Innovation ist Gerechtigkeit

In der aktuellen Diskussion unseres Landes werden die Forderungen nach Erneuerung und sozialer Sicherheit gegeneinander ausgespielt ­ eine völlig falsche Entgegensetzung. Innovation tut dringend Not, aber die richtige sollte es sein

Der bismarcksche Sozialversicherungsstaat hat in seiner Entwicklung dafür gesorgt, dass soziale Risiken abhängig Beschäftigter abgesichert sind. Dennoch oder gerade deshalb ist das ursprüngliche Ziel der Emanzipation - der gesellschaftlichen Teilhabe auf gleicher Augenhöhe - nicht konsequent genug verfolgt worden. Ungleiche Machtverhältnisse sind damit eher gefestigt als in Frage gestellt worden.

Heute werden Reformen unserer sozialen Sicherungssysteme zumeist vor dem Hintergrund von finanziellen Engpässen und Gerechtigkeitsdefiziten diskutiert. Auf einen solchen Begriff zurechtgestutzt dient Gerechtigkeit weiterhin dazu, bestehende (ungerechte) Verhältnisse zu bewahren. Die Konsequenzen sind bekannt: Die Fronten entlang unterschiedlicher Interessen verhärten sich, es wird hauptsächlich in den Kategorien des Interessenausgleichs gedacht, das Gemeinwohl rückt in den Hintergrund. Dagegen müssen wir uns ins Gedächtnis rufen, wie wir uns bisher erfolgreich Herausforderungen gestellt haben. Denn letztlich werden Gesellschaften, die aus sich heraus nicht mehr zur Erneuerung fähig sind - das haben wir aus der Geschichte gelernt - über kurz oder lang bestraft.

Die Sozialdemokratie hat die gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands entscheidend geprägt. Wir als Sozialdemokraten wollen die Grundlagen des Sozialstaats und der sozialen Marktwirtschaft erhalten. Nur so lassen sich die Veränderungen legitimieren, die wir politisch durchsetzen wollen. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass wir mit unseren Modernisierungsbestrebungen eine Politik verfolgen, die vor allem die ohnehin benachteiligten Gruppen unserer Gesellschaft schlechter stellt und abkoppelt. Sozial gerechte Politik verfolgt vor allem den Zweck, Menschen dazu zu befähigen, unabhängig von Transferleistungen leben zu können. Die Sozialdemokraten wissen, wie man Menschen motiviert und dazu befähigt, sich eine eigene Meinung zu bilden und gesellschaftlich aktiv zu werden.

Die entfremdeten Zwillinge

Mit der Verbindung der sozialdemokratischen Leitmotive "Innovation und Gerechtigkeit" konnte die SPD die Menschen 1998 von ihren Zielen überzeugen. Damals zeigte sich die Fähigkeit zur Erneuerung bereits in einem modern geführten Wahlkampf, der die Gegner vergleichsweise "alt" aussehen ließ. Die SPD mobilisierte ihre Stammwähler und gewann darüber hinaus Wechselwähler hinzu. Das alles gab ihren Mitgliedern Selbstbewusstsein und der Partei inneren Zusammenhalt.

Allerdings wurden bei der darauf folgenden Planung politischer Projekte die beiden Grundelemente Gerechtigkeit und Innovation nicht länger als "Zwillinge" behandelt, sondern im Gegenteil als entgegengesetzte politische Ziele diskutiert - und damit als kaum miteinander zu vereinbaren. Innovation wird dann mit Ökonomisierung und Privatisierung gleichgesetzt, Gerechtigkeit mit Besitzstandswahrung und Leistungsfeindlichkeit. Wahr aber ist: Wir haben nicht die Wahl zwischen "Innovation" einerseits und "Gerechtigkeit" andererseits. Denn Gerechtigkeit wird in Zukunft ohne Innovation nicht möglich sein. In diesem Sinn muss das Verhältnis der beiden Leitmotive neu bestimmt werden.

Wir befinden uns in einem andauernden gesellschaftlichen Transformationsprozess. Die Krise unseres Wohlfahrtsstaats ist auch eine Krise unserer Gesellschaft, die zeigt, dass die alten regulativen Mechanismen den neuen Verhältnissen nicht mehr gewachsen sind. Damit wird deutlich: Innovationen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft hinken den globalen Entwicklungen hinterher. Das bedeutet aber auch, dass wir nicht nur eine Gerechtigkeitslücke schließen müssen, sondern vor allem eine Innovationslücke. In einer sich schnell verändernden Welt darf nicht nur "das Wichtige" getan werden - gerechte Politik muss Perspektiven für die Zukunft aufzeigen, die möglichst für alle erstrebenswert sind.

Die alten Klischees führen in die Irre

Was die Bevölkerung verunsichert, ist nicht in erster Linie die Frage materieller Verluste, sondern die Sorge um die Beibehaltung einer zumutbaren Lebensführung und der Zweifel an der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen. Menschen, egal welchem sozialen Milieu sie angehören, verfolgen eigene Lebensziele und Lebensweisen, bilden sich eigene Meinungen und entwickeln Strategien zur Bewältigung von Problemen. Sie setzen sich Ziele, die sie erreichen wollen - dabei brauchen sie Unterstützung.

Wer ungerechte Politik mit dem Vorurteil entschuldigt, dass die Menschen immer nur den bequemsten Weg vorziehen und nur durch Sanktionen - wie die Strafe sozialen Abstiegs oder durch die Belohnung materiellen Gewinns - motiviert werden, folgt alten vulgärkapitalistischen Argumentationen. Wer immer wieder die Klischees der sozialen Hängematte auf der einen Seite und des auch für mangelhafte Leistungen noch fürstlich entlohnten Topmanagers auf der anderen Seite bedient, bringt uns der Lösung unserer Probleme nicht näher. Bestätigt wird diese Tendenz zum Vorurteil und zur Vorverurteilung auch durch das tiefe Misstrauen gegen die Politik oder besser gesagt, gegen jeden Anschein von persönlicher Vorteilnahme durch Politiker. Das Verständnis für die jeweilige Lage des anderen scheint uns abhanden gekommen zu sein. Dies ist besonders bedenklich, wenn es sich um Einschätzungen von Politikern und über Politiker handelt.

Für die Menschen ist nicht mehr klar erkennbar, wie persönliche Leistungen und Anstrengungen in Einklang stehen mit ihrem Fortkommen und dem Wachstum des eigenen wie auch des allgemeinen Wohlstands: Denn seit den neunziger Jahren wird deutlicher als in den Jahrzehnten zuvor, dass in Deutschland ungleiche Startchancen zunehmend die Lebensbiografie bestimmen und die Verbesserung des sozialen Status, die Mobilität aufwärts, immer schwieriger wird. Das lässt an den scheinbar unbestechlichen Marktmechanismen und am Leistungsprinzip zweifeln. Statt einer Differenzierung nach Leistung erreichen wir dann eine Differenzierung nach dem Ellenbogenprinzip oder nach ererbten Privilegien. Wenn Innovationen in der Ökonomie bedeuten, dass zumeist prekäre Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden, die extrem unsichere Lebensverhältnisse zur Folge haben, dann lehnen die Menschen solche Innovationen - aus guten Gründen - ab.

Wir brauchen deshalb einen neuen Grundkonsens darüber, was Gerechtigkeit bedeutet und wie wir sie verwirklichen können. "Innovation ist Gerechtigkeit" heißt, dass wir diejenigen Neuerungen vorantreiben wollen, die gut für unser Zusammenleben und gut für das Gemeinwohl sind.

Wo liegen die Innovationslücken?

Die Menschen haben große Hoffnungen in die SPD gesetzt und uns bei der Bundestagswahl 2002 wieder gewählt. Unsere Leitmotive "Innovation und Gerechtigkeit" haben hohe Erwartungen geweckt, doch unsere Politik blieb dahinter zurück. Was uns fehlt ist - neben den begonnen fiskalischen und ökonomischen Reformen - der Gesellschaftsentwurf, dem wir folgen wollen.

Aber wo genau liegen die Innovationslücken, die ungerecht sind und diese Ungerechtigkeit obendrein immer weiter reproduzieren? Spätestens die PISA-Studie hat das elementare Problem unseres Bildungssystems offen gelegt, nämlich dass es in seiner Wirkung weniger nach Begabung, sondern eher nach sozialer Herkunft selektiert. Wollen wir Ungerechtigkeit ernsthaft beseitigen, dann müssen wir dort mit der Arbeit beginnen. Weil es tatsächlich auf den Anfang ankommt, sollen Kinder früher in das Bildungssystem integriert werden, gleichzeitig müssen wir sie besser betreuen. Dazu brauchen wir Ganztagsschulen. Eine frühzeitige Auswahl unserer Kleinen für ein dreigegliedertes Schulsystem schon in der Grundschule ist nicht notwendig und sogar schädlich für die weitere Entwicklung, das zeigen die guten Beispiele der skandinavischen Länder. Allerdings müssen Instrumente für die Förderung individueller Begabungen zur Verfügung stehen.

Willkommen im pädagogischen Stundenhotel

Wenn wir unseren Sozialstaat zu einem aktivierenden Sozialstaat umbauen wollen, dann dürfen wir die Schule nicht mehr als "pädagogisches Stundenhotel" führen, wie sich der stellvertretende GEW-Vorsitzende Norbert Hocke ausdrückt. Unsere Schulen müssen sich für gesellschaftliche Anliegen öffnen, umgekehrt muss es für die Gesellschaft möglich werden, sich in das System der Schule einzubringen. Damit wir Kindern ohne Unterschied der Herkunft Lebenschancen eröffnen können, ist die Erziehung zur Selbstverantwortung unerlässlich. Ebenso wichtig ist es, sie an bürgerschaftliches Engagement heranzuführen und ihnen Werte zu vermitteln, die für gesellschaftlichen Zusammenhalt stehen - also Werte, die sich nicht nur an den eigenen Chancen orientieren, sondern auch an gesellschaftlichen Notwendigkeiten.

Lebenslanges Lernen ist ein weiteres Leitbild unserer Politik. Tatsächlich aber müssen wir schon in der Schule den Grundstein dafür legen, dass Erwachsene von dieser Möglichkeit überhaupt Gebrauch machen können. Denn der Anteil derjenigen, die schlecht oder gar nicht ausgebildet sind und sich deshalb nicht in nennenswerter Weise weiterbilden können, wird auf etwa 20 Prozent geschätzt.

Bei in Zukunft weiter steigenden Ansprüchen an Bildung und Ausbildung droht damit die dauerhafte Abkopplung vom Arbeitsmarkt - eine fatale Entwicklung unserer ökonomischen und sozialen Grundlagen wäre die Folge. Innovationen können nur positive ökonomische Effekte entfalten, wenn sie sich auf ein gut entwickeltes "Humankapital" stützen können. Deshalb ist neben dem Umbau der Bildungsstrukturen auch die Erhöhung der Ausgaben für Bildung notwendig.

Das Ziel muss sein, möglichst viele Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Leider gilt heute oftmals: Wer einmal draußen ist, kommt kaum wieder herein - unser Arbeitsmarkt ist verriegelt. Mächtige Interessen haben Zugangsbeschränkungen entwickelt, die dafür sorgen, dass nur bestimmte Wege zum Ziel führen. Ein gutes Beispiel ist die Handwerksordnung, deren Flexibilisierung wir gegen großen Widerstand erfolgreich in Angriff genommen haben. Trotzdem gibt es hier noch viel zu tun.

Keine Selbstverantwortung ohne Teilhabe

Zur Teilhabe gehört auch die Möglichkeit, mitzuentscheiden: Die demokratischen Instrumente in gesellschaftlichen Bereichen wie Schule, Hochschule, Medien, Vereinen und auch die Mitbestimmung in den Betrieben sind keine Klötze am Bein der Innovationswilligen, sondern tragen - etwa am Beispiel der Unternehmen - zur Identifikation der Beschäftigten mit ihrem Arbeitsplatz bei. Mitbestimmung ist nicht wirtschaftsfeindlich, sondern unerlässlich für die gesellschaftliche Entwicklung. Wer von den Menschen Selbstverantwortung fordert, muss sie teilhaben lassen am wirtschaftlichen Erfolg - aber eben auch an Entschei- dungsprozessen.

Ökonomische Risiken werden immer mehr einseitig auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgewälzt. Veränderungen beim Kündigungsschutz, bei den sozialen Sicherungssystemen, der Arbeitszeit, den Löhnen und Gehältern und dergleichen werden derzeit oft in der Begrifflichkeit "mehr Eigenverantwortung" subsumiert. Solange aber solche Prozesse als Innovation in Gesellschaft und Ökonomie verstanden werden, ist klar, warum "Innovation und Gerechtigkeit" in der Wahrnehmung der Menschen nicht zusammenpassen. "Innovation ist Gerechtigkeit" kann also bezogen auf die Gesellschaft nur mehr Teilhabe bedeuten. Dabei geht es nicht in erster Linie um mehr finanzielle Teilhabe, sondern vielmehr um die Teilhabe an Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen. Dann schafft mehr Innovation auch mehr Gerechtigkeit.

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