Im Zweifel für die Freiheit?
Als wäre es nötig, die SPD daran zu erinnern! Hat sie etwa die Einführung staatlicher Fünfjahrespläne in ihr Hamburger Programm geschrieben? Hat sie, was durchaus nahe läge, die Vergesellschaftung des Bankenwesens gefordert? Haben die Banken doch – deren Geschäft es sein sollte, Werte zu bewahren und zu mehren und durch einen geregelten Geldfluss Anderen Geschäfte zu ermöglichen – mit ihnen anvertrautem Vermögen spekuliert, Gewinne zu Boni gemacht und Verluste sozialisieren lassen. Wem an einer sozialen Marktwirtschaft gelegen ist, muss sich angesichts solch massiven Systemversagens fragen, ob der Geldmarkt nicht neue Regeln, neue Aufseher und eventuell auch neue Akteure braucht.
Ähnlichen privatwirtschaftlichen Exzessen von Gier, Egoismus und Anstandslosigkeit, wie sie sich in ungeregelten Märkten nun einmal ausbreiten wie Kolibakterien in einem geschwächten Darm, sahen sich auch die frühen Sozialdemokraten im 19. Jahrhundert gegenüber. Forderungen nach der Vergesellschaftung von Industrien, die Sehnsucht nach einem Staat, der mit starker, ordnender Hand in einen Markt eingreift, in dem sonst nur ein Gesetz gälte, nämlich das des Stärkeren, fanden ihren Weg in die ersten Programme der Sozialdemokratie nicht, weil Sozialdemokraten von einer durchbürokratisierten Welt träumten, sondern ganz im Gegenteil, weil es ihnen um Freiheit ging. Um Freiheit von Ausbeutung, Willkür, Tyrannei, wie sie in frühkapitalistischen Betrieben weniger die Ausnahme als die Regel waren.
„Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit“ stand auf den Fahnen der ersten Sozialdemokraten. Im Gothaer Programm wurde daraus „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“. In dieser Reihenfolge. Käme heute jemand auf die Idee, ein SPD-Parteiprogramm ähnlich knapp und allgemein verständlich zu formulieren wie das ehedem üblich war, oder es gar auf drei zentrale Begriffe zu kondensieren, wären es immer noch dieselben: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.
Es ist kein Zufall, dass diese drei Begriffe an den Kampfruf der Französischen Revolution nach „Liberté, Egalité, Fraternité“ erinnern. Die Französische Revolution ist in die Geschichtsbücher eingegangen als bürgerliche Revolution. Das müsste heutigen Kathederliberalen zu denken geben. Die For-derung nach Egalité ist ein bürgerlicher Kampfruf gewesen? Natürlich, denn denen, die das Ancien Régime beseitigen wollten, ging es um die Durchsetzung der Idee der allgemeinen und unveräußerlichen Menschenrechte. Sie waren Schüler und Handlanger der Aufklärung. Ihnen waren auch der König Bürger: Bürger Capet.
Aufgeklärte Christen würden an dieser Stelle in einer Fußnote darauf hinweisen, dass vor dem Einen Gott alle Menschen gleich sind. Die Aufklärung sei also der Versuch, christlich zu denken und zu handeln, ohne dafür Gott in Anspruch zu nehmen. Die bürgerlichen Revolutionäre hatten Probleme, sich diese Sichtweise zu eigen zu machen. Sie sahen, dass die Idee von der Allgemeinheit und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte nicht zu vereinbaren war mit einem Gesellschaftssystem, das Menschen nach Geburt, Kleidung, Stand sortierte. Da die Kirche zu den zentralen Stützen dieses Systems zählte, hatte sie genauso zu weichen wie Monarchen, Adel und Standesorganisationen.
Damals waren Liberale Revolutionäre. Oder anders herum: Die Anti-Monarchisten und Anti-Klerikalen hätten kein Problem damit gehabt, wenn man sie als Liberale bezeichnet hätte. In der FDP freilich fänden sie sich zu unrecht.
Die bürgerlichen liberalen Revolutionäre des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wussten, dass Freiheit nur im Gleichklang mit Gerechtigkeit – mit organisierter und staatlich durchgesetzter Gleichheit – zu bekommen war. Die Feinde der Freiheit sind selten die Ohnmächtigen, die Feinde der Freiheit sind immer die Allzumächtigen. Sie neigen dazu, sich Freiheiten auf Kosten anderer, Schwächerer zu nehmen. Man kann ihnen das nicht einmal persönlich übel nehmen: Erstens ist auch ein solches Verhalten menschlich und „naturgemäß“, zweitens würden sie unter Ihresgleichen verlacht, würden sie sich anders verhalten.
Zur Zeit der Französischen Revolution waren die Mächtigen und Allzumächtigen Feudalherren und Kirchenfürsten. Erst im Keim erkennbar war, dass eine neue Gruppe gesellschaftlich Übermächtiger im Begriff war heranzuwachsen: Industrielle, Unternehmer und ihre bezahlten Handlanger. Menschen, die über große Mengen Kapitals geboten und so zugleich über die Schicksale anderer Menschen.
Für den Ausgebeuteten, Geknechteten, Rechtlosen macht es keinen Unterschied, ob der, der ihn knechtet, einen Talar, eine Krone trägt oder einen schlichten Überrock (aus feinem Garn). Das ist den liberalen Revolutionären bald deutlich geworden. Die frühen Sozialdemokraten verstanden sich denn auch in aller Regel als Liberale. Nicht wenige traten liberalen Parteien bei. Das lag nahe. Wenn jeder ein Bürger und jeder Bürger vor dem Gesetz gleich ist, gilt das doch auch für Arbeiter, für Mägde und Knechte, für Sklaven. Die frühen Sozialdemokraten dachten gar nicht daran, eine Partei zu gründen. Sie verstanden sich als Angehörige einer Emanzipationsbewegung. Sie wollten Proletarier zu Bürgern machen. Zu „citoyens“ im Sinne der Aufklärung und der Französischen Revolution. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts und der fortschreitenden Industrialisierung bekam das Wort Bürger einen neuen, einen schlechteren Klang. Die Franzosen hatten es leichter. Sie unterscheiden zwischen citoyen und bourgeois. Im Deutschen muss der Begriff Bürger für beides herhalten. Vielleicht liegt hier die Ursache für Jorgo Chatzimarkakis’ Konfusion.
Der politische Liberalismus, um es kurz zu machen, verriet angesichts reich gefüllter Brotkörbe seine Ideale. Er tat das ziemlich bald und gründlich. Nur gelegentlich, nach schlechten Träumen oder wenn liberale Bußprediger wie Ralf Dahrendorf oder Werner Mayhofer die Parteitagsbühne betreten, erinnert er sich dunkel und beschwört die Erinnerung an eine Zeit, in der der Liberalismus „ganzheitlich“ gewesen ist, „weder marktvergessen noch marktversessen“ (Claus Dierksmeier).
Dafür kann es auf Parteitagen, vor allem in Krisenzeiten, also wenn Wähler weglaufen und die Führung kopflos ist, rauschenden Applaus geben. Ernst gemeint ist das natürlich nicht. Das kann man schon daran erkennen, wie die FPD mit ihren Freiburger Thesen, mit Werner Mayhofer und anderen umgegangen ist. Und wie sie mit Jorgo Chatzimarkakis umgehen wird, wenn er ernst meint, was er in der Berliner Republik geschrieben hat. Eine FDP, die nicht weiß, ob sie rötlich ergrünen oder besser bräunlich werden soll. Weil sie keine Wertefundamente mehr hat, seit langem nicht, keine ethischen Leitplanken, die ihr in windigen Zeiten Halt geben könnten.
Die FDP ist eben nicht die Lordsiegelbewahrerin der bürgerlichen Revolution, sie ist vielmehr die direkte Nachfahrin jenes deutschen politischen Liberalismus, der sich im 19. Jahrhundert mit dem preußischen Adel im Interesse der Schaffung einer neuen Gesellschaft zusammentat, in der Besitzbürger an der Tafel des Königs Platz nehmen durften. Kaiser Wilhelm hat sich in der Kruppschen Villa Hügel immer wohl gefühlt. Der neue, „bürgerliche“ – bourgeoise – Adel ahmte den alten nicht nur in Lebensführung und Baugewohnheiten nach, sondern auch in dessen Verachtung für die da unten.
In diesem historischen Moment verwandelte sich der politische Liberalismus von einer Agentur zur Durchsetzung der universalen Geltung der Menschenrechte – universal heißt: sie gelten auch innerhalb von Fabrikmauern – zu einer Klientelpartei. Als die Anwälte der Emanzipation des Proletariats das erkannten, begannen sie, sich von den liberalen Parteien abzuwenden und eigene zu gründen. Daraus entstand die Sozialdemokratie. Seither ist sie die einzige Partei, die ihrem Wesen und Selbstverständnis nach keine Klientelpartei ist, sein kann und darf. Auf der Titelseite der Null-Nummer des ersten Vorwärts, erschienen 1876, heißt es: „...unser Kampf (gilt) nicht den Sonderinteressen einzelner Personen oder einzelner Klassen, sondern der Erlösung der Menschheit...“
Nicht die Anwälte der Emanzipation, auch des Proletariats wandten sich von den Ideen des Liberalismus ab – denen blieben sie treu, wie ihr Kampfruf „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“ weithin und lautstark deutlich machte –, ihre Ideen verraten hatten die, die sich weiterhin „Liberale“ nannten. Sie vertraten fortan die Interessen ihrer Klientel, des Besitzbürgertums, zunächst gegen den immer noch tonangebenden Adel, heute gegenüber einem demokratischen Staat, der den Anspruch erhebt, neutraler Sachwalter der Interessen Aller zu sein. Privilegien, das erkennt jeder Privilegierte rasch, sind umso wertvoller, je geringer die Zahl der Mitprivilegierten ist. Wer Privilegien wahren will, zum Beispiel das Privileg, seine Kinder auf eine bessere Schule zu schicken als Einwandererfamilien und Hartz IV-Empfänger, tut sich schwer damit, Anhänger einer emanzipatorischen Bewegung zu sein. Das quält diejenigen in der FDP, die gerne besser wären, als ihre Partei es ihnen zu sein erlaubt.
Ja, wenn die FDP wäre, wie Jorgo Chatzimarkakis sie sich erträumt, wenn es ihr wirklich darum ginge, im Sinne Dahrendorfs „den Menschen Türen zu öffnen“, allen Menschen wohlgemerkt, ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Armut, ihrer Beziehungen und der PS-Zahl ihres Autos, dann könnte sie ein ernsthafter Partner sein, wenn es darum geht, das erneute Auseinanderfallen der Gesellschaft in Superreiche und deshalb Privilegierte auf der einen Seite, zum gesellschaftlichen Ab- oder Nichtaufstieg Verurteilte auf der anderen Seite zu verhindern. Dann könnte sie, wenn es wieder in Mode käme, Fahnen zu schwenken, „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“ darauf schreiben. Oder gar „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Aber dann wäre sie ja eine sozialdemokratische Partei. «