Ist Deutschland noch europäisch?

Die Deutschen beschäftigen sich mit dem Stuttgarter Bahnhof, den Zuständen auf einem Segelschiff und der Frage, um wie viel das Arbeitslosengeld II erhöht werden sollte. Nur ihre Verantwortung für Europa bekümmert sie nicht allzu sehr. Das muss sich ändern

Eine Frage geistert durch europäische Gazetten: „Wie europäisch ist Deutschland noch?“ Von Portugal bis Estland, von Norwegen bis Italien fragen sich Journalisten und Diplomaten besorgt, ob Deutschland währungs-, außen-, oder energiepolitische Alleingänge vorbereitet, seine exklusive Freundschaft mit Russland weiter ausbaut, die übrigen europäischen Staaten beim Handel mit China gleich ganz abhängt – und von Europa sowie dem Euro schlicht die Nase voll hat. Nur dort, wo man Antworten auf die Frage erwarten könnte, findet diese Debatte nicht statt: in Deutschland selbst. Die Deutschen reflektieren nicht darüber, ob sie „noch“ europäisch sind, oder „weniger“ als früher. Stattdessen beschäftigen sie sich mit einem neuen Bahnhof in Stuttgart, mit den Zuständen auf einem Ausbildungsschiff der Bundeswehr oder mit der Erhöhung des Arbeitslosengeldes II um 5 Euro. Dass sie Verantwortung für Europa übernehmen müssten – davon sind sie hingegen nicht mehr überzeugt.

Deutschland ist weniger einfühlsam gegenüber seinen europäischen Partnern als die alte Bundesrepublik es war. Früher war es aus seiner europäischen Mittellage heraus stets gewohnt, seine Ohren „auf Lauschen“ zu stellen, um zu erfahren, was die Nachbarn über Deutschland denken. Zu Hans-Dietrich Genschers Zeiten hatte es eine Außenpolitik als everybody’s darling betrieben. Die Berliner Republik hat Rücksichtnahme auf Europa nicht mehr nötig. In der EU, so scheint es, hat Deutschland andere Saiten aufgezogen.

Die alte Bundesrepublik ist abgeschafft


Man könnte es auch anders formulieren: Die alte Bundesrepublik wurde seit 1989 peu à peu abgeschafft, aber man hat gleichsam den Nachruf vergessen. Mehr als 20 Jahre später ist längst ein neues Deutschland entstanden, das sich in vieler Hinsicht verändert hat: Deutschland ist erwachsen, selbstbewusster geworden. Lange begrüßte und feierte das europäische Ausland diese „neue deutsche Normalität“. Inzwischen irritiert, ja beunruhigt diese Entwicklung die anderen Europäer. Es scheint, als ob der vertraute europapolitische Partner ohne Ansage weggebrochen wäre. Ein Partner, der gemeinsam mit Frankreich stets subtil die europäische Führung übernahm, ein fürsorgliches Auge auf die kleinen Länder warf und das gesamteuropäische Interesse im Blick hatte.

Dass Deutschland keine Europapolitik im Stile der alten Bundesrepublik mehr betreibt, hat in Europa ein fühlbares Machtvakuum geschaffen. Nie war dies so sichtbar wie während der Griechenland-Krise im vergangenen Jahr, als Deutschland zur Euro-Rettung quasi geprügelt werden musste. Am Ende tat es das Richtige, aber für viele zu spät und nicht beherzt genug. Genau deshalb konnte die Bundesregierung auf europäischer Ebene kein politisches Kapital aus ihrem Handeln schlagen – und überwarf sich zusätzlich mit den politischen Eliten und der Bevölkerung im eigenen Land: Laut einer Allensbach-Umfrage aus dem Januar 2011 halten 37 Prozent der Deutschen den im vergangenen Mai beschlossenen Rettungsschirm für falsch; 28 Prozent sind unentschieden; nur 35 Prozent finden ihn richtig.

Diese Gemengelage begrenzt den europapolitischen Spielraum der Bundesregierung mit Blick auf Europa und den Euro. Und das könnte gefährlich werden. Denn wie soll man große notwendige Integrationssprünge wie die Schaffung einer europä-ischen Wirtschaftsregierung vorbereiten, um den Euro institutionell zu konsolidieren, wenn die europapolitische Stimmung im eigenen Land im Keller ist? Nach der Allensbach-Umfrage wünschen sich derzeit 43 Prozent der Deutschen ein langsameres europäisches Integrationstempo – aber nur noch 12 Prozent schnellere Fortschritte. Und das, obwohl in wenigen Monaten möglicherweise institutionelle Quantensprünge erforderlich werden, die die Natur der EU und des Euro substanziell verändern könnten, beispielsweise die Einführung von Eurobonds oder die Umstrukturierung der griechischen Schulden. Für ein derart beherztes politisches Vorgehen fehlt der Berliner Republik jegliches Narrativ. Deutschland unterliegt der Versuchung von europapolitischer Abnabelung und von Alleingängen – und übersieht dabei den fatalen politischen Flurschaden für ein Land, das sich stets aus seiner europäischen Mittellage heraus definierte (und unter ihr litt). Das moderne Europa war die erste dauerhafte, friedliche und für die deutsche Wirtschaft überaus positive Antwort, mit der die „unruhige Nation“ ihre zentrale Lage in Europa gleichsam zum eigenen Vorteil gewendet hat. Es scheint, als habe Deutschland heute sein Herzblut und seinen Bezug zu Europa irgendwie verloren, übrigens eher emotional als de facto. Aber man macht eben nur mit Emotionen gute Politik.

Vom Nutzen Europas wissen die Deutschen wenig

Während sich das europäische Ausland also fragt, warum Deutschland den Euro nicht rettet, von dem es doch so sehr profitiert, fragen sich die deutschen Bürger, warum sie so viel für Europa bezahlen müssen: für den EU-Haushalt, für die Griechen, für die Iren. Diese Schieflage geht darauf zurück, dass über Jahre versäumt wurde, die Vorteile des Binnenmarkts und des Euro sichtbar zu machen und zu betonen. So wurde nicht erklärt, dass durch die Osterweiterung zusätzliche Arbeitsplätze entstanden sind und Deutschland nicht mit polnischen Handwerkern geflutet wurde. Auch wurde kein Zusammenhang hergestellt zwischen dem jüngsten Exportwunder Deutschlands und dem Binnenmarkt. Und es wurde nicht deutlich gemacht, was es für Deutschland bedeuten würde, wenn die südlichen EU-Länder aus dem Euro ausschieden und ihre Währungen wieder abwerteten.

Aus diesen Gründen empfinden sich die meisten Deutschen nicht als Nutznießer des Euro. Im Gegenteil: Besonders mit Blick auf Griechenland fühlen sich die meisten Deutschen – zu Recht – schlicht betrogen. Für andere Länder einstehen? Das ist nicht die Währungsunion, für die sie einst unterschrieben haben. Zwar ist bisher noch kein Euro nach Griechenland geflossen. Außerdem liegt begrenzte Solidarität mit der europäischen Peripherie durchaus im ökonomischen Interesse Deutschlands. Doch die vielschichtige ökonomische Vernetzung zwischen Eigen- und Gesamtinteresse darzustellen, ist zu komplex für die Politik, die daher zunehmend vor der vox populi einknickt: Rund 63 Prozent der Deutschen haben heute weniger oder kein Vertrauen mehr in die EU (vor wenigen Monaten waren es
51 Prozent). Und nur noch 41 Prozent der Deutschen finden, dass „Europa unsere Zukunft ist“ (im April 2010 betrug diese Zahl 53 Prozent). Was Deutschland in dieser aktuellen Situation am meisten fehlt, ist europapolitische Meinungsführerschaft.

Während in Deutschland der europapolitische Konsens zerfranst, steigt in Europa umgekehrt die Erwartungshaltung an Deutschland. Und so könnte es sein, dass die Regierung auf dem EU-Gipfel im März 2011 couragiertes europapolitisches Handeln zeigen muss, auf das das eigene Land gar nicht vorbereitet ist – eine innenpolitische Zerreißprobe.

Like it or not: Europa wird deutscher

Dies alles heißt nicht, dass Deutschland Europa aufgibt, das wäre gar nicht möglich. Es bedeutet nur, dass Europa schwieriger wird, und dass die anderen Partnerstaaten dafür Verständnis aufbringen müssen. „Europa zu jedem Preis“ – diese Zeiten sind vorbei. Deutschland bleibt europäisch, aber es wird ein deutsches Preisschild geben. Europa wird deutscher. Die Freundschaft ist nicht verloren, aber über die Jahre ernüchtert. Die anderen Staaten müssen sozusagen den Steigbügel hinhalten, damit Deutschland wieder in die deutsche Führungsrolle steigen kann.

Im Klartext: Deutschland wird sich sein Einstehen für die Schulden anderer EU-Mitgliedsstaaten – sei es mittels einer Erhöhung des Rettungsschirms oder der Einführung von Eurobonds – abkaufen lassen. Derzeit schnüren die Staats- und Regierungschefs für den März-Gipfel des Europäischen Rates ein großes Paket. Die europäischen Partnerstaaten müssen sich auf vermehrte Anstrengungen zur Haushaltkonsolidierung (am besten auf die Einführung einer „Schuldenbremse“) verpflichten; zugleich möchte Deutschland verschiedene Maßnahmen zur wirtschaftspolitischen Koordinierung durchsetzen, um die Wettbewerbsfähigkeit vor allem in den südlichen EU-Staaten zu erhöhen. Dazu gehören Einschnitte bei den Löhnen ebenso wie beim Rentenalter oder die Harmonisierung der Körperschaftssteuer.

Für einige EU-Staaten könnte dieses Vorhaben schmerzhaft werden. Und dennoch ist es der richtige Weg, für Deutschland wie für ganz Europa. Das Motto wird lauten „Solidarität gegen Solidität“. Deutschland wird geltend machen, dass es selbst erfolgreich eine Politik der Lohnzurückhaltung und Budgetkonsolidierung betrieben hat – und dies auch von den Partnerstaaten verlangen. Sollte ein solcher grand deal in Brüssel gelingen, wäre er tatsächlich ein Quantensprung für den Euro und damit für Europa. Endlich würden die richtigen Fragen auf den Tisch kommen: Wie viel Solidarität? Wie viel Sozialausgleich in Europa? Welche wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele für die EU? Europa steht der Schritt bevor, von einer Siedlung mit freistehenden Häusern in eine Hauseigentümergemeinschaft zu wechseln. Dies muss politisch, rechtlich und ökonomisch organisiert werden, und daran sollte jetzt ganz Europa mitwirken. Denn ein konsolidierter „Euro II“ wäre für alle Mitgliedsländer von Vorteil.

Indes kommt ein solcher neuer Euro nicht durch die Hintertür, sondern braucht ein Narrativ. Darin besteht jetzt die pädagogische Großherausforderung für die Berliner Republik. Deutschland muss Europa wieder wollen. Und die anderen Staaten müssen, im eigenen Interesse, ein bisschen mehr wollen, was Deutschland ökonomisch will.

Aber der Euro ist nur ein Beispiel, wie das institutionelle System der EU reformiert und fit für das 21. Jahrhundert gemacht werden muss. Nur so kann Europa in der internationalen Staatenwelt ein überzeugender, mächtiger und verantwortungsvoller Akteur sein, der die Interessen der europäischen Bürger angemessen sichert. Weitere Herausforderungen sind etwa der Aufbau eines schlagkräftigen Europäischen Auswärtigen Dienstes oder einer wirklich integrierten europäischen Energiepolitik. Auch dafür muss dringend eine Geschichte formuliert werden, die für alle Bürger eingänglich und verständlich ist. Auch hier täte die Berliner Republik gut daran, wesentliche Teile des Skriptes zu liefern. Dann könnten die vergangenen Monate deutscher Europapolitik vielleicht in Analogie zur Gretchenfrage beantwortet werden, die da lautet: „Wie hast du‘s mit Europa?“ Faust ziert sich bekanntlich – vor allem in der minimalistischen Thalheimer Inszenierung der neuen Berliner Republik, in der Gretchen ihren Faust völlig verzweifelt ganze acht Mal fragen muss. «

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