In der Symbolwelt des alten Westens
Es war das erste Mal. Wie das manchmal so ist. Kaum hat das Blatt einen neuen Chefredakteur, muss man sich zur Vorbereitung der Nachtleben-Recherche einen soziologischen Text reinziehen. Der Essay "Die Politik der Lebensstile - Beobachtungen in einem Berliner Bezirk" der Soziologen Sighard Neckel und Helmuth Berking* soll unser Gelage vorbereiten. Der verantwortliche Herausgeber und der halbe Redaktionsbeirat wollen bei dieser Inspektion anwesend sein. Obendrein muss das Untersuchungsgebiet im Westen liegen. Eingeklemmt zwischen dem bürgerlichen Charlottenburg, wo sich die Intellektuellen langweilen, und den Kiezen Kreuzbergs treffen wir uns im Norden von Schöneberg. Am Winterfeldtplatz.
"Mal sehen, was im Dschungel läuft"
Ganz klar, heute geht es nicht um die Ent-deckung von Geheimtipps, es geht um die teilnehmende Beobachtung einer linksalternativen Szene, die ihr kulturelles Zentrum um den Winterfeldtplatz und seine Kneipen hat(te). Was hat sich getan in den Lokalen von damals, zwischen 1989 und heute? Wie verhält sich das Gemisch aus Studenten und Drogenszene am Nollendorfplatz, aus ausländischen Familien, homosexueller Subkultur, Arbeitern und kleinen Angestellten? Einige Institutionen haben dichtgemacht oder wir finden sie nicht mehr - die Ruine, die Punkkneipe Berlins, das legendäre Dschungel ("Mal sehen, was im Dschungel läuft...", sang Ideal), der Künstler- und Bohème-Treff schlechthin.
Nähern wir uns also den Symbolwelten der Lebensstile, indem wir das ehemalige Café Mitropa betreten, das heute Café M heißt. Rotes Neonlicht am Eingang. Zwischen plastikumwobenen Gartenstühlen, die in Reihe dem Raum zugewandt sind, suchen wir an einem der roten Tische unseren Platz. Vielleicht als Tribut an neo-existenzialistische Post-Punk-Zeiten schimmern die Kerzen grablichtrot. Die Bedienung, attraktiv gebräunt im schlampig-schicken Tiger-Top, weist uns auf den "Self service" hin. Zum Warming-up, sind zwei kühle Flens (zu 4 Mark) schnell geschluckt. Cocktails wären erhältlich, doch dazu ist es zu früh. Das Mitropa, das als eine der ersten Neonkneipen der Stadt den New Wave etablieren half, hat überlebt - und mit ihm seine Gäste. Viel Publikum achtet auch heute noch darauf, einen Stil - egal welchen, Hauptsache entschlossen - zur Schau zu tragen. Gut, dass keine Wanddekoration davon ablenkt. Punks haben wir keine gesehen; bloß die Frisur der Bardame erinnerte ein wenig daran. Die Reste welcher Bewegung sind hier eigentlich zu besichtigen? Das fragen wir uns und schlendern zurück über den Winterfeldtplatz.
Auf dem Kunstrasen sitzen Jungeltern
Samstags laufe hier der Kiezmarkt in die umliegenden Cafés und Kneipen über, erzählt man uns. Flippige Jungeltern unserer alternden Generation sitzen dann auf dem Kunstrasen vor dem M und schlürfen Bier und Capuccino, die Kids bekommen ein Brötchen zwischen die Backen. Und im Slumberland werden die mit Lauch und Fetakäse gefüllten Tüten über den letzten Drink vergessen - am Sonntag nachmittag hängen sie zur Abholung bereit.
Wir kehren nordöstlich in das Café Sydney ein. Schon von außen der Eindruck, dass sich dieses Eckcafé mit ein wenig mehr Schick auch am Potsdamer Platz halten könnte. Wir suchen den etablierten Kontrast zur Subkultur. Helles Halogenlicht, rote Samtvorhänge, uniformierte Kellner, die helfen, einen geeignet großen Tisch zusammenzurücken, bieten auch heute noch den "Yuppies" ihr Umfeld. Auf der zweiten Ebene wird - mit zusätzlicher Cocktailbar - Fußball geschaut. Es geht zu wie in jeder anderen Berliner Eckkneipe - nur Getränke und Kleidung sind teurer. Und man kann internationale Gerichte (zwischen 8 und 28 Mark) bestellen. Der Mai Tai (14 Mark) ist zu süß, doch er passt in das glanzvolle Ambiente des Wohlstands. Kein Wunder, dass die linke Szene vor 15 Jahren die Besucher des Sydney belagerte und dessen Besucher beschimpfte.
"In jedem Kaffeelöffel spiegelt sich die ganze Sonne" - so lautet ein italienisches Sprichwort. So auch nun. Wir überqueren die Maaßenstraße und erreichen Bella ltalia. Das enge italienische Imbiss-Lokal erlangte nicht den Ruhm sozialwissenschaftlicher Erwähnung, doch passt es wunderbar in den Kiez. Man bestellt beim Eintreten, schenkt sich selbst aus Zwei-Liter-Flaschen trockenen italienischen Landwein ein (2 Mark) und zwängt sich an sprudelnden Spaghettitöpfen vorbei in den kleinen Hinterraum mit fünf Tischen. Schief hängende, verstaubte Weinregale, skurrile Siebziger- Jahre-Kachelbilder, eine jahrzehntelang abgenudelte Cassette und nachträglich eingebaute Be-lüftungsrohre belegen, dass diese Bude hier am Platz gewachsen ist. Zum Konzept gehört, dass Toilettenpapier und Seife mit der Wandfarbe gewechselt werden. Nicht nur männliche Singles fühlen sich hier heimisch, echte Mensapreise lassen das Essen doppelt schmecken (Mi-nipizza 1,50 Mark). Die Spaghetti Arrabiati (7 Mark) seien unerreicht, sagt der Chefredakteur.
Anfang der neunziger Jahre nahmen mich meine Schulkameraden ins Slumberland mit. Seitdem hat sich hier nichts geändert: Auf sandigem Boden und inmitten von Plastikpalmen erwartet man den Stranddealer mit Rasta-Locken unter grün-gelb-rotem Käppi. Stattdessen trinken wir leckeren Caipirinha (10 Mark) und Bier (4,50 Mark für den halben Liter). Mit dem Slumberland ist dessen Publikum älter geworden: etwas international, etwas links-intellektuell und inzwischen zum zaghaften Grenzverkehr mit dem Sydney bereit.
Den obligatorischen Absacker nehmen wir im Screwy-Club ein. Selbst schon schummrig, trinken wir im trashigen Umfeld die letzten gemeinsamen Biere (den Halben zu 5 Mark). Es ist wochentags, zwei Uhr nachts, der Rest unseres Redaktionsbeirates trinkt längst O-Saft, die Gäste verlassen das Lokal. Schön, dass der Rückweg in den Prenzlauer Berg am Tarot vorbeiführt. Wo der Mai Tai schmeckt, ist die wahre Heimat.
* Helmth Berking und Sighard Neckel: Die Politik der Lebensstile. Beobachtungen in einem Berliner Bezirk. In: Sighard Neckel, Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaft, Campus Verlag: Frankfurt/ New York 2000.
BELLA ITALIA Italienisches Imbiss-Lokal Maaßenstraße 12Café M (ehemals Café Mitropa) Café und Bar, Goltzstraße 33, Tel. 030 / 215 42 30
CAFÉ SYDNEY Bar und Speiselokal Winterfeldtstraße 40, Tel. 030 / 216 52 53
KIEZMARKT immer mittwochs und samstags auf dem Winterfeldtplatz
SCREWY-CLUB Bar Frankenstraße 2, Tel. 030/ 215 44 41
SLUMBERLAND Bar Goltzstraße 24, 1000 Berlin 30 (sic!)
TAROT Cocktailbar Sredzkistraße 62, Prenzlauer Berg, Tel. 030 / 442 97 46