Immer noch Benzin im Blut?
„Wir sind vom Tuning-Virus infiziert. Durchgeknallt und ölverschmiert. Sind von Autos fasziniert. Wir haben Benzin im Blut!“ Der Musikproduzent Lars Böge alias DJ Gollum hätte die Gefühlslage eines großen Teils der „Autofahrernation“ Deutschland kaum treffender formulieren können. „Benzin im Blut“ steht für Generationen von Ingenieuren und vielen anderen Fachkräften, die durch ihre tägliche Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur weltweiten Innovationsführerschaft und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie leisten.
Seit knapp zehn Jahren nun wird in Deutschland die Notwendigkeit neuer Verkehrs- und Mobilitätskonzepte diskutiert, um vor allem die Klimaziele zu erreichen, auf die sich die Politik international geeinigt hat. Zu diesem Zweck müssten die klimaschädlichen Kohlenstoffdioxid-Emissionen bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent reduziert werden. Während die Kohlenstoffdioxid-Emissionen der europäischen Industrie zwischen 1990 und 2015 um 32 Prozent verringert werden konnten, ist der Ausstoß des Verkehrssektors im selben Zeitraum um 28 Prozent gestiegen. Neben der Landwirtschaft trägt der Verkehrssektor bislang am wenigsten zur Minderung klima- und umweltgefährdender Stoffe wie Kohlenstoffdioxid und Stickstoffoxiden bei. Besonders der Straßenverkehr böte hier erhebliches Potenzial.
Unklar ist bislang, wie der Transformationsprozess in eine postfossile Mobilität bewältigt werden kann. Besonders etablierte Automobilregionen wie Japan, „Detroit“ und Deutschland haben die Verkehrswende bislang nur zögerlich in Angriff genommen. Die Automobilproduktion hat diesen Regionen einen großen Wohlstand beschert. Und das klassische Automobil ist für viele weit mehr als ein „Transportmittel“, das Mobilität ermöglicht. Warum also sollten wir unseren Technikvorsprung, das damit verbundene Wertschöpfungspotenzial, unsere Arbeitsplätze und letztlich ein Lebensgefühl aufs Spiel setzen? Hat das technologische Know-how, die Spitzentechnologie eines Otto- oder Dieselmotors denn wirklich keine Zukunft mehr?
Wenn ein Newcomer wie Tesla an einem Wochenende fast 300 000 Fahrzeuge absetzt; und wenn in China die monatlichen Verkaufszahlen von Elektrofahrzeugen mittlerweile regelmäßig im zweistelligen Tausenderbereich liegen; und milliardenschwere IT- und Telekommunikationsunternehmen aus Ländern wie Taiwan, Korea, China und den Vereinigten Staaten den Einstieg in den Automobilbereich ankündigen – dann müssen wir uns diesen Fragen dringend stellen. Denn offenbar sehen sich die etablierten Automobilstandorte und Zulieferindustrien radikalen Marktkräften ausgesetzt, auf die sie aus unternehmerischer und gesellschaftlicher Verantwortung heraus reagieren müssen. Gleiches gilt für die Politik, die diesen weltweiten Strukturwandel industriepolitisch flankieren muss.
Nur in Deutschland hält man Diesel noch für sauber
Die entscheidenden Vorteile dieser neuen Unternehmen in der Mobilitätswirtschaft bestehen in folgender Erkenntnis: Sie müssen nicht den nötigen Transformationsprozess in die postfossile Mobilität durchleben, haben kaum Fixkosten und können sich durch einfachen Zukauf sämtliche Komponenten für das elektrische und selbstfahrende Auto sichern und sich daher radikal auf neue Geschäftsfelder ausrichten. Und sie wissen, dass das Auto nur zukunftsfähig bleiben wird, wenn die Schadstoffemissionen drastisch verringert werden.
Deutschland hingegen hat Anfang April 2016 dafür gesorgt, dass diese Vorteile jenen Unternehmen auch auf absehbare Zeit erhalten bleiben. Trotz Abgasaffäre bei Volkswagen und manipulierten Abgasmessungen (von denen inzwischen eine breite Öffentlichkeit weiß, dass sie schon lange nicht mehr der Realität entsprechen) sind die politisch Verantwortlichen nicht zum Umdenken bereit. Ein Abbau der Steuerprivilegien für Dieselmotoren und die Einführung einer Elektroauto-Quote für Autohersteller wären sinnvolle Maßnahmen gewesen, einen eigenen Weg der postfossilen Transformation zu bestreiten. Stattdessen wird nach wie vor behauptet, dass Dieselmotoren eine saubere Technologie seien.
Dass die Sonderverkehrsministerkonferenz diese Vorschläge abgelehnt hat, macht ein weiteres Mal deutlich, weshalb Deutschland sein vor sechs Jahren postuliertes Ziel verfehlen wird, bis zum Jahr 2020 eine Million Elektroautos auf die Straßen zu bringen, um die Luftqualität zu verbessern. Im Jahr 2014 waren hierzulande nur rund 26 000 reine Elektroautos und Plugin-Hybride unterwegs – also Fahrzeuge mit Elektroantrieb und konventionellem Motor, deren Batterie auch über das Stromnetz aufgeladen werden kann. Nach den Plänen der Bundesregierung hätten es bereits 100 000 sein sollen. Dass sich daran so schnell nichts ändern wird, zeigt das aktuelle Verhältnis der Neuzulassungen zum Gesamtmarkt. Hier liegt Deutschland mit 0,6 Prozent im letzten Quartal 2015 weit abgeschlagen hinter Norwegen (33,1 Prozent) und den Niederlanden (5,7 Prozent).
Das Umdenken muss in den Vorständen beginnen
Die Ankündigungen der deutschen Automobilindustrie, demnächst Elektrofahrzeuge mit größeren Reichweiten im mittleren Preissegment anbieten zu wollen, klingen vielversprechend, aber ein „me too“ ohne eigene Inspiration wird auf lange Sicht nicht mehr genügen. Elektromobilität muss in den Unternehmen gelebt und zur Gesamtphilosophie gemacht werden. Angesichts der alarmierend geringen Zulassungszahlen von Elektrofahrzeugen in Deutschland, unzähliger gutgemeinter nationaler Gipfel- und Plattformtreffen und halbherzigen politischen Maßnahmen zur Förderung der Elektromobilität, brauchen wir deutlich mehr Mut für radikale Denkansätze und Investitionen auf allen Ebenen.
Mut zum Umdenken beginnt auf den Vorstandsebenen in der Mobilitätswirtschaft, denn hier werden die kreativen Freiräume für neue Produkte geschaffen. Daneben ist die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen für einen wachsenden Marktanteil von Elektrofahrzeugen zu setzen. Die Produktpalette der auch mittelständisch geprägten Zulieferindustrie erlaubt, dass die Fahrzeuge auch im Bereich der radikaleren digitalen Innovationen als „rollende Tablets“ weiterhin ganz vorne mitspielen.
Dabei ist heute noch völlig offen, welche Relevanz die Komponente „Auto“ an dem Produkt „Fahrzeug“ langfristig haben wird. Die Fahrleistung wird immer weniger als Unterscheidungsmerkmal taugen; die Beschleunigungswerte der Fahrzeugklassen werden sich angleichen. Der technische Fortschritt bleibt der wesentliche Treiber des Strukturwandels in der Mobilität. Durch die Weiterentwicklung der Batterietechnologie, die mehr Leistung, mehr Ladezyklen und höhere Reichweiten ermöglicht, können die Kosten für die Batteriesysteme deutlich gesenkt werden, so dass Elektroautos in Zukunft deutlich erschwinglicher sein werden. Deutschland sollte daher bereits jetzt mit aller Kraft in die Erforschung und Entwicklung der nächsten Batteriegeneration (einschließlich Zellfertigung) und anderer neuer Umwelttechnologien investieren. Dies würde helfen, hierzulande in Bereichen erneut Wertschöpfung zu generieren, in denen Hersteller aus dem asiatischen Raum gegenwärtig einen kaum einholbaren Vorsprung besitzen.
Sofern sie ökologisch und verkehrspolitisch sinnvoll sind, werden sicherlich auch attraktive Anreiz- und Finanzierungsprogramme dazu beitragen, die Attraktivität und Akzeptanz von Elektromobilität zu erhöhen. Eine finanzielle Unterstützung elektrischer Antriebe bei Cargo-Bikes, Elektro-Bussen im öffentlichen Nahverkehr, Carsharing und Taxis sowie der gezielte Ausbau einer bedarfsgerechten Ladeinfrastruktur würden einer sinnvollen Mobilitätsveränderung jedoch mehr dienen. Alle Maßnahmen werden aber nur Stückwerk bleiben, wenn die Bereitschaft fehlt, Elektromobilität europaweit zu fördern und sie als Instrument der europäischen Industrie- und Energiepolitik zu begreifen.
Zwar sollte Chinas Förderpolitik, die offen ausländische Automobilbauer benachteiligt, kein Vorbild für Europa sein. Dennoch: Zumindest hat China es verstanden, den technischen Fortschritt im Bereich Elektromobilität mit eindeutigen politischen Maßnahmen zu flankieren. Das Ergebnis dieser Politik ist viel radikaler als dies im Westen oft wahrgenommen wird. Unsere Blicke richten sich meist nur auf das Silicon Valley und den High-Tech-Unternehmer Elon Musk. Dabei übersehen wir nolens volens die zahlreichen chinesischen „Build Your Dream-Cars“ (BYD Auto), von denen wir oft nicht einmal die Namen kennen. Diese setzen die deutschen Automobilhersteller in margenstarken, globalen Absatzmärkten zunehmend unter Druck.
Der Strom muss aus erneuerbaren Quellen sein
Und noch ein Wort zur Klimabilanz: Elektromobilität wird nur dann einen Beitrag zum Klima- und Umweltschutz leisten, wenn bei der Produktion und dem Betrieb der Fahrzeuge regenerativ erzeugter Strom zum Einsatz kommt – also Strom aus Wind, Sonne, Wasser und Biomasse. Die Kohlenstoffdioxid-Emissionen des deutschen Stromnetzes liegen heute bei rund 600 Gramm pro Kilowattstunde. Unter Berücksichtigung seines Produktlebenszyklus stößt ein Elektrofahrzeug heute nicht wesentlich weniger Kohlenstoffdioxid aus als moderne konventionelle Fahrzeuge. Nur wenn ausreichend Strom aus erneuerbaren Energien zur Verfügung steht, wird der Elektroantrieb zu einer effizienten und klimaschonenden Alternative zum Verbrennungsmotor.
Und schließlich ist auch die Gesellschaft in der Verantwortung, ihren Beitrag zur Transformation in eine postfossile Mobilität zu leisten und eine Stärkung der Verkehrsmittel des Umweltverbundes (ÖPNV, Bike-Sharing und so weiter) einzufordern. Die Elektromobilität schafft dabei vielfältige Möglichkeiten, auf geänderte oder noch zu ändernde Mobilitätsbedürfnisse in einer multimodalen Verkehrswelt einzugehen. So zeigt sich zumindest Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt bereits davon überzeugt, dass in europäischen Städten mehr als die Hälfte des Güterverkehrs auf Cargo Bikes verlagert werden kann – elektrisch betriebene Lastenfahrräder, die bis zu 200 Kilogramm transportieren können. Staus würden reduziert, die Luftqualität verbessert und unsere Städte erheblich attraktiver. Deutschland hat vergangenes Jahr die „Luxemburger Erklärung über das Fahrrad als klima- und umweltfreundliches Verkehrsmittel“ unterzeichnet. Dieser Erklärung des EU-Verkehrsministerrats müssen nun allerdings auch Taten folgen.
Nur was wir selbst nutzen, werden andere kaufen
Dieser Transformationsprozess in eine postfossile Mobilität ist letztlich mit der Frage verbunden, welche Ressourcen unseres Planeten wir zukünftigen Generationen übergeben wollen und können, damit auch sie noch über Spielräume verfügen, Innovationen zu gestalten und ihren Wohlstand zu erhalten. Die Frage, ob knappe Ressourcen wie Öl oder Erdgas noch in zwanzig oder vierzig Jahren genügend vorhanden sind, ist dabei völlig irrelevant. Denn im Kern geht es darum: Haben ein oder zwei Generationen das Recht, die gesamten fossilen Energieressourcen unserer Erde aufzubrauchen? Vor uns haben zahllose Generationen diese Ressourcen nicht angetastet; die zahlreichen Generationen, die uns folgen werden, werden sie definitiv nicht mehr vorfinden. Gleiches gilt für viele weitere Rohstoffe, aus denen wir schöpfen, deren Vorrat aber ebenfalls begrenzt ist. Die Konsequenz muss daher ein verantwortungsbewusster Umgang mit unseren Ressourcen sein – auch, um künftige globale Verteilungskämpfe zu verhindern.
Elektromobilität, neue Mobilitätsgewohnheiten und die Energiewende sind radikale globale Umbrüche. Viel stärker als heute wird unser Wohlstand in Zukunft davon abhängen, ob Produkte und Dienstleistungen in der Mobilitätswirtschaft geschaffen werden, die auch weltweit nachgefragt werden. Glaubwürdig werden unsere Elektromobilitätsprodukte aber nur dann sein, wenn wir sie in Deutschland auch selbst nutzen und leben. Unternehmen und Verbraucher sollten den strukturellen Wandel hin zu einer postfossilen Mobilität daher als große Chance akzeptieren und diesen aktiv gestalten. Am Ende steht für uns alle eine höhere Lebensqualität und eine deutlich zukunftsfähigere Industrie, die quantitatives Wachstum in vielen Bereichen durch qualitatives Wachstum ersetzt. Auch wenn Benzin kaum noch eine Rolle für unsere Mobilität spielen wird, werden DJ Gollums Techno-Rhythmen sicherlich auch in Zukunft Gefallen finden. Denn eines bleibt sicher: die Faszination an leistungsstarken, attraktiven und individuell gestalteten Fahrzeugen.
Der Beitrag basiert auf Überlegungen und Diskussionen des Nachwuchskreises „Progressive Verkehrspolitik“, der am Think Tank Das Progressive Zentrum angesiedelt ist. Die Forderungen des Nachwuchskreises sind in dem Diskussionspapier „Mobilität neu denken – Impulse für eine neue Verkehrspolitik“ nachzulesen.