In Großmutters Küche ist es leer geworden.
Polen ist meine zweite Heimat. Seit 24 Jahren reise ich jedes Jahr in unser Nachbarland. Meine Mutter ist Polin, und ich bin mit den pommerschen Seen und der Ostseeküste aufgewachsen. Die Wälder und Städte der Westküste kenne ich seit meiner frühesten Kindheit. Jeden Sommer habe ich dort verbracht. Ich habe gesehen, wie sich Polen verändert hat und gestaunt, wenn ich nach einem Jahr Abwesenheit auf das Neue dort stieß. Und Neues gibt es in Polen noch immer sehr viel.
Heute begleite ich deutsche Jugendgruppen nach Polen. Jedesmal kann ich mir ein Lachen nicht verkneifen, wenn sich die Teilnehmer nach dem ersten Spaziergang durch Krakau oder Danzig wundern, wie westlich es in den großen polnischen Städten mit ihren Einkaufspassagen und Supermärkten, Fast-Food-Restaurants, Cafés und Restaurants zugeht. So hätten sie Polen nicht erwartet, sagen sie dann. Und tatsächlich, viel hat sich getan in den vergangenen Jahren. Die Frage ist nur, ob die äußerliche Angleichung an westliche Standards mit der Assimilation an einen westlichen Lebensstil einher geht. Wie eng ist die polnische Gesellschaft heute tatsächlich verwandt mit unserer deutschen Alltagswelt? Ist nichts mehr von dem übrig, was Polen einmal war?
Als kleiner Mensch wurde ich jedes Jahr von Übelkeit geplagt, wenn es im Auto meiner Eltern auf der Reise zu den Verwandten in Polen ging. Nicht dass ich nicht mitfahren wollte - im Gegenteil: Ich freute mich darauf, die Ferien bei unserer Familie zu verbringen. Die Verwirrung der Sinne löste vielmehr der Geruch des Kaffees im Auto aus, den wir den Großeltern mitbrachten. Denn guten Kaffee konnte man im Polen der achtziger Jahre nicht einfach so kaufen. Auch viele andere Dinge konnte man nicht im Supermarkt bekommen wie in Westdeutschland - es gab damals überhaupt keine Supermärkte in Polen. Was es gab, war die Delikatesy: einen Laden, in dem unfreundliche Frauen hinter einer Theke standen, bei denen man die in den Wandregalen stehenden Einmachgläser mit Gurken und Wurst, Butter, Frischkäse, Sprotten in Öl oder Landrinki (immer zu einem großen Klumpen zusammengepappte bunte Fruchtbonbons) kaufen konnte. Außerdem gab es kleine Kioske, auf denen Ruch stand. Hier erwarb man Zigaretten für den Großvater, Zeitungen, Spülmittel und seltsames Plastikspielzeug. Aus diesen Kiosken roch es immer nach einem Gemisch aus Tabak, seifigem Zitronenduft und Zeitungspapier.
Der Gynäkologe brachte Honig und Fisch
Natürlich gab es in Polen Bäckereien. Zu ihnen brach meine Großmutter im Morgengrauen auf, um sicher zu gehen, so viel Brot zu bekommen, wie sie für uns brauchte. In ihrem gestreiften Plastiknetz brachte sie auch frische Milch in Glasflaschen mit, die ungekühlt schon am Nachmittag geronnen war. Damals kam oft eine Bäuerin zu uns nach Hause, die Eier und Sahne brachte. Auf ihrem Hof sammelten wir Johannisbeeren, bei ihr fuhren wir im Herbst in die Pilze. Am aufregendsten aber war der große Markt, wo man neben Lebensmitteln fast alles bekommen konnte - Schrauben, Kleidung aus Asien, Radios, Autoteile, Babuschkas und russische Uhren, junge Hunde und Blumen aus den Gärten der Bäuerinnen.
Ein Freund meiner Großeltern, ein Gynäkologe, brachte uns manchmal Honig, geräucherten Aal oder anderen Fisch. Im Hinterhof lag eine Metzgerei, deren Besitzer mit den Großeltern befreundet waren. Ab und zu kamen sie uns besuchen und brachten zum Wodka eine Wurst mit. Ein anderer Bekannter wusste, wann und wo es Zucker gab. Der wurde dann in einem riesengroßen Papiersack hinter dem Sofa im Wohnzimmer gelagert. Oft saß irgendjemand in der großen Küche, der irgendetwas von irgendwoher hatte, das man gebrauchen konnte - russischer Kaviar, Zucker, Räucheraal, Dachziegel, Samoware oder Halva.
Mein Großvater aber schmiedete in seiner kleinen Fabrik Spiegelrahmen aus Metall, Türklinken und Kerzenständer. Er stellte Plättchen her, wie sie die Schuster an die Schuhsohlen nageln, damit sie sich nicht so abnutzen. Außerdem hatte mein Großvater einen Zuk. Das war einer dieser grauen und stets verstaubten Kleinlastwagen, mit denen man allerlei transportieren konnte. Dass man einander mit knappen Gütern aushalf, war normal. Es war nicht einfach, sich mit dem damaligen Wirtschaftssystem zu arrangieren. Aber die Kontakte unter den Menschen waren intensiv - und jede Menge Tratsch und nützliche Informationen gab es immer kostenlos dazu.
Die jährliche Reise nach Polen bedeutete immer eine Fahrt in eine komplett andere Welt - nicht nur, weil die Supermärkte fehlten und die Beschaffung vieler Dinge abenteuerlich war. Auch dass in der Wohnung meiner Großeltern zusätzlich eine Tante mit ihrem Mann und ihren Kindern wohnte, war etwas, das ich aus Deutschland nicht kannte. Jeden Morgen während unseres Sommerbesuchs saßen am Frühstückstisch der Dreizimmerwohnung in Stolp elf Personen. Und an Feiertagen wie Ostern und Weihnachten, Geburtstagen oder zu den Taufen der neuen Kinder, wenn sich die ganze Familie traf, versammelten sich hier nicht selten mehr als 25 Menschen.
In den heißen Sommermonaten fuhren wir in einem Auto, das vollgestopft war mit fünf oder sechs Kindern und meinen Eltern durch die Alleen mit den uralten Bäumen an die Küste oder die Seen in der Umgebung. Im Herbst, wenn es Zeit wurde, in die Pilze zu fahren, durchstöberten wir mit unseren Eltern und Großeltern stundenlang die kühlen, stillen Wälder. In ihnen duftete es würzig nach Moos, und die Steinpilze standen schweigsam unter den Bäumen. Abends lagen wir Kinder zusammen in einem großen Bett und hörten den Märchen zu, die unsere Eltern abwechselnd erzählen mussten. Von der Babajaga handelten sie, vom Rotkäppchen und vom Drachen, der in Polen Smok heißt.
Wenn das polnische Sandmännchen mit dem Hund Reksio lief oder Lolek und Bolek, quetschten wir uns auf den Sofas in dem kleinen Wohnzimmer zusammen, während sich die Erwachsenen nebenan stundenlang unterhielten. Ständig gingen Bekannte ein und aus, und auch die Großeltern waren dauernd unterwegs. Alle Polen-Sommer meiner Kindheit fanden im Kreis einer großen, stabilen Gruppe von Menschen statt, die völlig selbstverständlich zum Haus der Großeltern gehörten. Nicht weniger selbstverständlich half man einander beim Häuserbau, bei der Beschaffung von Lebensmitteln und Schulbüchern, Buntstiften und Benzin.
20 Sorten Joghurt aus dem Supermarkt
In den vergangenen zehn Jahren ist es in der Küche meiner Großeltern leer geworden. Die Bäuerin kommt nicht mehr, und Zucker kann man längst in einem der vielen Supermärkte kaufen, die es jetzt in jeder größeren Stadt gibt. Viele Bekannte sind fortgezogen, in eigene Häuser oder moderne Apartments. Die Menschen ziehen sich mit steigendem Wohlstand zurück in ein individuelleres Leben. Auch die Tante, die mit ihrer Familie bei den Eltern lebte, wohnt inzwischen in einem eigenen Haus am Stadtrand und kommt nicht mehr jeden Tag zu Besuch. Überhaupt scheint in Polen heute alles so zu sein, wie es in Westdeutschland immer schon war. Jetzt stehen auch hier diese riesigen Einkaufshallen, wo es 20 Sorten Joghurt gibt, wo große, mit Fertigpizza und Gefriergemüse gefüllte Kühlregale den Raum durchtrennen, wo endlose Fleisch- und Käsetheken die Wände säumen, wo im Regal Salami aus Italien neben der Krakowska hängt und sich überhaupt die Lebensmittel aus aller Welt bis unter die Decke stapeln.
Ist nichts geblieben von der alten Wärme?
In Polen kann man heute alles kaufen - wenn man genug Geld hat. In den Städten drohen ungezählte Fastfood-Restaurants die billigen Hausmannskost-Kantinen Polens, die Bary Mleczne, zu verdrängen. Etabliert hat sich inzwischen auch die internationale Küche; neben Italienern und Mexikanern, Indern und Chinesen stehen tatsächlich die ersten Dönerbuden in den polnischen Städten. In Warschau, Danzig oder Krakau werden die Hauptstraßen von den Filialen der globalen Marken beherrscht. Fernsehprogramme gibt es jetzt auch in Polen en masse. Sogar Big Brother mit polnischen Containerinsassen kann man sehen. Die eigenen vier Wände muss man heute nicht mehr verlassen, wenn man Unterhaltung braucht.
Alles deutet darauf hin, dass sich Polen nicht nur äußerlich an den Westen angeglichen hat: Der intensive Kontakt der polnischen Menschen zueinander, den in den Zeiten des Sozialismus die Schwierigkeiten der Versorgung bewirkten, hat sich in Wohlgefallen aufgelöst. So scheint es zumindest. Aber stimmt das eigentlich so? Sind die Menschen in Polen tatsächlich nur durch die Notwendigkeit aneinander gebunden gewesen? Und ist denn gar nichts geblieben von der alten Verbundenheit?
Beim genaueren Hinsehen lässt sich die oberflächliche Analogie der polnischen und deutschen Strukturen in Frage stellen. Mindestens. Denn es ist einerseits zwar richtig, dass es viele Zweckgemeinschaften gab im Polen der achtziger Jahre. Hierzu mag auch die intensive Bindung an die Familie gehört haben. Aber gerade diese Institution ist andererseits noch immer ein dominierendes Strukturmerkmal der polnischen Gesellschaft.
Die Kontakte zu einer Vielzahl von Verwandten sind - im Vergleich zu Deutschland - noch immer eng. Viele Studenten leben auch heute zu Hause, wenn es irgendwie möglich ist - schon weil die Mieten in Polen hoch sind. Gar nicht selten kommt es immer noch vor, dass mehrere Generationen in einem Haushalt zusammenleben; die Großeltern kümmern sich um die Enkelkinder, wenn deren Eltern arbeiten gehen. Außerdem heiraten die Polen früher als die Deutschen, und die polnischen Scheidungsraten sind im europäischen Vergleich niedrig.
Jenseits der Familie war alles ungewiss
Anfang der neunziger Jahre konnte man in Polen einen extremen Familienzentrismus diagnostizieren. Als dessen wichtigste Ursache führten die Soziologen an, dass die Familie in Polen bereits sehr lange die Rolle des wesentlichen kulturtragenden Elements inne hatte. Die Sicherungsfunktion, die sie für ihre Mitglieder besaß, war in der Geschichte Polens von Bedeutung. Die besondere Rolle der Familie ist über viele Jahrzehnte hinweg herausgebildet worden: seit der Zeit der polnischen Teilungen, während der Besetzung durch Hitler und im Laufe der Jahre des so genannten realen Sozialismus. Die späten achtziger Jahre waren geprägt davon, dass die Familie ungefähr der einzige Ort war, an welchem man sich gleichsam selbst verwirklichen konnte. In anderen Sektoren der Gesellschaft waren die Chancen dafür angesichts der unsicheren politischen und ökonomischen Lage gering. Daraus resultiert die Dominanz, den der Wert der Familie bis heute besitzt.
Doch immerhin, die Dinge sind in Bewegung geraten. So weist die - mit einem Fünftel der Ehen geringe - polnische Scheidungsrate zwar eine steigende Tendenz auf. Trotzdem ist in Polen immer noch der Tod eines Ehepartners der häufigste Grund für das Ende von Ehen; acht von zehn Lebensgemeinschaften hören so auf. Auch das Heiratsalter der Polen hat sich in den letzten Jahren erhöht. Die Zahl der Kinder pro Frau ist gesunken, und die Verteilung der Geburten auf verschiedene Altersgruppen hat sich gewandelt: In den achtziger Jahren lag die Zahl der Frauen, die vor dem 20. Lebensjahr oder mit mehr als 35 Jahren ein Kind zur Welt brachten, unter 6 Prozent. Heute ist der Anteil der jünger als 20 Jahre Gebärenden auf 8 Prozent gestiegen, und sogar 10 Prozent der Geburten sind Frauen über 35 Jahren zuzuordnen. In allen Altersgruppen zeugungsfähiger Frauen ist die Zahl der Geburten (15 bis 49 Jahre) zurückgegangen. Dabei hat die Gruppe der 20- bis 24-jährigen Frauen, die bisher am fruchtbarsten war, den größten Rückgang zu verzeichnen. Vor allem in den Städten gibt es diese Tendenzen, wobei die Angleichung an westliche Verhältnisse bei der Geburtenregulierung anzunehmen ist.
Auch die extrem hohe Arbeitslosigkeit - im Frühjahr 2001 lag sie bei 15,8 Prozent, in manchen Regionen bei 32 Prozent - ist ein Grund dafür, dass die Menschen nicht ohne weiteres Ehen eingehen und Kinder zeugen. Bei einem Arbeitslosengeld von 375 Zloty und einer schlicht unzureichenden Versorgung mittelloser Familien durch den Staat ist das nicht besonders verwunderlich. Da momentan die geburtenstarken Jahrgänge den polnischen Arbeitsmarkt überfluten, ist für dieses Problem in absehbarer Zeit keine Lösung in Sicht. Ökonomen prognostizieren, dass die Arbeitslosigkeit in Polen auf 20 Prozent steigen könnte. In einer Gesellschaft, die mitten im Prozess der Transformation steckt, ist die Unsicherheit groß. Das wirkt sich hemmend auf die Familienplanung aus. Dass heute auch in Polen zunehmend Möglichkeiten bestehen, individuelle Wünsche außerhalb der Familie zu befriedigen, greift deren zentrale Position weiter an.
Noch immer spielt die Familie im Leben der Polen eine große Rolle; sie ist ein Wert an sich. Als Institution ist sie in Polen während so langer und für die Polen schwerer Jahre entstanden, dass sie nicht von heute auf morgen verschwinden wird. Dennoch deuten die aktuellen Entwicklungen im Lande darauf hin, dass es womöglich nicht mehr lange dauert, bis sich "westliche" Verhältnisse in Polen dauerhaft durchsetzen. Der wachsende Wohlstand von Teilen der Gesellschaft führt dazu, dass die Menschen voneinander Abstand nehmen. Dabei lösen sich auch die familiären Bindungen. Und die wirklich Armen haben keine Möglichkeit, eine Familie zu ernähren. Schon heute sieht man in den größeren Städten Polens immer wieder bettelnde Kinder, und auch alte Menschen fallen aus dem System heraus.
Das Polen meiner Kindheit gibt es heute nicht mehr. Einerseits ist das gut so, weil es für erwachsene Menschen nicht schön ist, auf Dauer mit sieben Personen in drei Zimmern zu leben. Objektiv gesehen muss es entsetzlich gewesen sein, wenn wir jeden Sommer mit Kind und Kegel bei den Großeltern einfielen. Aber darüber dachte man nicht nach. Es hat ja irgendwie funktioniert und alle waren froh, dass wir wieder einmal heil über die Grenzen gekommen waren.
Natürlich, es ist gut, dass meine Eltern heute nicht mehr in einem Auto voller Kaffee nach Polen fahren müssen. Doch damals lernten wir vieles, weil wir andauernd mit so vielen Menschen zu tun hatten: zu teilen und uns mit anderen zu arrangieren. Wir kannten einander von klein auf und waren Teil des Lebens anderer Menschen. Um diese Erfahrung ist es schade. Wenn ich meine fünfjährige polnische Großnichte sehe, werde ich deshalb ein wenig traurig: Ich muss dann daran denken, wie ich von Anfang an in einer Gruppe von vier Kindern gleichen Alters meinen Sommer in Polen verbrachte und wie so viele Menschen immer um uns herum waren, während wir aufwuchsen.
Familia umfasste bei den Römern alle Menschen, die zum Haus gehörten. Die Zahl derer, die zum Haus meiner Großeltern zählten, ist seit dem Umbruch von 1989 um etliche Menschen geschrumpft. Geblieben sind einige. Es wäre gut, wenn auch die folgenden Generationen in Polen die Institution Familie kennen lernen könnten. Zumindest in Restbeständen. Zumindest so, wie man sie in den größten Teilen der polnischen Gesellschaft heute noch finden kann.