Ist die Zukunft schon vorüber?
Von alt gewordenen Hoffnungsträgern, welche die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt haben, heißt es gelegentlich ironisch, sie hätten eine große Zukunft hinter sich. Geht es unserer heutigen Gesellschaft ebenso? Warum beschäftigen wir uns heute überhaupt mit der Zukunft? Für den Politiker ist dies eine müßige Frage, die Zukunft ist das Handlungsfeld, auf dem sich seine politischen Vorstellungen und Entscheidungen bewähren müssen. Anders für den Wissenschaftler, zumal für den Historiker, der es traditioneller Vorstellung nach doch eher mit der Vergangenheit zu tun hat. Aber die Vergangenheit ist auf vielfache Weise in die Erforschung der Zukunft hinein gewoben, nicht nur der heutigen Zukunft, sondern auch der Zukunft vergangener Gesellschaften: In der Vergangenheit liegt die empirische Basis aller Prognosen, dort lässt sich auch das gesellschaftliche Interesse an der Zukunft verfolgen.
Die historische Zukunftsforschung erlebt gegenwärtig einen auffallenden Boom. Mehreres kommt dabei zusammen: Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich die sozialgeschichtliche Forschung zunehmend den Mentalitäten der Menschen zugewandt und so auch zu fragen begonnen, wie frühere Gesellschaften sich eigentlich die Zukunft, ihre eigene Zukunft vorgestellt haben. Daraus ließen sich wertvolle Erkenntnisse über die Handlungsmotive und Stimmungslagen vergangener Gesellschaft gerade in politischen Konstellationen gewinnen, die wie der Erste und Zweite Weltkrieg in menschliche Katastrophen und historische Sackgassen geführt haben. Um solche Fragen zu stellen, war es allerdings notwendig, sich von der alten Vorstellung zu lösen, dass die vergangene Zukunft eo ipso mit unserer Gegenwart zusammenfällt. Darin liegt ein Schock, den die meisten Menschen bis heute noch nicht verwunden haben: Die Vergangenheit lief nicht automatisch auf unsere Gegenwart zu; wir sind nicht diejenigen, die unsere Vorfahren erwartet haben, oder wie immer man diese Erkenntnis heute formulieren will.
Wichtiger noch aber ist ein anderer Umstand: Wir befinden uns heute in einer Krise des modernen Zukunftsdiskurses, ja sogar in einem kaum lösbaren Dilemma. Die Krise liegt darin, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr der langfristigen Zukunftsentwürfe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erodiert und verworfen worden sind – zunächst die faschistischen, dann die kommunistischen Utopien einer vollkommenen Gesellschaft. Und selbst die siegreiche liberalistische Gesellschaftsutopie musste sich von vielen ihrer ehemaligen Fortschrittshoffnungen verabschieden: Ökologische Kreislauf- und Gleichgewichtsmodelle sind an die Stelle steiler Fortschrittsentwürfe getreten, Bevölkerungsexplosion, Umweltschäden und Energieverknappung zwingen uns zum sparsamen und reflektierten Umgang mit den Ressourcen. Die Gefahr, dass jede Neuerung mehrfach neue Probleme aufwirft, wo sie eines löst, untergräbt in der Medizin wie in der Lebensmittelproduktion den Optimismus, dass der technische Fortschritt auf Dauer zum Wohl der Menschen ausschlägt.
Hinzu kommt, dass moderne Gesellschaften in steigendem Maß dazu zu neigen scheinen, die Zukunft mit Problemen zu belasten, die sie in der Gegenwart nicht lösen können. Ein weithin sichtbares Beispiel ist die Endlagerung des atomaren Mülls, ein weniger bewusstes der Zwang zu immer höheren Zuwächsen des Bruttoinlandsprodukts, um die gesellschaftlich notwendigen Versorgungsleistungen zu finanzieren. Hier liegt ein Dilemma, das sich kaum lösen lässt: Auf der einen Seite besteht ein unstillbarer Bedarf an immer neuen Zukunftsentwürfen, auf der anderen Seite sind wir immer noch mit der Abarbeitung von Folgelasten beschäftigt, die aus älteren Zukunftsprojekten resultieren.
Wenn alles schon festgelegt ist
Die Zukunft ist dadurch selbst zur knappen Ressource geworden: Wenn nämlich alles schon festgelegt ist, wenn wir bei Strafe unseres Untergangs nur noch vollziehen dürfen, worauf uns unsere Vorfahren längst festgelegt haben, dann verliert die Zukunft ihre Offenheit. Die schwedische Soziologin Alva Myrdal sprach in diesem Sinne schon in den siebziger Jahren von der „Kolonisierung“ der Zukunft, in Erinnerung an die Endlichkeit der Erde, deren Kolonisierung ebenfalls im 20. Jahrhundert an ihre Grenzen gekommen ist.
Nun kann man sich fragen, ob all die Zukunftsprognosen und -programme, die unseren gegenwärtigen Alltag beherrschen, tatsächlich so zwingend sind, wie sie zunächst daherkommen. Zwei Faktoren könnten den Zukunftsraum doch offener gestalten: zum einen die Flexibilität der Menschen, zum andern die theoretische Begrenztheit aller empirisch gestützten Zukunftsaussagen. Beispiele für das erste finden sich in der Vergangenheit zuhauf: Um 1840 befürchteten viele zeitgenössische Beobachter, durchaus auch aufgrund wissenschaftlicher Experimente, dass Eisenbahnreisende Geschwindigkeiten über 60 Stundenkilometer nicht aushalten würden. Die Realität hatte sie bald überholt und widerlegt. Und auch die Bevölkerungsdichte in weiten Teilen Westeuropas, die Wissenschaftler um 1900 für unerträglich hielten und sie daher für eine massive Kolonialpolitik eintreten ließ, ist heute in vielen Metropolen der Welt um ein Vielfaches übertroffen, ohne dass die befürchteten Katastrophen eingetreten sind.
Ein Schwachpunkt aller Zukunftsprognosen liegt in der notwendigen Annahme gewisser gleichbleibender Parameter und in der schwer vorhersehbaren Kombination zukünftiger Ereignisse mit anderen, für uns heute kontingenten Umständen. So mag es für viele Israelis nur eine Frage der Zeit sein, bis die palästinensische Bevölkerung in Israel die Mehrheit stellt und so eine ernste Gefahr für den jüdischen Staat wird. Doch lässt sich schwer abschätzen, ob sich nicht im Zusammenleben beider Bevölkerungsgruppen ganz neue, heute noch nicht absehbare Konstellationen ergeben. Oft sind es nur die Begriffe, mit denen ein Sachverhalt beschrieben wird, oft ist es auch nur die Betonung bestimmter Faktoren gegenüber anderen, welche die Gesamtsituation total verändert. Doch all dies ändert nichts an dem Umstand, dass sich das Konzept der Zukunft – und nicht nur die konkreten Vorstellungen, die sich Menschen von ihr machen – gegenwärtig massiv wandelt. Dazu ist es hilfreich, einen Blick zurück in die fernere Vergangenheit zu werfen.
Eine Zukunft hatten, so will es uns heute scheinen, schon immer alle Gesellschaften vor sich, ebenso wie sie eine Vergangenheit hinter sich hatten. Doch dies ist, wie man bei näherer Beschäftigung mit vergangenen Gesellschaften erkennen kann, keineswegs der Fall. Ein erstes Indiz hierfür liefern schon die Sprachen: Die Juden kannten in der Antike überhaupt keine futurische Verbform. Angesichts der andauernden Bedrohung durch stärkere Nachbarvölker in Ägypten, Syrien und dem Irak sorgten sie sich zwar permanent um ihr Überleben, aber die neue Welt, die sie ersehnten, war nur ein Gegenbild ihrer gegenwärtigen Welt. Keine zeitliche Entwicklung führte dorthin. Ähnlich verhielt es sich bei den Griechen und Römern: Sie kannten zwar in ihren Sprachen ein Futur, aber die zukünftige Welt war ihnen gleichwohl nichts anderes als die vergangene. Alles schien sich zu wiederholen, wie Aussaat und Ernte so auch die Abfolge der Generationen und Reiche, der Kriege und Hungersnöte. Von einer Zukunft im heutigen Sinne konnte damals noch keine Rede sein, deshalb gab es den Begriff noch gar nicht. Auch das Deutsche kannte ursprünglich kein Futur und damit keine genuine Form, über die Zukunft zu sprechen. Unsere heutige Form des Futurs ist eine späte Hilfskonstruktion des ausgehenden Mittelalters, Adverbien wie „einst“ beziehen sich noch heute ebenso auf die Vergangenheit wie auf die Zukunft.
Einst schien das Kommende immer schon bekannt
Die mittelalterliche Gesellschaft war dem Neuen nicht gewogen. Neuerungen wie die Erfindung der Pendeluhr, des Papiers, der Brille oder der Sense (alle etwa um 1300), die faktisch die Gesellschaft revolutionierten, nahm von den Zeitgenossen kaum jemand wahr; und wenn, dann galten sie ihnen eher als bedrohlich denn als hoffnungsvoll. Das blieb so bis ins 17. Jahrhundert. Was kommen würde, schien den Menschen bis dahin im Prinzip immer schon bekannt zu sein, langfristige Veränderungsprozesse waren ihnen nicht geläufig.
Zukunft und Vergangenheit bildeten damals auch noch nicht wie heute Zeiträume, in denen alles Mögliche passieren kann. Was es gab, waren lediglich zeitlich und geografisch begrenzte Ereignisreihen. Die Zeiträume, in denen sie sich abspielten, besaßen jeweils ihre eigenen Kalender und reichten über die Gegenwart kaum hinaus. Dachte man an die Zukunft, so immer nur an die „Zukunft“ (adventum), das heißt die Wiederkehr Christi am Ende der Zeiten und an die damit zusammenhängenden Weissagungen der Bibel vom kommenden Weltgericht und dem dann anbrechenden Reich Gottes. Doch das waren Ereignisse, die sich auf keinem Kalender einzeichnen und auf keiner Landkarte lokalisieren ließen.
Es ist nützlich, sich die Andersartigkeit der Zeitvorstellungen vor der Moderne klarzumachen, um die Relativität und historische Begrenztheit des modernen, seit dem 17. Jahrhundert eingeführten Weltbilds zu verstehen. Das gilt schon für die Gewohnheit, sich die Zukunft einzig im Singular vorzustellen, nicht auch im Plural. Das zwingt zur Vereinheitlichung alles dessen, was kommen wird, in einem einzigen Zukunftsraum. Die Schriften Newtons und Kants stehen heute für die Zeit- und Raumvorstellungen der Moderne, sie hatten sich allerdings damals schon seit Jahrhunderten angebahnt. Newtons und Kants Begriffe von Raum und Zeit gingen davon aus, dass es sich um absolute, unendliche und homogene Dimensionen der Welt handele, in denen jedes wirkliche Ding seinen ihm eigenen Ort hat. Die italienische Malerei hatte ihnen mit ihren zentralperspektivischen Aufrissen vorgearbeitet. Deren Grundprinzip lag darin, dass sie zuerst den Raum entwarfen – durch eine Grund- und eine Horizontlinie, zwischen denen senkrechte Raumlinien die scheinbare Verkürzung der Darstellung von Gegenständen mit wachsender Entfernung vorzeichneten. Das Revolutionäre dieses zeichnerischen Raumentwurfs lag jedoch vor allem darin, dass man einen Nullpunkt definierte, von dem aus der Betrachter die Welt betrachtete. Die Null hatte es in der mittelalterlichen Mathematik Westeuropas nicht gegeben. Sie galt der christlichen Theologie als Negation Gottes, mithin als Frevel. Sie musste im Hochmittelalter erst über Spanien aus dem arabischen Kulturraum eingeführt werden, doch dann revolutionierte sie die gesamte Wirklichkeitserfassung der Wissenschaften. Bisher hatte man alle Zahlenreihen mit der 1 begonnen, und diese 1 war immer konkret: ein Apfel oder eine Meile oder ein Regierungsjahr. Die Null dagegen bezog sich auf nichts und damit zugleich auf alles.
Die neue Rechnung mit der Null
Wie im Raum, so bewährte sich die Rechnung mit der Null auch in der Zeit: Alle Zeitrechnungen, ob von der Schöpfung der Welt, von Christi Geburt oder vom Regierungsjahr eines Königs aus, hatten im christlichen Europa bislang mit dem Jahr 1 begonnen. Die daran sich anfügende Zahlenreihe bezog sich qualitativ immer auf diesen, stets verschiedenen, Anfang. Seitdem man im 18. Jahrhundert in Europa die Zeitrechnung nicht mehr mit der Weltschöpfung beziehungsweise Christi Geburt im Jahre 1, sondern mit dem Zeitpunkt 0 beginnen ließ, war sie offen für alle Zeitreihen, sie wurde zur Weltzeit. Diese Weltzeit reichte auch nicht mehr nur bis zur Weltschöpfung zurück und bis zum Weltgericht voraus, die man im Mittelalter gewöhnlich auf die Zeit um 4000 oder 5000 vor beziehungsweise 1000 oder 2000 nach unserer Zeitrechnung angesetzt hatte. Sondern sie reichte ebenso unendlich in die Vergangenheit wie in die Zukunft hinein. Die Unendlichkeit von Raum und Zeit sind also wissenschaftliche Annahmen, die der Erschließung der Welt in einer Zeit dienten, die sich erst am Beginn dieser Erschließung sah.
Neben dieser Unendlichkeitsannahme gab es aber im 18. Jahrhundert noch eine weitere theoretische Annahme, die die Erforschung der Welt in der Moderne lenkte: die Annahme eines durchgehenden systematischen Zusammenhangs allen Lebens. Was das bedeutete, lässt sich an zwei Beispielen erläutern. Das eine Beispiel ist die noch heute benutzte Taxonomie des schwedischen Naturforschers Carl von Linné, die alle Tiere und Pflanzen durch Identifizierung bestimmter Merkmale in ein System der Natur brachte. Das andere ist die moderne Geschichtswissenschaft: Sie geht davon aus, dass alles, was von Menschen getan und erlitten worden ist, über alle Zeiten und Erdteile hinweg potenziell miteinander zusammenhängt. Mögen Ereignisse der Vergangenheit daher auch durch unüberwindliche Kontinente voneinander getrennt gewesen sein, so bringt sie der rückwärts gerichtete Blick des Historikers doch schon dadurch in einen Zusammenhang, dass er sie innerhalb desselben Kalenders verortet. Die Annahme vom durchgehenden Zusammenhang allen Lebens begründet die bis heute lebendige Vorstellung von der Einheit der Wirklichkeit.
Die Konjunkturen der Zukunftseuphorie
Und damit sind wir wieder bei der eingangs aufgeworfenen Problematik der Zukunft. Denn wer eine gemeinsame Vergangenheit hat, der hat vermutlich auch eine gemeinsame Zukunft. Lange Zeit galt die Einheit der Menschheit als eine Zielprojektion, die sich im Laufe der Geschichte zunehmend einlösen würde. Dafür sprach die zunehmende Ausbreitung und Verdichtung des Weltmarkts, die weltweite Vernetzung der Kommunikation, zeitweise auch die Einrichtung weltweiter Institutionen wie der Vereinten Nationen und natürlich die sichtbaren Fortschritte der weltweiten Wissenschaftsorganisation. Doch werden in den vergangenen Jahrzehnten die Stimmen lauter, die die Einheit der Welt in Frage stellen: In allen Wissenschaften, von Einsteins Physik über die Betriebssoziologie und die Biologie bis hin zur Kulturwissenschaft, haben systemische Zeit- und Raummodelle das Einheitsmodell des absoluten Raums und der absoluten Zeit abgelöst. In der globalen Wirtschaft haben die Ungleichzeitigkeiten von Wirtschaftsbeziehungen die Frage aufgeworfen, ob die Menschheit tatsächlich in einem und demselben Zeitraum lebt. Und stellen nicht auch Völkermorde die Vision einer einheitlichen Zukunft der Menschheit in Frage, weil manches Mitglied der Völkerfamilie, die die Menschheit bildet, dann gar keine Zukunft mehr hat?
Vielleicht bedürfen wir heute keiner solchen Vision wie einer gemeinsamen Zukunft mehr, vielleicht ist uns viel mehr damit gedient, die Räume und Zeiträume, in denen wir leben und unser Leben entwerfen, miteinander in eine friedliche Beziehung zu setzen. Die Zukunft entfaltete neben einem großen Hoffnungs- auch immer ein enormes Zerstörungspotenzial. Um einer besseren Zukunft willen wurden Städte und ganze Kulturen zerstört, Völker ausgerottet und aus ihrer Heimat vertrieben. Eine der wichtigsten Lehren, die in Europa aus den beiden Weltkriegen gezogen wurden, war eine nachhaltige Skepsis gegenüber allzu großen und langfristigen Utopien.
Doch andererseits benötigen auch alle guten Werte der Menschheit – Gerechtigkeit, Wohlstand, Friede – zu ihrer Verwirklichung Zeit. Zeit, die uns nur die Zukunft schenken kann. Verfolgt man die Geschichte vergangener Zukunftsentwürfe seit dem 18. Jahrhundert in Europa, so zeichnen sich immer wieder Konjunkturen aufschäumender Zukunftseuphorie ab, die nach ein bis zwei Generationen jeweils durch Phasen der Ernüchterung und der Zukunftsbedenken abgelöst wurden. In einer solchen Abschwungphase befinden wir uns auch gegenwärtig wieder. Sollten wir daher einer neuen Phase utopischer Zukunftsentwürfe entgegen gehen – dem bisherigen Konjunkturzyklus folgend müsste sie etwa um das Jahr 2020 einsetzen – so sollte man sich besser als bisher gegen die Gefahren wappnen, die alle Zukunftsentwürfe in sich bergen. «