Ist Europa reif für die Türkei?
Es ist schon seltsam. Da fällt der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs auf seinem gerade zu Ende gegangenen Gipfel einen Beschluss, den historisch zu nennen eine starke Untertreibung wäre. Die in Kopenhagen auf den Weg gebrachte Osterweiterung der Union stellt mit der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedern ja nicht nur sämtliche früheren Erweiterungsrunden in den Schatten; sie besiegelt auch die Überwindung der jahrzehntelangen Spaltung Europas und zieht damit einen endgültigen Schlussstrich unter die Nachkriegszeit. Erst jetzt, nachdem der größte Teil des Kontinents tatsächlich dazu gehört, beginnen die von Winston Churchill 1946 beschworenen "Vereinigten Staaten von Europa" Wirklichkeit zu werden.
Das hat auch für die innere Entwicklung der Gemeinschaft dramatische Konsequenzen. Parallel zu den Beitrittsverhandlungen ringt ein eigens dafür eingesetzter Konvent um die Ausarbeitung einer Verfassung, die das erweiterte Gebilde auf eine institutionell tragfähige Grundlage stellen soll. Dabei geht es zum einen um die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Mitgliedsstaaten, also die Frage, welche Ebene künftig für welchen Politikbereich in welcher Form zuständig sein soll; und zum anderen um die Schaffung eines Entscheidungssystems, das funktionellen und demokratischen Kriterien gleichermaßen genügt. Von den Ergebnissen des Konvents wird es maßgeblich abhängen, ob das große Experiment der Osterweiterung gelingt und eine Vertiefung des Integrationsprozesses auch in der vergrößerten Gemeinschaft möglich bleibt.
Angesichts der Tragweite beider Prozesse ist es verwunderlich, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit in den Mitgliedsstaaten im Vorfeld des Kopenhagener Gipfels auf ein Thema konzentriert hat, das aus der Sicht der jetzt anstehenden Probleme bestenfalls als ein Randthema klassifiziert werden kann: die Frage eines möglichen EU-Beitritts der Türkei. Das gilt insbesondere für die Bundesrepublik, wo dieses Thema verständlicherweise große Emotionen auslöst. Die 2,6 Millionen Türken stellen hierzulande die mit Abstand größte Zuwanderernationalität, und es gehört zu den bitteren Wahrheiten der deutschen Politik, dass deren gesellschaftliche Integration auch nach drei Generationen nicht wirklich gelungen ist, ja von vielen als Problem lange Zeit überhaupt nicht anerkannt wurde.
Unter den Parteien herrschte deshalb bis in die neunziger Jahre hinein ein stillschweigender Konsens, das Ausländerthema aus der politischen Auseinandersetzung herauszuhalten. Erst später, als sich die Bundesrepublik auch offiziell von der Lebenslüge verabschiedete, sie sei kein Einwanderungsland, und das ungelöste Problem mit Nachdruck auf die Tagesordnung drängte, wurde über Einwanderung und Integration zwischen den Parteien heftig gestritten. Dieser Streit ist nun anlässlich der Beitrittsfrage auf die supranationale Ebene projiziert und zu einem Gegenstand der innenpolitischen Europadiskussion gemacht worden.
Ohne Identität keine Integration
Auch um die Europapolitik wird in der Bundesrepublik mangels grundsätzlicher Differenzen öffentlich kaum gerungen, weshalb der Integrationsprozess die Bevölkerung eher kalt lässt und nur selten Widerspruch auslöst. Insofern ist die innenpolitische Debatte um den Türkei-Beitritt durchaus zu begrüßen. Mit ihr wird ja ein für die Zukunft der EU zentrales Problem aufgeworfen, nämlich die Frage der gemeinsamen europäischen Identität. Das Bewusstsein einer solchen Identität ist für das Gelingen des Integrationsprozesses unabdingbar. Je mehr Länder zur Gemeinschaft gehören, desto dringlicher stellt sich die Frage nach ihrem inneren Zusammenhalt. Die Debatte darüber, was diesen Zusammenhang ausmacht und wie er befördert werden kann, sollte allerdings nicht losgelöst von den empirischen Gegebenheiten geführt werden.
Im Falle der Türkei kommt sie zur Unzeit und gleicht überwiegend einer Schimärendiskussion. In einer Situation, da sich die Gemeinschaft eben erst für die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten rüstet, machen Vorabfestlegungen auf weitere künftige Mitglieder keinen Sinn. Dies gilt zumal für ein Land wie die Türkei, dessen geografische und kulturelle Zugehörigkeit zu Europa gewichtigen Zweifeln unterliegt. Was immer Kanzler Schröder bewogen hat, den türkischen Beitritt auf dem Kopenhagener Gipfel zu forcieren - Wohlgefallen gegenüber den Amerikanern oder der Selbstzweck einer gemeinsamen deutsch-französischen Initiative -, er könnte damit ein falsches Versprechen abgegeben haben.
Die Aufnahmefähigkeit der EU ist das Problem
So wie sie in den vergangenen Wochen und Monaten in den deutschen Feuilletons ausgetragen wurde, kreiste die Debatte um den EU-Beitritt der Türkei vor allem um das Problem der Integrationsfähigkeit des Landes. Die Frage nach der Aufnahmefähigkeit der EU geriet darüber weitgehend in den Hintergrund. Dies ist insofern schade, als gerade diese Perspektive eine realistischere Sicht auf das Problem eröffnen würde. Fragt man nach der Integrationsfähigkeit der Türkei, dann landet man bald bei ihrer kulturellen Identifizierung als islamisches, mithin nicht-christliches Land. Hieran - und nicht an der wirtschaftlich-sozialen oder demokratisch-rechtsstaatlichen Rückständigkeit - scheiden sich letztlich die Geister, wenn es um die Europatauglichkeit Ankaras geht. Die Rückstände werden von den meisten Kommentatoren als prinzipiell überwindbar betrachtet. Für die kulturelle Identität gilt hingegen, dass sie als unverrückbare Tatsache bestehen bleibt und in der Bewertung zu unterschiedlichen Schlüssen führt. Die einen sehen im muslimischen Charakter der Türkei einen unüberwindlichen Gegensatz zum europäischen Christentum, der die Herausbildung eines Zusammengehörigkeitsgefühls in der Union verhindern würde und so eine weitere Vertiefung des Integrationsprozesses unmöglich mache. Die anderen halten dagegen, dass unter dem Gesichtspunkt der gemeinsam geteilten Werte allein die Prinzipen der verfassungsstaatlichen Demokratie Relevanz beanspruchen könnten. Diese seien in der türkischen Republik durch die weltanschauliche Neutralität des Staates ebenso gewährleistet wie in den übrigen Mitgliedsstaaten. Die Türkei könne damit zugleich eine Vorbildfunktion für andere muslimische Länder erfüllen.
Jede Vorentscheidung wäre unklug
Das Problem dieser Sichtweise liegt darin, dass sie nur wenig Zwischentöne zulässt. Geht man vom Begriff eines gemeinsamen Wertefundamentes aus, dann gehört die Türkei entweder zu Europa oder sie gehört es nicht. Für den politischen Umgang mit dem Beitrittsansinnen ist eine solche Dichotomie nicht gerade förderlich. Setzt sich die Pro-Position durch, würde man Ankara ein Versprechen machen, dass sich am Ende womöglich nicht halten lässt. Geht es nach den Skeptikern, würde man die Tür für die Türkei jetzt zuschlagen und damit Gefahr laufen, dass das Land - in einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung - auf dem Weg zur Demokratie wieder zurückfällt. Da beide Seiten triftige Argumente ins Feld führen und in der öffentlichen Debatte zumindest hierzulande ein Sieger nicht erkennbar ist, wäre es unklug, schon heute einer Seite Recht zu geben und eine Vorentscheidung über den Beitritt auf dieser Grundlage zu fällen. Die europäische Politik müsste vielmehr alles daran setzen, die gegensätzlichen Positionen in einem ehrlichen Kompromiss zu überbrücken. Diese Chance ist in Kopenhagen leider verpasst worden.
Ein ehrlicher Umgang der EU mit dem Kandidaten hätte sich in erster Linie an der eigenen Aufnahme-fähigkeit zu orientieren. Dieser Aspekt ist schon bei der derzeitigen Beitrittsrunde sträflich vernachlässigt worden. Die europäischen Staats- und Regierungschefs hatten auf ihrem Nizzaer Gipfel vor zwei Jahren sogar geglaubt, die im Zuge der Osterweiterung notwendig werdenden institutionellen Strukturanpassungen der Gemeinschaft selber aushandeln zu können. Das Ergebnis war, wie man weiß, eine Blamage. Sie hat die Europapolitiker veranlasst, die Ausarbeitung eines Verfassungsvertrages einem Konvent zu übertragen. Auch dessen demnächst vorliegendes Ergebnis kann aber nicht mehr sein als ein Minimalkonsens, in dem die Interessen und Integrationsvorstellungen von bald 25 Mitgliedern Berücksichtigung finden müssen. Schon jetzt liegen zwischen den Positionen der integrationsfreundlichen und integrationsskeptischen Staaten Welten. So ist es kaum vorstellbar, wie ein gemeinsamer Verfassungsvertrag in der Lage sein könnte, einen dynamischen Fortgang des Einigungsprozesses zu ermöglichen.
Unwillige Staaten klinken sich aus
Die Frage nach der Priorität von Erweiterung oder Vertiefung der Integration hat eine lange Geschichte. Im Grunde beschäftigt sie die EU seit der ersten Beitrittsrunde 1973, als sich mit Großbritannien und Dänemark die heute führenden Euro-Skeptiker zur damaligen Sechser-Gemeinschaft hinzugesellten. Beide Ziele zu vereinbaren wäre in den achtziger und neunziger Jahren schwierig geworden, wenn die Union nicht als Antwort auf das Dilemma eine bis heute gültige Lösung gefunden hätte, nämlich das Prinzip der differenzierten Integration. So konnten sich einerseits unwillige Staaten aus der Verfolgung bestimmter Inte-grationsziele innerhalb des bestehenden Institutionen-systems ausklinken wie etwa bei der Währungsunion. Andererseits haben Gruppen von Staaten außerhalb des Systems neue Strukturen gebildet, um weitergehende Integrationsziele zu verfolgen. Bekanntestes Beispiel hierfür ist das Schengen-Abkommen.
Abschied vom Dogma der Einheitlichkeit
Beiden Varianten der Differenzierung ist gemeinsam, dass sie an einem einheitlichen institutionellen Rahmen der Gemeinschaft festhalten. Allein die vorhandenen Interessengegensätze werfen jedoch die Frage auf, ob die EU in Zukunft nicht ein sehr viel radikaleres Verständnis von differenzierter Integration benötigt, wenn weitere Fortschritte bei der Vertiefung erreicht werden sollen. Eine Gruppe von Staaten müsste danach auch bei der politischen Integration die Vorrei-terrolle übernehmen, indem sie sich eigene Institutionen zulegt, einen separaten Grundvertrag schließt und auf dieser Basis die materielle Zusammenarbeit verstärkt. Joseph Fischer hat die Idee eines solchen "Gravitationszentrums" in seiner Berliner Humboldt-Rede vor zwei Jahren ins Spiel gebracht. Ihre Tragweite wurde in der Diskussion freilich bis heute nicht erkannt.
Der Abschied vom Dogma der Einheitlichkeit wäre nicht nur um einer Vertiefung des Integrationsgeschehens willen wünschenswert; er würde auch den Umgang mit den beitrittswilligen Ländern erleichtern. Diese könnten dann zur Peripherie der Gemein-schaftsländer hinzustoßen, ohne die Zusammenarbeit der fortgeschritteneren Mitglieder im Zentrum zu beeinträchtigen. Ob und wann sie von der Peripherie einmal selbst ins Zentrum gelangen, muss der Geschichte überlassen bleiben. Es hängt sowohl vom erreichten Grad der Vertiefung als auch von der Anpassungsbe-reitschaft und -fähigkeit des Beitrittslandes ab. Im Falle der Türkei wäre es vermessen, darauf schon jetzt eine Antwort zu geben. Hält man an der Ergebnisoffenheit der europäischen Entwicklung fest, muss der Weg zur EU auch für ein Grenzland wie die Türkei prinzipiell möglich sein. Dieser Weg dürfte allerdings beschwerlicher werden und länger dauern, als es die Befürworter eines türkischen Beitritts heute wahrhaben wollen.