Inzwischen auf Augenhöhe

Die Beziehungen zwischen Deutschen und Polen haben sich nach dem Beitritt unserer östlichen Nachbarn zur Europäischen Union auf fundamentale Weise verändert - in der großen Politik sogar noch mehr als im alltäglichen Leben der Grenzregionen

W er spüren will, wie nah sich Deutsche und Polen heute sind, sollte ganz einfach an einem Sonnabendvormittag einen Spaziergang von Frankfurt (Oder) nach Słubice oder über eine der anderen Brücken machen, die beide Länder verbinden. Besonders an den Wochenenden reißt der Strom der Autos und Fußgänger über die nur noch virtuell vorhandene Grenze kaum ab. Nach wir vor lockt das Preisgefälle Zigtausende zum Besuch im jeweiligen Nachbarland, allerdings ist dieses Gefälle längst nicht mehr so einseitig wie noch vor ein paar Jahren. Während für die Deutschen das um bis zu 30 Cent je Liter günstigere Benzin, die billigen Zigaretten und die vorteilhaften Restaurantbesuche zu den Hauptattraktionen zählen, finden sich für Polen hierzulande andere Schnäppchen. Dazu gehören neben Markenbekleidung, Kosmetik und einigen Lebensmitteln wie Schokolade auch die Angebote deutscher Reisebüros oder – was man nicht unbedingt erwartet hätte – Möbel. Längst haben sich Einzel- und Großhändler auf die speziellen Wünsche der Nachbarn eingestellt, mit denen sie gute Geschäfte machen.

Dass es die Unterscheidung zwischen den wohlhabenden Deutschen und den ärmeren Polen schon lange nicht mehr gibt, ist eine der spürbarsten Veränderungen im Verhältnis beider Länder. Dies gilt auf verschiedenen Ebenen, von der Politik bis zum Alltagserleben der Menschen. Wenn man sich an die Zeit vor zehn oder zwanzig Jahren erinnert, dann haben sich die Beziehungen zu Polen insgesamt so dynamisch verändert wie wohl zu kaum einem anderen der deutschen Nachbarländer. Liest man die Verträge über die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und gute Nachbarschaft von 1990 und 1991 heute, spürt man die Rollenverteilung, von der die Beziehungen damals noch geprägt waren: Hier das gerade wiedervereinte Deutschland, politisch und wirtschaftlich stark, dort das von Krieg und Sozialismus gebeutelte Polen, das nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des alten Systems inmitten einer Krise und erst ganz am Anfang tiefgreifender ökonomischer Veränderung stand.

Aus dieser Konstellation rührte seinerzeit eine Art deutscher Paternalismus, mit dem sich die Regierungen von Helmut Kohl und später Gerhard Schröder zum Fürsprecher der polnischen Bemühungen auf dem Weg in die Nato und die EU erklärten. Heute ist mit Janusz Lewandowski ein Pole in der EU-Kommission für die Finanzplanung und den Haushalt zuständig. Der frühere Ministerpräsident Jerzy Buzek hat gerade seine zweieinhalbjährige Amtszeit als Präsident des EU-Parlaments mit Bravour absolviert und die Regierung von Donald Tusk erhielt für ihre EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2011 Anerkennung von allen Seiten.

Die positiven Spätwirkungen der Ära Kaczyński

Polen hat sich längst von der deutschen Fürsprecherrolle emanzipiert. Dieser Weg war von Konflikten und überraschenden Erkenntnissen geprägt. Von „Undankbarkeit“ war sogar die Rede, als Warschau 2003 an der Seite der USA und anderer „williger Länder“ in den Irak-Krieg marschierte. Später wirkte die kurze, aber von zahlreichen Konfrontationen geprägte Zeit, in der Jarosław Kaczyński Regierungschef und sein Zwillingsbruder Lech Staatspräsident waren, wie ein Schock, aber im Nachhinein betrachtet auch wie die endgültige Loslösung Polens aus der deutschen Vormundschaft. Längst überwunden geglaubte Ängste und Vorurteile, die besonders aus den Zeiten der deutschen Besatzung Polens im Zweiten Weltkrieg rühren, tauchten in diesen zwei, drei Jahren wieder auf.

Auch heute sind diese Emotionen zwar noch nicht verschwunden, aber Reizthemen wie das „Zentrum gegen Vertreibungen“, die nahezu manische Kritik an Erika Steinbach, der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, oder auch die deutsch-russische Gaspipeline unter der Ostsee bestimmen nicht mehr die Tagesordnung. Andererseits ist – zumindest beim politisch interessierten Teil der deutschen Bevölkerung – in dieser Zeit das Verständnis für polnische Urängste und Befindlichkeiten gewachsen, und man begreift den Blickwinkel der Nachbarn auf für sie wichtige Zusammenhänge heute besser als noch vor fünf oder zehn Jahren.

An dieser Stelle sei auch angemerkt, dass die Kaczyński-Partei während ihrer Regierungszeit den wirtschaftlichen Reformkurs nie in Frage gestellt hat. Und so leistete auch sie einen Beitrag dazu, dass im Krisenjahr 2010 Polen als einziges Land in der EU ein leichtes Wirtschaftswachstum vorweisen konnte; eine Entwicklung, die das Selbstbewusstsein der Nachbarn weiter stärkte. Freilich spielte hierbei auch ein Umstand eine Rolle, der von der Tusk-Regierung zumindest öffentlich eher selten hervorgehoben wird: Die Strukturhilfen der EU in Höhe von 60 bis 70 Milliarden Euro erreichten das Land genau zum richtigen Zeitpunkt und wirkten wie ein großes Konjunkturprogramm, für das man keine Staatsschulden aufnehmen musste. Natürlich hatte Polen einen politischen Anspruch auf diese Unterstützung. Und es war – im Gegensatz zu anderen EU-Ländern – auch in der Lage, dieses Geld sinnvoll für die Entwicklung der Infrastruktur einzusetzen und konnte so den Effekt dieser Mittel noch erhöhen.

Dass im vergangenen Herbst erstmals seit 1989 eine polnische Regierung bei Wahlen im Amt bestätigt wurde, war auch ein Effekt dieser Entwicklung. Solch ein politisches Kunststück – noch dazu während der laufenden EU-Ratspräsidentschaft – ist kaum einer anderen Regierung je gelungen. Die Regierung Tusk schlüpfte während der Ratspräsidentschaft in die Rolle des Vermittlers zwischen der Euro-Gruppe und den Nicht-Euro-Ländern innerhalb der Gemeinschaft und half so, ein Zerbrechen der Gemeinschaft (vorerst) zu verhindern. Dafür dankte Bundeskanzlerin Angela Merkel den Nachbarn ausdrücklich in einer Regierungserklärung zur Eurokrise, was wiederum in der deutschen Öffentlichkeit für eine veränderte Bewertung des Nachbarn sorgte.

Soweit zu den makropolitischen Verhältnissen beider Länder, die sich nun schon seit einigen Jahren außerorderntlich positiv entwickeln. Im Bewusstsein der Menschen, die beiderseits der Grenze leben, schlagen sich solche Prozesse natürlich immer in gefilterter Form nieder. Da ist das Staunen über neu entstandene Einkaufs-Malls in Städten wie Stettin oder Posen oder die Tatsache, dass selbst in kleinen polnischen Orten die Eigenheimsiedlungen wie Pilze aus dem Boden schießen, häufig größer als die Beachtung des Einflusses der Nachbarn auf einen EU-Gipfel.

Für die Menschen an Oder und Neiße war ein Ereignis noch entscheidender als die Beitritte Polens zur Nato und zur EU: die Abschaffung der Personenkontrollen an der Grenze im Dezember 2007. Erst nachdem sie nicht mehr bei jedem Grenzübertritt nach ihren Ausweisen gefragt wurden, fühlten sich die Polen nicht mehr als „Europäer zweiter Klasse“ behandelt. Die Freiheit, nicht nur die Oder, sondern auch den Rhein und viele andere ehemalige Grenzlinien auf dem Kontinent ungehindert passieren zu können, ist für viele auch nach über vier Jahren noch ein kleines Wunder.

Das Zentrum der Uckermark heißt Stettin

Deutscherseits der Grenze hatte es dagegen vor der Abschaffung der Kontrollen Ängste gegeben, wie schon vor dem EU-Beitritt Polens am 1. Mai 2004 oder später anlässlich der endgültigen Öffnung des Arbeitsmarktes für die Neu-EU-Mitglieder. Mit einer Ausnahme stellten sich diese Ängste jedoch als überflüssig heraus. Die Ausnahme sind die Autodiebstähle, deren Anzahl sich in der hiesigen Grenzregion seit Ende 2007 mehr als verdoppelt hat. Diese Entwicklung, an der organisierte Kriminelle aus Polen beteiligt sind, belastet leider die Beziehungen beider Länder. Hinzu kommt, dass bisher nur ein Fünftel aller Diebstähle aufgeklärt werden können. Immer wieder sind deshalb sogar Forderungen nach Wiedereinführung der Grenzkontrollen zu hören. Das jüngste und bisher deutlichste Signal war eine Petition, die mehr als 70 Unternehmer aus der Uckermark an den Brandenburger Landtag schrieben, weil ihnen im großen Umfang Landmaschinen und andere Geräte gestohlen worden waren. Die Wirtschaftsvertreter forderten eine höhere Polizeipräsenz in der Grenzregion. Das Potsdamer Innenministerium reagierte mit einer Sondermaßnahme: Seit Jahresbeginn befinden sich drei Hundertschaften der Brandenburger Bereitschaftspolizei im Kontrolleinsatz. Hochrangige polnische Polizisten kündigten zudem bei einer Begegnung mit Brandenburger Kollegen eine verstärkte Zusammenarbeit gegen die Kriminellen an.

Zu den positiven Veränderungen in der Grenzregion gehört dagegen, dass Dutzende polnische Familien aus Stettin inzwischen nach Vorpommern oder in die Uckermark gezogen sind. Die Tatsache, dass einzelne Grundstücke und Immobilien auf deutscher Seite der Grenze inzwischen preiswerter sind als in der Großstadt Stettin, hätte vor einigen Jahren noch niemand vorausgesagt. Brandenburgs Wirtschaftsminister Ralf Christophers meinte kürzlich: „Stettin entwickelt sich zum natürlichen Zentrum der Uckermark.“ Freilich könnte man gerade dieser Äußerung entgegenhalten, dass die Bahnlinie zwischen Berlin und Stettin noch immer zu den Sorgenkindern der gemeinsamen Verkehrswege zählt, weil rund 30 Kilometer dieser Strecke zwischen Angermünde und der Grenze bisher noch nicht elektrifiziert wurden. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Bundesregierung diese Investition vor einigen Jahren schon gemeinsam mit Warschau in Angriff nehmen wollte, damals allerdings die Kaczyński-Regierung kein Interesse zeigte.

Zu Licht und Schatten gehört, dass sich einerseits die wirtschaftliche Entwicklung in den Grenzregionen leicht verbessert hat (die Arbeitslosigkeit sank im vergangenen Jahrzehnt um etwa fünf auf derzeit 10 bis 12 Prozent), dass andererseits viele gemeinsame Vorhaben von Kommunen oder Kreisen aber an der unterschiedlichen Kompetenzverteilung in beiden Ländern scheitern. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Einrichtung einer öffentlichen Nahverkehrsverbindung zwischen Frankfurt und Slubice. Nachdem sich beide Städte nach jahrelangen Diskussionen von der Idee einer Verlängerung der Frankfurter Straßenbahn über die Oder verabschiedeten, lässt sich auch die Ersatzvariante – ein Bus – nicht so einfach umsetzen. Momentan scheitert diese Idee daran, dass die polnische Kommune nicht einfach einen Betrag aus ihrem Etat für die Bus-Linie an die Frankfurter Stadtverkehrsgesellschaft überweisen kann, weil die polnische Gesetzgebung einen solchen Geldtransfer ins Ausland untersagt. Problematisch ist freilich auch, dass selbst das Geld, das von der EU für die Verbesserung des Zusammenlebens in der Grenzregion zur Verfügung gestellt wird, oft erst nach langwierigen Verhandlungen mit den Vertretern der zentralen Landesebenen zu den Projektträgern kommt. Da diese Mittel von den Antragstellern vorfinanziert werden müssen, scheitern gerade kleine Vereine oder auch Schulen an der Beantragung.

An der Oder entsteht eine Europäische Region

Auch größere Infrastrukturvorhaben, die aus Sicht der Grenzregion wichtig wären, wie etwa der Ausbau der Wasserwege von Schwedt nach Stettin oder einige Umgehungsstraßen für polnische Grenzorte, erscheinen aus der Perspektive der Regierungen in Berlin oder Warschau weniger bedeutsam.

Im Zeitalter der Globalisierung und der Finanzkrise verschwindet zunehmend auch der bilaterale Blick auf die Probleme. An der Europa-Universität in Frankfurt und dem Collegium Polonicum in Słubice wird beispielsweise die Frage, ob Studierende oder Wissenschaftler aus Deutschland oder Polen kommen, heute viel seltener gestellt, als noch vor einigen Jahren. Wer die Sprache des Nachbarn nicht kennt, verständigt sich auf Englisch, daneben teilen die Hochschulabsolventen beiderseits der Oder eher die Sorge, ob sie nach dem Studium einen einigermaßen gut bezahlten oder gar unbefristeten Job bekommen.

Auch in vielen anderen Bereichen verliert die Herkunft an Bedeutung. Angler treffen sich an der Oder, nicht weil sie Deutsche oder Polen sind, sondern weil sie die Begeisterung am Angeln verbindet. Das Gleiche gilt für Musikfreunde, Briefmarkensammler oder auch Unternehmer. Natürlich kommen einige Dinge nicht so voran, wie man es sich wünschen würde. Beispielsweise lernen heute noch genauso wenig junge Brandenburger Polnisch wie vor zehn Jahren (oder sogar noch weniger). Wer hätte dagegen nach dem legendären „Brötchenkrieg“, den die Frankfurter Handwerkskammer 1995 gegen eine polnische Bäckersfrau führte, gedacht, dass die gleiche Kammer einmal eine Werbekampagne für Azubis aus Polen führen würde und diesen sogar spezielle Sprachkurse anbietet, weil sich nicht genügend Bewerber finden? Und dass beiderseits der Oder nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch der Mangel an Fachkräften zum Problem werden würde? Langsam entwickelt sich aus dem deutsch-polnischen Grenzraum eben eine europäische Region.


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