Interessiert uns die Zukunft noch

Eine literarische Reise in die Vergangenheit utopischen Denkens

"Eine Landkarte der Erde, die nicht auch Utopia zeigt, ist keines einzigen Blickes wert."
Oskar Wilde

 

I.
An den Gedanken, im Jahr 2000 zu leben, haben wir uns sehr schnell gewöhnt. Nach den gewaltigen - und gewaltig übertriebenen - Ängsten vor dem "Jahr-2000-Problem", nach den Millenniumsorgien der Medien und angesichts der Restbestände an apokalyptischer Furcht, die sich selbst in unserer verweltlichten Gesellschaft noch fanden, nimmt sich das Jahr im Alltagsgebrauch geradezu beleidigend normal aus.

Dabei ist es so lange eine Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Vorstellungen von der Zukunft gewesen: Etliche Autoren der französischen Aufklärung hatten ihre Gesellschaftsentwürfe im und um das Jahr 2000 angesiedelt; in einem DDR-Lied von 1961 zum Preise Walter Ulbrichts heißt es: "Und gibt es auch der Feinde Schar / wir werden′s ihr beweisen / das Jahr 2000 wird das Jahr / des Kommunismus heißen"; und alle ambitionierten Politikkonzepte der vergangenen fünfzehn Jahre trugen Namen wie "Kita 2000", "Nahverkehr 2000" oder, wie könnte es anders sein, "SPD 2000".

Aber wie sieht unser Verhältnis zur Zukunft eigentlich aus, nachdem wir die symbolische Jahrtausendgrenze überschritten haben? Interessiert uns die Zukunft noch? Was erwarten wir von ihr, was fürchten, was hoffen wir?

Es ist, besonders in den vergangenen zehn Jahren seit dem endgültigen Scheitern des Realsozialismus, allgemein üblich geworden zu sagen, dass die Zeit der Utopien vorbei sei. Und wenn mancher auch aus traditionalistischen Motiven aufbegehren würde, falls die SPD Anstalten machte, den Begriff "Demokratischer Sozialismus" aus ihrem Grundsatzprogramm zu streichen, so verbinden sich mit dem Terminus bei näherem Nachfragen doch höchstens noch die ähnlich abstrakten Begriffe "Freiheit", "Gerechtigkeit" und "Solidarität" - und, wenn es hochkommt, eine Vorstellung von der Welt als globalem SPD-Unterbezirk. Das aber sind keine Utopien, keine gesellschaftlichen Entwürfe, die über dem Status quo hinausweisen.

Nun mag man es durchaus für gut und richtig halten, sich realistisch und pragmatisch am Ende der Geschichte einzurichten. Von den beiden herausragenden Sozialdemokraten Helmut Schmidt und Franz Vranitzky wird gern der Satz zitiert, wer Visionen habe, solle nicht Politik machen, sondern zum Arzt gehen. Angesichts des entsetzlichen Leids, das große Gesellschaftsentwürfe im letzten Jahrhundert über die Menschen gebracht haben, ist diese Vorsicht zweifellos geboten.

Mit Karl Popper kann man der Meinung sein, dass "der Kampf gegen vermeidbares Elend ein anerkanntes Ziel der Politik sein sollte, während die Steigerung des Glücks in erster Linie der Privatinitiative überlassen bleiben sollte." Popper schreibt weiter: "Neue Wege zum Glück sind theoretische und irreale Dinge, über die man sich vielleicht nur schwer eine Meinung bilden kann. Aber mit dem Elend leben wir, hier und jetzt, und wir werden noch lange damit leben müssen. Wir alle kennen es aus Erfahrung. Deshalb sollten wir es zu unserer Aufgabe machen, die öffentliche Meinung von dem einfachen Gedanken zu überzeugen, dass es klüger ist, die dringlichsten sozialen Missstände einen nach dem anderen und hier und jetzt zu bekämpfen, anstatt Generationen für ein fernes und vielleicht für immer unerreichbares höchstes Gut zu opfern." Soweit die Warnung des kritischen Rationalismus. Sie scheint in unserer Gesellschaft gehört und verstanden worden zu sein.

Trotzdem wird eine aufgeklärte und vernünftige Linke vielleicht ein wenig mehr Ausblick brauchen, als sie sich gegenwärtig erlaubt. Ich will einige Gründe nennen, warum ich solchen Ausblick für nötig halte.

Erstens war die Linke traditionell der Träger eines Heilversprechens für die Benachteiligten und Entrechteten. Es spricht nichts dafür, dass dieses Versprechen überflüssig geworden ist, auch wenn Benachteiligung bei Sozialhilfebezug anders aussieht als bei einer Zwölf-Stunden-Schicht im Bergwerk oder in einer Spinnerei des 19.Jahrhunderts. "Ob es der Linken noch einmal gelingt, die Zukunft in hellen Farben zu malen, daran wird sich ihr Schicksal entscheiden", schrieb Henning Ritter in der großen "What′s-left"-Debatte 1992 in der FAZ. Wenn niemand mehr den Trost durch die Hoffnung auf eine hellere Zukunft braucht, verliert die Linke ihre Existenzberechtigung.

Zweitens wird das Bedürfnis nach Transzendenz in unserer Gesellschaft ohne Zweifel größer. Offensichtlich befriedigt es Menschen auf die Dauer doch nicht, einfach ihr Leben zu leben - und sei es völlig frei von Not und Elend -, ohne sich die Frage nach dem Sinn, nach dem Wofür ihrer Bemühungen zu stellen. Und weil Kirchen wie Parteien auf diese Frage nur noch zaghaft Antwort geben, wenden sich die Menschen in Scharen jenen zu, die weniger Hemmungen haben: Der Esoterikmarkt boomt nicht umsonst. Nun würde und dürfte die Regierungspartei SPD niemals antworten wie der yogische Guru, der Reiki-Meister oder der Scientologe. Aber sie sollte überhaupt etwas zu sagen haben zur Frage nach dem Sinn des Lebens. Und ebenso wenig wie die Antwort "42" lauten kann, genügt heute noch die Formel von "Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität". Die Worte benennen richtige Ziele, aber sie sind zur Floskel erstarrt, zur Wendung in einer anscheinend ausgestorbenen Sprache.

Drittens, und das ist mein Hauptgrund dafür, über Ausblicke zu reden, gibt es in den modernen westlichen Gesellschaften ja durchaus Leute mit Visionen, die sich deshalb keineswegs zum Arzt begeben wollen: Es sind dies die Internet-Priester, die Software-Päpste, die Biotechnologie-Propheten. Sie haben sehr wohl Vorstellungen von der Zukunft, die in ihrer Modernisierungs-Rhetorik ohnehin schon längst begonnen hat. Allerdings richten sich diese Vorstellungen in erster Linie auf das technisch Machbare. Was der vernetzte Computer und das beliebig nachzüchtbare Organ für das Zusammenleben der Menschen, für die soziale Umwelt bedeuten werden, bleibt in ihren Reden auf dem World Economic Forum in Davos vage und naiv. Es wird Zeit, dass jemand sich politisch mit den möglichen gesellschaftlichen Folgen dieser Entwicklungen auseinandersetzt.

Nun ist die Linke im Angsthaben immer gut gewesen, besonders in der Bundesrepublik. Vor dem Atomstaat hatte sie Angst, vor der Nachrüstung, vor der Ökokatastrophe und vor der Volkszählung. Ich will keinesfalls dazu auffordern, sich nun ordentlich vor Computern und Biotechnologie zu fürchten. Aber ich glaube andererseits, dass die auch in SPD-Kreisen viel- und gern zitierte "Zukunftsfähigkeit" heute mehr heißen muss als vernetzte Schulen, Mausklick-Training im Kindergarten und Teamarbeit - wenn sie nicht lediglich ein lakaienhaftes Hinterherlaufen hinter den Bedürfnissen der Techno-Visionäre sein soll.

Hilfreich wäre ein phantasievoller und unverstellter Blick auf die Zukunft, ein Blick für denkbare gesellschaftliche Entwicklungen - und Fehlentwicklungen. "Man erwartet noch etwas von der Zukunft", schrieb der Erfinder der Futurologie, Ossip K. Flechtheim, im Jahr 1987. "Aber die Zahl derer, die sie fürchten, nimmt zu."

Das eigenartige, quasi-naturgesetzliche Zusammenfallen von Gegenwart und Visionen künftiger technischer Machbarkeit, das wir heute überall spüren können, und das fast unweigerlich einherzugehen scheint mit einem Übergriff der Arbeits- auf die Lebenswelt, hat der Journalist Robert Jungk in seinen begnadeten Amerika-Reportagen beschrieben, die unter dem Titel Die Zukunft hat schon begonnen 1952 erschienen sind. Es lohnt sich, bei Jungk noch einmal nachzulesen. Die Aktualität seines Buches ist übrigens ein schönes Beispiel dafür, wie unsinnig das Gerede von der "Halbwertzeit" des Wissens ist. Jungk schreibt: "So sind die Vereinigten Staaten im Laufe eines halben Jahrhunderts zur führenden wissenschaftlichen und technischen Großmacht emporgewachsen. Ihre ‚Neuen Grenzen‘ lagen und liegen noch heute vor allem in den Laboratorien und Werkstätten des eigenen Landes. (...) Es geht den Amerikanern auch heute noch um viel mehr als Landbesitz. Sie sind im Grunde ehrgeiziger, als selbst ihre schärfsten Gegner glauben. Ihr Streben trachtet nämlich nicht nach Herrschaft über Kontinente oder gar über den ganzen Erdball, sondern nach viel Höherem. Amerika bemüht sich darum, die Macht über das All zu gewinnen, die vollständige, absolute Herrschaft über das Universum der Natur in allen seinen Erscheinungen. Es ist dies ein Machtstreben, das sich gegen keine der heute bekannten Nationen, Klassen, Rassen, Eliten und Kasten richtet. Es greift nicht bestimmte Regierungsformen an, sondern die seit Menschengedenken kaum erschütterten Wirkungsformen der Schöpfung. Wolken und Wind, Pflanze und Tier, der unendlich weite Himmelsraum selbst sollen unterworfen werden. Auf dem Spiel steht mehr als Diktatorensessel und Präsidentensitze. Es geht um Gottes Thron. Gottes Platz zu besetzen, seine Taten zu wiederholen, einen eigenen, menschengemachten Kosmos nach menschengemachten Gesetzen der Vernunft, Vorhersehbarkeit und Höchstleistung neu zu schaffen und zu organisieren: Darauf sind Amerikas beste Kräfte gerichtet.

Dies ist eine Verschwörung, die ihres Erfolges so sicher ist wie nur je eine andere revolutionäre Bewegung. Sie wird von Staatslenkern gefördert, von den Massen beklatscht, von der Polizei gehätschelt. Denn sie verspricht allen Reichtum sie will keinem Menschen etwas nehmen. Alles ursprünglich Sprießende, wild Wuchernde, in geduldiger Veränderung langsam Werdende wird von ihr ausradiert. (...) Es gibt kein Halt vor dem Tod, keinen Respekt vor der Zeit. Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft sind Jongleurbälle, die durcheinandergewirbelt werden."

In dieser "Neuesten Welt", die Jungk in den Raketenversuchsstationen und Laboratorien, aber auch in den 24-Stunden-Supermärkten und all-night-Kinos Amerikas beobachtet hat, und die jedenfalls mir so fremd, fern und amerikanisch heute nicht mehr vorkommt, zählt nur noch die Frage nach Zweck und Leistung: What is it good for?

Keine "ferne Utopie" sei diese Neueste Welt: "Wir sind nicht wie in den Zukunftsromanen von Wells, Huxley und Orwell durch den breiten Graben der Zeit von dem reißenden Tier Zukunft getrennt. Das Neue, Andere, Erschreckende lebt schon mitten unter uns. (...) Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich noch als harmlos, es tarnt und verlarvt sich hinter dem Gewohnten. Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie: Die Zukunft hat schon begonnen. Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden."

II.
Lässt sich die Zukunft wirklich noch verändern? Um darüber auch nur nachdenken zu können, muss man sich wohl von jenem Zukunftsbild lösen, das uns Softwarehäuser, Unternehmensberater und Börsenspezialisten verkaufen wollen. Wieder empfiehlt sich ein Blick zurück: Wie sahen die Hoffnungen und Sorgen vergangener Generationen aus? Welche haben sich erfüllt, welche nicht?

Als geeignete und zugleich unterhaltsame Quellen für eine Spurensuche bieten sich einige der großen Zukunftsromane der vergangenen hundert Jahre an. So breit war der Graben der Zeit wiederum nicht, der die Überlegungen von Orwell, Huxley und der anderen von der Zukunft trennte. Sie kritisierten schon, jeder auf seine Weise, ihre jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Keim für ein schlimmes Morgen in sich trugen. Sie beschäftigten sich mit der künftigen Natur des Menschen, mit seiner Kultur und den Veränderungen seiner Arbeitswelt, mit dem Wesen des Staates, mit der Zukunft der Liebe.

Wollte man einen vollständigen literaturgeschichtlichen Überblick über die Utopien vergangener Tage geben, man müsste im 16. Jahrhundert beginnen, bei Thomas Morus′ Utopia oder im 17. bei Campanellas Sonnenstaat. Doch diese frühen Raumutopien verhandeln die gesellschaftlichen Probleme einer Zeit, die uns schon sehr fern ist. Die Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts hingegen hatten sich von der Verlagerung ihrer Gesellschaftsentwürfe auf entlegene Inseln gelöst und projizierten ihre Vorstellungen in die nähere und fernere Zukunft.


Ein Autor, dessen Erzählungen uns auch heute auf eigentümliche Weise berühren können, ist der britische Sozialist H. G. Wells. In Wells Zeitmaschine von 1895, die zum Vorbild für unzählige Science-Fiction-Geschichten wurde, gelingt es einem Londoner Wissenschaftler ins Jahr 802.701 zu reisen. Dort stößt er auf eine Gesellschaft, deren Funktionsweise er zunächst nicht begreift: Er beobachtet die gutmütigen, feingliedrigen und schönen Eloi, die den ganzen Tag spielen, baden, sich aneinander erfreuen und leichte Obstmahlzeiten zu sich nehmen. Doch sind es die gleichen Eloi, die ohne Gefühlsregung zusehen, wie eine der ihren in einem reißenden Fluss zu ertrinken droht. Auch können sie nichts selbst herstellen oder reparieren: Sie leben in der verfallenen Pracht von Palästen, die ihre Vorfahren erbaut haben, und in die sie sich nachts angstvoll zurückziehen.

Denn nachts, das erfährt unser Zeitreisender nach und nach, nachts kommt die Stunde der Morlocks. Die Morlocks sind grausame, albinoartige Wesen, die unter der Erde leben. Weil sie das Licht der Sonne nicht ertragen können, jagen sie im Dunkeln, und sie jagen die wehrlosen Eloi, die sie schlachten und fressen. Doch dieser Zustand: die Eloi als Vieh auf der oberirdischen Weide, die Morlocks als unterirdische Kannibalen, ist, wie sich herausstellt, nur eine späte Stufe in einem jahrtausendealten Prozess der Ausbeutung einer underclass. Bereits im 19.Jahrhundert, dem der Zeitreisende entstammt, hatten die Wohlhabenden die Verlagerung der Fabriken und Produktionsstätten unter die Erde betrieben: Und die Arbeiter zwangen sie gleich mit aus dem hellen Tageslicht, aus der frischen Luft und gesunden Natur in die heißen, ungelüfteten Schächte und Stollen - nicht ohne ihnen für deren Ventilation und die kümmerlichen Schlafhöhlen noch überhöhte Mieten abzuknöpfen. Nach geraumer Zeit war jeder Widerstand der Unterirdischen gebrochen, alles Hässliche, Unästhetische, Mühselige von der Oberfläche verbannt. Doch mit den Jahren begannen die Oberirdischen zu degenerieren: Sie verloren ihre menschlichen Qualitäten, ihre Fähigkeit zum Mitgefühl, ihre Kreativität und Phantasie. Im Jahr 802.701, welches der Zeitreisende besucht, sind die Eloi bereits zur Fleischkammer derjenigen geworden, die sie zuvor entmenschlicht hatten.

Diese Welssche Utopie ist relativ leicht als antikapitalistische Kritik an den Zuständen des englischen Industrialismus zu deuten; doch die lichtlose Unterwelt, die der Natur ganz und gar entfremdet ist, behält auch heute eine gewisse Suggestivkraft, selbst wenn die Arbeitsstätten mit air-condition ausgestattet sind und der Weg von der Wohnung zur U-Bahn von zwei Minuten Spaziergang an der frischen Luft unterbrochen ist.

Wells litt an dem Moloch London, am Schmutz, Lärm und Gestank der Großstadt. In Menschen, Göttern gleich (1923) lässt er seinen Helden Mr. Barnstaple von tiefem Kulturpessimismus gebeutelt sein: "Erst vor einigen Wochen hatte er einen Artikel für den Liberal geschrieben, worin er das Ende des Zeitalters der Entdeckungen beklagte, einen Artikel, so völlig sinnlos und deprimierend, dass er Mr. Peeve (dem Herausgeber) ganz besonders gefallen hatte." Dieser kulturpessimistische Mr. Barnstaple wird nun, durch ein verunglücktes Experiment in einem Paralleluniversum in ein fernes Utopia versetzt: in eine Welt, die von den Lebensbedingungen her der Erde gleicht, aber schon viele Millionen Jahre weiter entwickelt ist als diese. Die Menschen dort - die Utopen, wie Mr. Barnstaple sie sofort nennt - haben gelernt, durch gesundes Leben und geschickte Züchtung alle Missbildungen und Krankheiten bei Mensch und Tier auszumerzen. Sie sind wunderschön; sie sind klug; sie haben viktorianische Moralvorstellungen weit hinter sich gelassen und pflegen maßvoll die freie Liebe; ihre Welt gleicht einem einzigen Arkadien.

Vor allem aber ist es ihnen gelungen, ihr Gesellschaftssystem ganz und gar auf die Regeln der Vernunft und der Wissenschaft zu gründen: Es bedarf keiner Regierung, keiner staatlichen Zwangsmittel mehr, weil alle Individuen zur Einsicht fähig und bereit sind, eine Expertenmeinung anzuerkennen. Privateigentum - außer den notwendigen Materialien eines Künstlers oder Wissenschaftlers - ist abgeschafft. Diesen erstrebenswerten Zustand haben die Utopen freilich erst nach Jahrhunderten der "Verwirrung" erreicht - und dadurch, dass sie sich die Erziehung und Unterweisung der Kinder zur höchsten Gemeinschaftsaufgabe machten. Der neue Mensch konnte nicht von einer schlechtbezahlten Kindergärtnerin erzogen werden, sondern nur von den Besten der Gesellschaft.

Da Wells seinen Helden voller Hingabe und Begeisterung zu den Utopen aufblicken lässt, ist anzunehmen, dass er bis zu einem gewissen Grade mit dieser Erziehungsutopie sympathisiert. Es sind eher Mr. Barnstaples kleingeistige Weggefährten aus der Londoner Jetzt-Zeit, die in dem perfekten System Utopias Mängel zu sehen vermögen: Was ist letzten Endes in einer Welt ohne Böses das Gute wert? Fehlt nicht den Utopen in ihrem grenzenlosen Rationalismus auch eine gewisse Qualität des Menschlichen: das Mitleid und die Fähigkeit, Tragik und Widerspruch auszuhalten? In Menschen, Göttern gleich bleiben die Zwischentöne leise, aber wie bei den Eloi fragt sich der Leser auch bei den Utopen, ob die Menschen ohne das Hässliche auskommen können. Wells geht es um die Zukunft der menschlichen Natur im Kapitalismus und seinen denkbaren gesellschaftlichen Folgeformationen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich das Individuum verändern wird.

In seinem Roman Wir (1920) entwirft Jefgenij Samjatin in düsteren Farben die Welt eines Stalinismus letzte Konsequenz. Wir ist das totale Gegenbild zu Wells Erziehungsutopie: Irgendwann, tausend Jahre nach dem letzten großen Krieg, ist die ganze Welt dem "Einzigen Staat" unterworfen. An dessen Spitze steht der "Wohltäter". Man ist schon weit darin fortgeschritten, den Menschen jede Individualität auszutreiben. Sie tragen Nummern, keine Namen, sie lernen von Kindheit an, im Takt zu kauen; ihr Leben ist für die staatlichen Organe so durchschaubar wir ihre gläsernen Häuser. Die Liebe ist auf die denkbar unfreieste Weise frei: Jeder Mensch kann sich auf einen begehrten Geschlechtspartner "eintragen" lassen; der Abonnierte darf den Wunsch nicht abschlagen.

Der "Einzige Staat" praktiziert eine Form von besonders empörender Scheindemokratie: In jährlichen Abstimmungen werden die Menschen gezwungen, durch öffentliches Handaufheben für den "Wohltäter" zu stimmen; wer das nicht tut, wird auf der "Maschine" des Wohltäters hingerichtet. Doch noch gibt es auch im "Einzigen Staat" Individuen, die sich einen eigenen Charakter bewahrt haben - und dementsprechend gibt es Widerstand. Doch der Staat findet Wege, den letzten Funken an Eigensinn zu vernichten: Eines Tages erscheint im staatlichen Verlautbarungsorgan ein Artikel über die Krankheit Phantasie: "Die Phantasie", heißt es dort, "ist das letzte Hindernis auf dem Weg zum Glück. Freut Euch, dieses Hindernis ist beseitigt. Der Weg ist frei. Die staatliche Wissenschaft hat vor kurzem eine wichtige Entdeckung gemacht: Das Zentrum der Phantasie ist ein winziger Knoten an der Gehirnbasis. Eine dreimalige Bestrahlung dieses Knotens - und ihr seid von der Phantasie geheilt. Für immer. Ihr seid vollkommen, ihr seid wie Maschinen, der Weg zum vollkommenen Glück ist frei. Kommt in die Auditorien und lasst Euch operieren. Es lebe die Große Operation, es lebe der einzige Staat! Es lebe der Wohltäter!" D-503, ein an und für sich regimegetreuer Raketeningenieur, der nur durch seine Liebe zu einer Frau aus dem Widerstand - I-330 - in seiner Loyalität verunsichert wird, schildert die erste Begegnung mit den Operierten: "Die Tür des Auditoriums an der Ecke war weit geöffnet, langsam kam eine Kolonne von etwa 50 Menschen herausgestapft. Menschen ist nicht das richtige Wort - nein, es waren keine Füße, sondern schwere, von einem unsichtbaren Triebwerk bewegte Räder, es waren auch keine Menschen, sondern Traktoren in Menschengestalt. Über ihren Köpfen knatterte eine weiße Fahne, auf die eine goldene Sonne gestickt war, und in den Sonnenstrahlen las ich: Wir sind die ersten! Wir sind operiert! Alle uns nach!"

In Wir siegt, wie in George Orwells 1984, die Finsternis. Der Widerstand wird verraten und gebrochen, D-503 operiert, I-330 hingerichtet. Das System hat triumphiert. Es hat den Menschen zur Maschine gemacht, den letzten Ausdruck seiner Persönlichkeit eliminiert.

Wie Orwells totaler Staat bleibt uns auch der Staat des Wohltäters heute allerdings einigermaßen fremd. Gegenwärtig scheint weniger ein allmächtiger Staatsapparat die Freiheit des einzelnen zu bedrohen als vielmehr der einzelne selbst: indem er sich in unnötige Unmündigkeit begibt, indem er sein Urteilsvermögen an den Nagel hängt und sich mit Fernsehen, Konsum, Drogen und Extremsportarten betäubt; indem er sich auf der rastlosen Suche nach immer neuem Beziehungsglück verzettelt und sich - zum Teil notgedrungen - ganz und gar in die Forderungen und Zumutungen seines Arbeitsalltages schickt.

Diese Form der gesellschaftlichen Entwicklung haben zwei Autoren besonders eindrucksvoll antizipiert: Aldous Huxley in seinem Roman Schöne neue Welt (1932) und Stanislaw Lem in Transfer (1961). Huxleys Schöne neue Welt ist im Jahre "632 nach Ford" angesiedelt: Die westliche Wohlstandgesellschaft ist auf der ganzen Welt verwirklicht. Das Hauptziel der Menschheit besteht im beständigen Konsumieren; "Soma", eine hochwirksame Wohlfühldroge, hat schädliche Vorgänger wie den Alkohol ersetzt, und benebelt nun aufs angenehmste den Geist, ohne den Körper zu zerrütten. Die schöne neue Welt ist unserer heutigen Spaßgesellschaft schon recht ähnlich; die Menschen haben es aufgegeben, langfristige Bindungen einzugehen: Sex ist, wie alles andere, ein Konsumartikel.

Babys werden nicht mehr geboren, sondern aus Flaschen "entkorkt", mit dem ungeheuren Vorteil, dass die Kinder nicht an ihren Müttern hängen, sondern unmittelbar für ihr späteres Leben zugerichtet werden können. Das geschieht durch staatliche Kollektiverziehung und sogenannten "Schlafschulunterricht": "Die Stimme unter den Kissen bahnte zukünftiger Nachfrage nach zukünftigem Angebot an Fabrikaten eine Gasse. ‘Ich fliege so gern‘, wisperte sie, ‘ich fliege so gern, ich habe schöne neue Kleider so gern. Alte Kleider sind scheußlich. Alte Kleider wirft man weg. Enden ist besser als wenden. Enden ist besser als wenden. Enden ist besser ...‘ "

In den neo-pawlowschen Normungssälen wird freilich auch handfester erzogen: Mit Getöse und Stromschlägen bringt man Kleinkindern der unteren Kasten bei, Blumen, Bücher und Kuscheltiere zu hassen - was sollen schließlich Deltas oder Epsilons mit diesen Dingen? Sie werden zeitlebens schwerste Arbeiten verrichten, in Bergwerken und in Fabriken schuften. Und sie werden es gern tun, denn sie und ihre aus einer einzigen Zelle geklonten Brüder und Schwestern sind von Anfang an für dieses Schicksal konditioniert worden: Man hat ihre Brutflaschen erhitzt, so dass sie sich nur in der Wärme unter Tage richtig wohlfühlen; man hat der Nährlösung, mit der sie aufgezogen wurden, Alkohol zugesetzt, um die Ausbildung überflüssiger Intelligenz zu verhindern. Die Deltas und Epsilons sind subhumane Kasten, unwesentlich besser als nützliche Tiere; aber auch die Alphas und die Betas, die mit Intelligenz und der grundsätzlichen Möglichkeit zur freien Entscheidung ausgestattet sind, fügen sich bereitwillig in die Regeln der Fordgesellschaft.

Freiheit ist dem Menschen leicht abzukaufen, lautet Huxleys deprimierende Botschaft; und der Autor lässt seine Leser zurück mit dem nagenden Zweifel, ob Freiheit wirklich viel wert ist angesichts einer sinnlich befriedigenden, aber entmündigenden Vollversorgung. Man muss ein düsterer Moralist ohne jede hedonistische Verweichlichung sein, um der schönen neuen Welt ohne jedes Zögern eine Absage zu erteilen. Die meisten Leute sind gerade das nicht; und darum sind die Methoden der schönen neuen Welt auch erfolgversprechender als der Totalitarismus, wenn es darum geht, die Menschen gleichzuschalten.

Noch komplexer und beängstigender als Huxleys Zukunftsvision ist Stanislaw Lems Entwurf einer künftigen Gesellschaft (in Transfer). Hal Bregg, der Chefpilot des Raumschiffes "Prometheus" kehrt von einer Fahrt zu einem 23 Lichtjahre entfernten Stern zurück. Zehn Bordjahre hat diese Reise gedauert. Zehn Bordjahre bedeuten 123 Erdenjahre. So finden die Überlebenden der verlustreichen Expedition eine völlig veränderte Welt vor. Die Technik hat sich rapide fortentwickelt. Die Städte sind mit äußerster Raffinesse neu erbaut, die Verkehrsysteme revolutioniert. Lebensmittel werden synthetisch hergestellt, alle schweren Arbeiten von Robotern verrichtet. Die Menschen leben nahezu kostenlos in unendlichem Wohlstand. Geld und sozialer Status spielen keine Rolle mehr in den Beziehungen der Geschlechter; Jugend ist das einzige Merkmal, das sexuellen Erfolg garantiert. Alle leben im Frieden miteinander - aufgrund einer Behandlung, der sogenannten "Betrisierung", die schon Kleinkindern jeden Aggressionstrieb nimmt. Hal Bregg hat es schwer sich in dieser Gesellschaft zurechtzufinden, in der Wagemut, Risikobereitschaft und Kraft eben sowenig zählen wie Liebe und Leidenschaft. "Heute gibt es keine Tragödien mehr", sagt ihm ein uralter Arzt, der kurz nach Breggs Abflug geboren worden war: "Wir haben die Hölle der Leidenschaften beseitigt, da stellte es sich heraus, dass zugleich auch der Himmel zu existieren aufhörte. Nun ist alles nur lau, Bregg."

Neben der Frage, was den Menschen zum Menschen macht, klingt bei Lem in diesem wie in zahlreichen seiner anderen Romane ein weiteres geheimnisvolles Motiv an: das seltsame Eigenleben der Maschinen, die den Menschen erst ihre Existenz in Wohlstand und Zufriedenheit ermöglichen.

Bregg begleitet einen jungen Ingenieur auf einen Kontrollbesuch in einer Roboterverschrottungsanlage. Der junge Mann wird aufgehalten, und Bregg betritt alleine einen Schuppen, der etwas abseits in der glühenden Nachmittagshitze liegt. Drinnen herrschen Dämmerlicht und das merkwürdige Summen unzähliger elektronischer Stimmen.

"Er ist hier!" ertönte ein Schrei. Und plötzlich herrschte eine Stille, die in ihrer unbeschreiblichen Spannung fast genauso durchdringend war wie der ihr vorausgehende mehrstimmige Chor.
"Mein Herr!" sagte da etwas; ich wusste nicht, woher mir diese Sicherheit kam, doch spürte ich, dass diese Worte an mich gerichtet waren. Ich reagierte nicht.
"Mein Herr... bitte ... kurze Aufmerksamkeit. Mein Herr, ich - ich bin anders. Bin hier durch einen Irrtum ..." Stimmengewirr. "Still! Ich bin lebendig!" überschrie er den Lärm. "Jawohl, man stieß mich hier hinein, hat mich mit Blech überzogen, absichtlich, damit man es nicht sieht, aber legen Sie nur das Ohr an, dann hören Sie meinen Puls!"
"Ich auch!" überschrie ihn eine andere Stimme, "ich auch! Mein Herr! Ich wurde krank, meinte während der Krankheit eine Maschine zu sein. Das war mein Wahn, aber jetzt bin ich gesund! Hallister, Herr Hallister kann das bestätigen, bitte, fragen Sie ihn doch! Nehmen Sie mich von hier fort - bitte!" (...)
Die Baracke dröhnte und knirschte von rostigen Stimmen, wurde im Nu von einem atemlosen Schrei erfüllt, ich ging rückwärts zurück, sprang in die Sonne, geblendet, blinzelte (...).
Ich ging am verglasten Pavillon vorbei, wusste nicht wohin, wollte nur möglichst weit von diesen Stimmen weg, sie nicht mehr hören; zuckte zusammen, als mich plötzlich jemand an der Schulter fasste. Es war Marger, der Blonde, Hübsche, Lächelnde.
"Ach. Entschuldigung, Herr Bregg, bitte tausendmal um Entschuldigung, es hat so lange gedauert ..."
"Was wird mit ihnen geschehen?" unterbrach ich ihn fast unhöflich und wies mit der Hand auf die einzeln stehende Baracke.
"Wie bitte?" Seine Augenlider zuckten. "Mit wem?"
Plötzlich verstand er: "Ach, dort sind Sie gewesen? Das war nicht nötig ..."
"Wieso nicht nötig?"
"Das ist Schrott."
"Was?"
"Schrott, zum Schmelzen, bereits nach der Selektion. Gehen wir? ... Wir müssen noch das Protokoll unterschreiben."
"Moment. Wer führt sie durch, diese ... Selektion?"
"Wer? Die Roboter."
"Was? Sie allein?"
"Selbstverständlich."
Unter meinem Blick verstummte er.
"Warum repariert man sie denn nicht?"
"Weil sich das nicht lohnt", sagte er langsam, mit einem Ausdruck des Staunens.
"Und was geschieht mit ihnen?"
"Mit dem Schrott? Er wird dorthin befördert", er wies auf den hohen, einsam stehenden Siemens-Martin-Ofen. (...)
"Und besteht da keine Möglichkeit eines Irrtums?"
"Wie, bitte?"
"Dort, in diesem ... Schrott, wie Sie ihn nennen, könnte man wohl ... noch ziemlich leistungsfähige, brauchbare finden - meinen Sie nicht auch?"
Er sah mich an, als ob er nicht verstünde, was ich da redete.
"Ich hatte diesen Eindruck", schloss ich langsam.
"Aber das ist doch nicht unsere Sache", erwiderte er.
"Nicht? Wessen denn?"
"Sache der Roboter."
"Wieso? Wir sollten doch kontrollieren."
"Ach, nein", lächelte er, erleichtert, dass er endlich die Ursache meines Irrtums entdeckt hatte. "Das hat ja damit nichts zu tun. Wir kontrollieren die Synchronisation der Prozesse, ihr Tempo und ihre Effektivität. Wir kümmern uns nicht um solche Einzelheiten wie die Selektion. Das ist nicht unsere Sache. Außer der Tatsache, dass dies nicht nötig ist, wäre es übrigens auch nicht möglich, da auf jeden Lebenden heute achtzehn Automaten fallen, und davon beenden tagtäglich zirka fünf ihren Zyklus und kommen auf den Schrotthaufen. Pro Tag ergibt das eine Menge von zwei Milliarden Tonnen. Also sehen Sie selbst, dass wir dies nicht überwachen könnten. Ohne zu erwähnen, dass die Struktur unseres Systems eben auf einer umgekehrten Beziehung beruht: die Automaten sorgen für uns, nicht wir für sie ..."

III.
Mit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist die Zeit des großen Zukunftsromans zunächst einmal vorbei; Gegenwart und Zukunft rücken näher aneinander, erst in den sozialen Wunschträumen der Studentenrevolte, dann im Zukunft-hier-und-jetzt-Wahn unserer globalisierten Wirtschaftsgesellschaften. Doch Lems Frage - was wird aus den intelligenten Maschinen? - beschäftigt uns noch heute.

Ein jüngeres Beispiel ist der Film Matrix, in dem sich das Verhältnis von Menschen und künstlicher Intelligenz radikal umgekehrt hat: Die Maschinen beuten die Menschen als Biobatterien aus und päppeln sie mit Nährlösung aus dem Enzym Verstorbener. Die embryonal in ihren Fruchtblasen zusammengekauerten Menschenbatterien sind an ein gigantisches Computerprogramm angeschlossen, das ihnen suggeriert, sie lebten am Ende des 20. Jahrhunderts. Wer aus diesem Programm ausbricht - auch in der von den Computern beherrschten Welt gibt es eine menschliche Widerstandsbewegung - findet sich in einer Hölle der Verwüstung unter einem verdunkelten Himmel wieder. Mancher zieht die Freiheit des Nichtswissens dem Menschsein inmitten der Verwüstung vor. Und es bedarf eines Messias, um den Kampf gegen die Computer mit einiger Aussicht auf Erfolg zu beginnen.

Für jemanden, der die Zukunft, wie Robert Jungk geschrieben hatte, erkennen und vielleicht noch ändern will, ist die Hoffnung auf einen Messias gewiss zu wenig. Und zu den Fragen an die Zukunft, die Schriftsteller bis in die sechziger Jahre hinein beschäftigt haben, sind neue Fragen hinzugekommen: zum Beispiel nach einer Gesellschaft der Alten, nach der ewigen Jugend, nach einer Welt ohne Kinder; nach den Gesellungsformen jenseits der Familie, nach Anomie und dem Terror des Individuums. Zaghaft sind noch die Versuche, die Utopie, oder vielleicht doch eher: die Dystopie von heute für morgen zu schreiben. Mit aller gebotenen Bescheidenheit sollten wir beginnen zu überlegen, was darin stehen müsste.

zurück zur Ausgabe