Im Kampf gegen die deutsche Krankheit hat das Bohren gerade erst begonnen
Seit Johannes Gross in den neunziger Jahren den Begriff der „Berliner Republik“ in der deutschen Öffentlichkeit einführte, geistert er durch die politischen Feuilletons. Seither gibt es, vorwiegend in der gehobenen Publizistik, eine lebhafte und zuweilen interessante Debatte über die Frage, inwiefern die deutsche Wiedervereinigung ein neuartiges politisches Gebilde hervorgebacht hat. Mit dem Begriff wird seitdem ein neues Selbstverständnis und eine veränderte Art, wie die Menschen sich selbst sehen und von anderen gesehen werden wollen, verbunden. Und nicht zuletzt wird neues Handeln, in neuem Stil, von der Politik erwartet.
Nun wird die Bundesrepublik seit gut fünf Jahren von Berlin aus regiert. Aus der Bonner Republik ist indes noch immer keine Berliner Republik geworden. Es hat sich keine neue Richtung, kein neuer Stil in der Politik wirklich festgesetzt. Von der Berliner Republik als erneuerter Republik ließe sich reden, wenn in der Bevölkerung ein politischer Prozess in Gang gekommen wäre, der zu bedeutsamen Änderungen der politischen und wirtschaftlich-sozialen Ordnung der alten Bundesrepublik geführt hätte. Dies war bislang (noch) nicht der Fall, auch wenn sich Ansätze zur Veränderung erkennen lassen. Das Denken und Handeln bleibt allzu oft noch dem der „alten Bonner Republik“ verhaftet.
Wie Gesellschaft, Politik und Wirtschaft in altem Denken erstarrt sind, zeigen allein schon die Debatten, die in den vergangenen zwei Jahren über die Wirtschafts- und Sozialpolitik in unserem Land geführt wurden. Heute redet das Ausland nicht mehr von der Berliner Republik, es hat mittlerweile die „deutsche Krankheit“ als neues Kennzeichen entdeckt.
Im Kampf gegen diese Krankheit bedarf es deshalb nicht nur mutiger politischer Entscheidungen, sondern auch engagierter publizistischer Begleitung und Rückendeckung. Seit ebenfalls fünf Jahren versucht dies die gedruckte Berliner Republik zu leisten. Sie will offen sein für neue Ideen, undogmatisch und konstruktiv, ohne Stereotypen von Rechts und Links, stets auf der Suche nach einem neuen Ton verbindlicher Politik.
Folgt man Max Weber, dann bedeutet „Politik das beharrliche und ausdauernde Bohren dicker Bretter“. Dies werden nicht nur die Herausgeberinnen und Herausgeber der Berliner Republik in den vergangenen fünf Jahren bestätigen können. Auch Redaktion und Autoren dürften dies so erfahren haben, wenn sie, ihrem eigenen Anspruch folgend, wirklich Abschied von einstigen Weltanschauungen, Glaubenssystemen und Dogmen nehmen wollten. Noch nicht alles scheint mir dabei in Gänze geglückt.
Das Bohren hat somit erst begonnen. Viel Holz wartet noch unbearbeitet im Lager. In diesem Sinne gratuliere ich der Berliner Republik herzlich zum fünften Geburtstag und wünsche der Redaktion und Herausgeberschaft weiterhin viel Antrieb und Kraft beim „Bohren“ alter und neuer Bretter.