Schleichende Annäherung an der Oder
Urszula und Kamil, zwei Studenten aus einer deutsch-polnischen WG an der Europa-Uni in Frankfurt (Oder), waren enttäuscht. Da hatten sie sich mehrere Stunden mit einer Reporterin des Hamburger Stern unterhalten, um ein möglichst differenziertes Bild der Verhältnisse und Probleme an ihrer Uni zu geben. Die Studenten hatten nicht verschwiegen, dass die Uni-Leitung und der Ausländerbeauftragte farbige Studenten mit Handies und Notrufnummern ausstatten, damit sie schnell Hilfe rufen können, wenn sie von rechten Jugendlichen angegriffen würden. Sie hatten aber auch beschrieben, dass sich das Klima in den Grenzstädten Frankfurt und Slubice in den letzten Jahren eindeutig verbessert hat, weil sich Studenteninitiativen und zahlreiche Einwohner beider Grenzstädte gegen die Fremdenfeindlichkeit zur Wehr setzen und mit verschiedensten Aktionen für eine offenere Atmosphäre sorgen wollen.
Doch dann war in der Stern-Hochschulausgabe im April 2001 unter dem Titel "Eine Uni gegen den Rest der Stadt" doch nur wieder eine von diesen Reportagen erschienen, in denen die Klischees bedient werden von der grauen, aus Plattenbauten bestehenden Stadt, wo sich ausländische Studierende nach der Vorlesung nicht mehr auf die Straße trauen, und von der öden Atmosphäre, in der sich Studententräume in "bloß weg hier" erschöpfen. Selbst der tägliche Gang über die Grenzbrücke nach Slubice erscheint als Tortur für die Studenten, weil sie dort erst "vorbei an langen Schlangen deutscher Frauen müssen, die sich auf dem Polenmarkt mit billigem Gemüse eingedeckt haben". Weil sie es satt hatten, "als Ikonen für das Motto "Der Osten ist rechts" benutzt zu werden", schrieben Urszula und Kamil einen offenen Protestbrief an den Stern und andere überregionale Medien, in dem sie ihren geballten Frust über das in Jahren entstandene Zerrbild von der Grenzstadt und der Europa-Uni zum Ausdruck brachten.
Um nicht missverstanden zu werden: Der Alltag in der deutsch-polnischen Grenzregion ist durchaus von Spannungen und Konflikten gekennzeichnet. Vorurteile, Unkenntnis und das Desinteresse der Menschen aneinander verschwinden auf beiden Seiten viel weniger rasch, als man es 1989/90 gewünscht und gehofft hatte. Gleichzeitig wird von Außenstehenden oftmals so getan, als habe sich im letzten Jahrzehnt kaum etwas zum Besseren entwickelt und dies liege vor allem am beschränkten Horizont der Grenzbewohner selbst.
Hunderttausende passieren heute die Grenze
Doch so ist es nicht. Tatsächlich lässt sich das Verhältnis zwischen den beiden Hälften der Grenzregion mit dem Bild von der "schleichenden Annäherung" beschreiben. Noch vor einem Dutzend Jahren war die Grenze an Oder und Neiße vor allem für den ostdeutschen Normalbürger fast genauso undurchlässig wie die Mauer in Berlin und die Grenze zwischen beiden deutschen Staaten. Heute passieren täglich Hunderttausende Menschen und Fahrzeuge die Brücken über die beiden Grenzflüsse. Sie alle haben eine Motivation dafür. Bei den meisten Privatpersonen sind es die günstigeren Preise für Waren oder Dienstleistungen im jeweiligen Nachbarland. Bei einigen, insgesamt sicher die Minderheit, sind es die Neugier und das Interesse am Fremden oder private Kontakte. Bei den Lkw-Fahrern ist es die Abwicklung des stetig steigenden Güterverkehrs. Und bei Schmugglern, Zuhältern, kleinen und großen Dieben, aber auch kleinen und großen Schwarzarbeitern ist es natürlich die Ausnutzung des Wohlstandsgefälles, in vielen Fällen aber auch die soziale Not, die sie zur Verletzung der Gesetze treibt. Von den Zuständen an Deutschlands Nord-, Süd- oder Westgrenzen, wo auf beiden Seiten etwa das gleiche Preis- und Lebensniveau besteht und deshalb die Trennungslinien zwischen den Staaten ihre Härte längst verloren haben, ist man an Oder und Neiße aber noch weit entfernt.
Viel gut Gemeintes hat nicht funktioniert
Die eigentlich spannenden Fragen bestehen deshalb darin, wieviel Kraft die Menschen auf beiden Seiten dieser Grenze selbst aufbringen können, um diesen Zustand weiter zu verbessern und in welchem Maße staatliche oder europäische Mechanismen dabei von Nutzen oder aber kontraproduktiv sind. Nach zehn Jahren Erfahrung mit den innerdeutschen und innerpolnischen Ausgleichsinstrumenten und etwa siebenjähriger europäischer Förderpraxis lässt sich der Schluss ziehen, dass vieles von dem, was vielleicht gut gemeint war, nicht die gewünschten Effekte hat.
So sind Vorpommern, Ostbrandenburg und Ostsachsen in Deutschland wirtschaftliche Problemregionen, in denen trotz des anhaltenden Bevölkerungsschwunds die Arbeitslosigkeit in den meisten Orten bei 20 Prozent liegt. Andererseits haben auch die polnischen Grenzgebiete mit Ausnahme der Großstadt Stettin im Norden nicht jenen Aufschwung erlebt, der ihnen prophezeit worden war. Zwar konnte sich einige Jahre lang die Legende halten, dass es diesen Regionen allein aufgrund der Grenzmärkte besser gehe, auf denen die deutschen Käufer Mitte der neunziger Jahre jährlich mehrere Milliarden Mark ausgaben. Als die "Polenmärkte" ihre Attraktivität immer mehr verloren, zeigte sich jedoch rasch, dass dies nur ein kurzer Aufschwung war. In Warschau scheint diese Botschaft aber noch nicht angekommen zu sein. Mittlerweile liegt die unmittelbar an Brandenburg angrenzende Wojewodschaft Lubuskie (Lebuser Land) in der Arbeitslosenstatistik auf dem vorletzten Platz. Schlimmer ist die Lage nur noch in Nordostpolen, an der Grenze zur russischen Exklave Königsberg.
Der relativ geringe Wirtschaftsaustausch in der Grenzregion steht im krassen Gegensatz zu den insgesamt dynamischen deutsch-polnischen Wirtschaftskontakten. Der jeweilige Handelsaustausch von Nordrhein-Westfalen, Hessen und Baden-Württemberg mit Polen, übertrifft den brandenburgisch-polnischen oder sächsisch-polnischen Handel um ein Vielfaches. Für die zumeist winzigen Unternehmen, die nach 1990 auf beiden Seiten der Grenze entstanden, war der grenzüberschreitende Handel zumeist gar kein Thema, da sie ohnehin nur Nischen im jeweiligen Binnenmarkt bedienten. Stattdessen stellt für deutsche Tischler und Möbelverkäufer, Friseure oder Kfz-Werkstätten die polnische Konkurrenz in den gleichen Branchen bereits heute eine permanente Existenzgefahr dar, die sich durch die Öffnung der Grenzen für sämtliche Arbeiten und bewegliche Dienstleistungen nur noch weiter verschärfen wird.
Dennoch unternommene Versuche, Kooperationen aufzunehmen, wurden in vielen Fällen durch zögernde Banken behindert, die kleinen Firmen keine Kredite für das "Risikogeschäft" in Polen geben, oder durch gesetzliche Vorschriften erschwert. So ist es für ein deutsches Unternehmen nahezu unmöglich, einen fähigen und kenntnisreichen polnischen Mitarbeiter in Deutschland einzustellen, weil die deutschen Arbeitsämter - außer bei Erntehelfern - dafür keine Genehmigung erteilen.
Ganz im Gegenteil: Aufgrund der verkrusteten gesellschaftlichen Strukturen und Denkweisen in Deutschland sieht sich der deutsche Unternehmer sofort dem Vorwurf von Ämtern, Gewerkschaften und neidischen Nachbarn ausgesetzt, er versuche den Lohn der deutschen Mitarbeiter zu drücken. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass die Mehrheit der ostdeutschen Firmen ihren Mitarbeitern Löhne zahlt, die weit unter den Tarifen in den alten Bundesländern liegen. Dass andererseits von deutschen Großunternehmen aus der Baubranche hunderttausendfach Schwarzarbeiter aus Osteuropa eingesetzt werden, stört offensichtlich niemanden. Jedenfalls achten selbst die Bundesregierung, die Landesregierungen und -ämter nicht immer darauf, dass Firmen, die sich um öffentliche Aufträge bemühen, die Bautarife einhalten.
Die Jungen wollen nur noch weg
Staatliche bundesdeutsche oder europäische Kreditmittel für eine Investition in Polen in Anspruch zu nehmen, kommt für viele Unternehmer aus der Grenzregion ebenfalls kaum in Frage. Entweder fehlt es ihnen an den nötigen Kofinanzierungsmitteln, oder es gibt - gerade bei den europäischen Förderrichtlinien - Kredite erst ab einer Dimension, die für kleine Firmen einfach ein paar Nummern zu groß ist.
Da es an wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten sowohl in der Grenzregion selbst wie auch in der deutsch-polnischen Unternehmenskooperation mangelt, ergibt sich für jüngere Grenzbewohner kaum ein Reiz, hier weiter zu leben. Eine Umfrage unter den Abiturienten des Jahres 2001 in Frankfurt (Oder) ergab denn auch das gleiche Bild wie in den Jahren zuvor: Fast 90 Prozent wollen ihre Stadt erst einmal zum Studium verlassen, die Möglichkeit einer späteren Rückkehr schließt bereits jetzt fast jeder Zweite aus. Selbst denen, die in der Grenzregion bleiben wollen, ist klar, dass sie dafür über Jahrzehnte Einkommensverluste gegenüber ihren abwandernden Altersgefährten hinnehmen müssen.
Hinzu kommt, dass auch die Bildungspolitik in Brandenburg nur relativ geringe Anreize für die Beschäftigung mit dem Nachbarland Polen oder das Erlernen der polnischen Sprache schafft. Die Mittel dafür sind gering, örtliche Initiativen müssen sich immer wieder auf Kofinanzierungsmittel der EU oder von Stiftungen verlassen, die jedoch meist nur eine geringe Laufzeit haben. Dafür, dass Polnisch nach Englisch oder Französisch zur Drittsprache an den Brandenburger Gesamtschulen oder Gymnasien wird, ist bisher selbst im Bildungsministerium kaum eine Lobby erkennbar. Stattdessen zahlt das Brandenburger Landesarbeitsamt jungen Arbeitslosen Prämien, wenn sie sich nach einer Ausbildung oder einem Job in anderen Bundesländern umsehen. Da es an den Universitäten und Fachhochschulen des Landes viel weniger Studienplätze gibt als Abiturienten, ist die weitere Abwanderung programmiert.
Selbst die Europa-Universität, das Musterbeispiel deutsch-polnischer Kooperation, kämpft seit Jahren mit immer geringeren Haushaltsmitteln. Bereits jetzt steht fest, dass im Wintersemester 2001/2002 die Hälfte aller bisherigen Hilfskraftstellen für Studenten gestrichen werden muss. Als protestierende Studenten beim Treffen der Regierungschefs Gerhard Schröder und Jerzy Buzek anlässlich des zehnten Jahrestags des Deutsch-Polnischen Nachbarschaftsvertrags auf diese Entwicklung aufmerksam machten, verwies der Kanzler nur auf die Bildungshoheit der Länder.
Leider waren auch mit den europäischen Fördermillionen, welche die Grenzregionen seit 1994 erhielten, ziemliche Probleme verbunden. Da man den deutschen und den polnischen Teil der Region aus zwei völlig verschiedenen Programmen (Interreg II und PHARE) förderte, deren Mittel an das jeweilige Territorium gebunden waren, gab es mit wirklich grenzüberschreitenden Vorhaben immer wieder viel Verwaltungsaufwand. Beispielhaft ist die Einrichtung einer Kita für deutsche und polnische Kinder in Frankfurt. Die polnischen Kinder durften vom deutschen Programm nicht gefördert werden, weil sie Ausländer sind, und vom polnischen Programm nicht, weil sie in Deutschland in die Vorschule gehen sollten. Es spricht für den Einfallsreichtum des Kitapersonals (aber gegen die Bürokratie) dass die polnischen Kinder kurzerhand zu notwendigen Hilfspersonen erklärt wurden, die einzig dem Ziel dienten, den deutschen Kindern die polnische Sprache und europäisches Denken nahe zu bringen.
Gemischte Orchester von Stettin bis Zittau
Angesichts dieser Umstände ist es umso beachtlicher, dass es von der Ostsee bis ins Zittauer Gebirge heute zahlreiche gemischte Orchester und andere Kulturgruppen gibt, dass die Theater aus Schwedt und Stettin sowie aus Görlitz und Zgorzelec gemeinsame Aufführungen vorbereiten, dass sich Senioren aus Frankfurt (Oder) und Slubice zu Sportfesten treffen, dass Dutzende Schulen in Brandenburg Partnerschaften mit polnischen Schulen aufgebaut haben und dass 1.300 polnische Studenten ständig an der Frankfurter Europa-Uni studieren. Die an diesen und vielen anderen Projekten Beteiligten würden sich freuen, wenn ihr Bemühen von der Öffentlichkeit außerhalb der Grenzregion wohlwollender zur Kenntnis genommen würde als in den gängigen Reportagen nach dem Muster des Stern.Erst in allerjüngster Zeit, mit dem Näherrücken des polnischen EU-Beitritts, ist sowohl der deutschen Regierung wie auch der EU-Administration aufgefallen, dass die in den Grenzregionen immer noch anzutreffenden Vorurteile und Ängste der Bevölkerung ein Stolperstein bei der EU-Erweiterung sein könnten. Von der Bundesregierung wurde eilig eine Kampagne unter dem Titel "Nachbarn treffen - Europa gestalten" entwickelt, innerhalb derer man in einigen Grenzorten Bürgerfeste veranstaltet. Bundeskanzler Schröder hat angekündigt, die Grenzregion werde bei seiner diesjährigen Sommertour durch die neuen Bundesländer einen Schwerpunkt bilden.
Zentralismus und starre Mechanismen
EU-Erweiterungskommissar Verheugen wiederum kündigte bereits im Sommer 2000 ein Förderprogramm für die Regionen an der derzeitigen EU-Außengrenze an. Weil darin aber die Interessen von Südostfinnland bis Nordgriechenland unter einen Hut gebracht werden müssen, hat sich die Verwirklichung dieser Ankündigung als äußerst schwierig erwiesen. Bisher sind der Ankündigung keine konkreten Maßnahmen gefolgt. Nur die von Deutschland und Österreich geforderte siebenjährige Übergangsfrist, in der nach dem EU-Beitritt polnischen Arbeitnehmern der Zugang zum vereinten Arbeitsmarkt verwehrt werden soll, wurde von Brüssel aufgenommen. Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt der Grenzregion könnte diese Übergangsfrist für die deutsche Seite jedoch sogar kontraproduktiv sein. Auf polnischer Seite hat sie den Argwohn genährt, die EU wolle den Beitrittskandidaten eine Mitgliedschaft zweiter Klasse bieten.
So ergibt sich aus der Sicht vieler Akteure in der Grenzregion der Eindruck, dass zwar schon viel für ein besseres Verhältnis zu den Nachbarn unternommen worden ist. Das ist die eine Seite. Dass zahlreiche Bemühungen wegen starrer Mechanismen in Deutschland und der EU sowie aufgrund des polnischen Zentralismus bisher an Grenzen gestoßen sind, ist die andere.