unveröffentlichtem Material eine "Best of American"-Kompilation zugefügt haben, mag man als überflüssig bezeichnen - die potenziellen Käufer von "Unearthed" dürften die "American"-Alben schließlich alle im Schrank haben. Doch die aufwändige Gestaltung der Box und das liebevoll zusammengestellte Begleitbuch machen diesen Lapsus allemal wett.
In den USA gab es bereits Lieferschwierigkeiten, weil das Set nicht schnell genug fabriziert werden kann. Dennoch sei Cash und Rubin Dank, dass sie den kommerziellen Aspekt zurückgestellt und diese grandiose Sammlung nicht scheibchenweise auf den Markt geworfen haben. "Unearthed" ist ein in jeder Hinsicht großartiges Dokument. Es steht für eine der fruchtbarsten Kollaborationen in der Geschichte der Popmusik und krönt das Werk einer einmaligen Künstlerpersönlichkeit, deren Legende noch lange weiterleben wird.
Johnny Cash, Unearthed. American Recordings. Lost Highway / Mercury, Fünf-CD-Box>/em>